Hans-Peter Krüger: Homo absconditus
Rezensiert von Hannes Wendler, 01.09.2021
Hans-Peter Krüger: Homo Absconditus. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Vergleich. Walter de Gruyter (Berlin) 2019. 673 Seiten. ISBN 978-3-11-066142-2. D: 79,95 EUR, A: 79,95 EUR.
Thema
Wurzel und letzter Zweck der philosophischen Frage nach dem Menschen ist die Bestimmung seines Wesens. Im Verlauf der Geschichte wurden zahlreiche solcher Wesepnsbestimmungen vorgeschlagen. Seit der Antike sind verschiedene, klassische Wesensbestimmungen des Menschen geläufig, z.B. als animal rationale (das vernünftige Lebewesen) und als zoon politikon (das politische bzw. soziale Lebewesen). Einige jüngere Wesensbestimmungen des Menschen wurden sogar Teil des Alltagsverstandes, so z.B. die biologische Bestimmung des Menschen als homo sapiens (der Weise der Gattung „Homo“) oder die ökonomische Bestimmung als homo oeconomicus (der Wirtschaftsmensch). Aus dem weiten Feld der anthropologischen Wesensbestimmungen ragt nun eine heraus, nämlich diejenige die Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie vornahm und welche Hans-Peter Krüger in seinem gleichlautenden Buch aktualisiert: homo absconditus- der verborgene Mensch. Diese Wesensbestimmung reiht sich nicht einfach neben die bisherigen, sondern stellt sie vielmehr grundsätzlich in ihrer Geltung in Frage: „Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaft ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft“ (1956, S. 134). Die Wesensbestimmung des Menschen in Plessners Philosophischer Anthropologie drückt also aus, dass das Wesen des Menschen nicht abschließend zu bestimmen ist, sondern konstitutiv offen bzw. – was dasselbe meint – unergründlich ist. Folglich inhäriert Krügers Ansatz eine tiefe Skepsis gegenüber jedweder Verabsolutierung ideologischer Menschenbilder. Demgegenüber veranschlagt er das Unergründlichkeitsprinzip, nach welchem das Wesen des Menschen abschließend festzustellen immer auch bedeutet, dass man ihn der Möglichkeiten seines Anders-Sein-Könnens beraubt. Statt angesichts dieser Negativität der Figur des homo absconditus zu stagnieren, übt die Philosophische Anthropologie „schöpferischen Verzicht“ (Plessner, 1931) in der Wesensbestimmung des Menschen und entzündet sich so produktiv an der Verborgenheit des Menschen. Die Figur des homo absconditus ist zugleich diejenige, auf welche Krüger sich immer wieder berufen wird, wenn die verschiedenen anthropologischer Positionen im systematisch-historischen Vergleich Gefahr laufen, entweder freischwebende Begrifflichkeiten zu hypostasieren oder aber historische Tatsachen ohne ordnendes Moment nebeneinander zu reihen: Indem die Philosophische Anthropologie die Verborgenheit des Menschen zum Prinzip erhebt, gemahnt sie sich fortwährend zur Selbst- und Systemkritik.
Autor
Hans-Peter Krüger studierte in Berlin Philosophie. Dort promovierte er zur philosophischen Entwicklung des jungen Hegel und legte dort ebenfalls 1897 seine Habilitationsschrift „Kritik der kommunikativen Vernunft“ vor. 1996 wurde er ordentlicher Professor an der Universität Potsdam, wo er den Lehrstuhl für Politische Philosophie und Philosophische Anthropologie besetzte. Hans-Peter Krüger hat Gastprofessuren in Krakau, Wien, Minsk und Uppsala inne. Darüber hinaus war er von 2005 bis 2011 Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft, in der er seit 2011 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats ist. Von 2009–2011 ist er Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Lebensformen und Lebenswissen“ in Potsdam. Weiter ist er Mitherausgeber der Deutschen Zeitschrift für Philosophie sowie des Internationalen Jahrbuchs für philosophische Anthropologie. 2020 ist Hans-Peter Krüger in Pension gegangen.
Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Politische Philosophie und Sozialphilosophie, den Pragmatismus und die Philosophische Anthropologie. Krüger veröffentlichte bereits viele einflussreiche Publikationen. Dazuzählen unter anderem die zweibändige Monographie „Zwischen Lachen und Weinen“, die 1999 und 2001 im Akademie-Verlag erschien, sowie die Monographie „Gehirn, Verhalten und Zeit“, welche 2010 ebendort publiziert wurde. Darüber hinaus ist er z.B. zusammen mit Otfried Höffe ist er Herausgeber des „Klassiker Auslegen“ Bandes „Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch“, welcher 2017 im de Gruyter Verlag erschien sowie er gemeinsam mit Gesa Lindemann „Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert“ 2006 im Akademie-Verlag herausgab. Seine zahlreichen Zeitschriftenartikel umfassen etwa in der deutschen Zeitschrift für Philosophie aus 2021 „Der geistig kulturelle Umgang mit der Covid-19-Pandemie und ihrer Wirtschaftskrise als Testfall“ sowie einen im Journal of Speculative Philosophie aus 2010 zu „Persons and Bodies“.
Angesichts seiner Verdienste muss Hans-Peter Krüger als einer der zentralen Wegbereiter für das neuerliche Interesse an der Philosophischen Anthropologie und dem Denken Helmuth Plessners gelten.
Entstehungshintergrund
Das gesamte Buch ist frei verfügbar und kann bei de Gruyter abgerufen und heruntergeladen werden (https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110666373/html).
Das Buch ist aus verschiedenen, andernorts veröffentlichten Arbeiten von Hans-Peter Krüger zusammengetragen, die in überarbeiteter Form abgedruckt wurden. Ausnahmen der Überarbeitung sind das Kapitel 7, welches einen Originalbeitrag darstellt, sowie das 13 und 24 Kapitel, welche identisch zu den Originalfassungen abgedruckt wurden. Die Abfolge der Arbeiten sowie deren systematische Einordnung wird in den jeweiligen Vorworten thematisiert, die jedem der vier Hauptteile vorangestellt sind. Die entsprechenden Verweise zu den Erstveröffentlichungen der Beiträge sind unter „Nachweise“ am Buchende gelistet (S. 645–648).
„Homo Absconditus“ steht in direkter inhaltlicher Kontinuität zum Gesamtwerk von Hans-Peter Krüger, so ist die viergliedrige Struktur des Sammelbandes bereits in de
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert, die die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners zum einen darstellen und interpretieren und zum anderen systematisch auf die zentralen Konzepte, Themen und Werke sowohl im jeweiligen Entstehungskontext als auch in der zeitgenössischen Literatur beziehen. So ergibt sich über insgesamt 25 Kapitel ein Gesamteindruck von Plessners Schaffen und dessen Aktualität im Vergleich. Der erste und längste Teil entwickelt die vertikale Achse der Philosophischen Anthropologie als Naturphilosophie, wohingegen die eng zusammenhängenden zweiten und dritten Teile die statische und dynamische horizontale Achse als Sozial-, Kultur- und Geschichtsphilosophie erarbeiten. Der vierte und letzte Teil ist einigen ausgewählten Vergleichen zwischen der Philosophischen Anthropologie und anderen Philosophien gewidmet, wie z.B. derjenigen Kants oder Heideggers.
Inhalt:
Einführung: Lebenswissenschaft, Globalisierung und künftige Geschichtlichkeit. Zur Aktualität von Plessners Philosophischer Anthropologie im Vergleich
Teil I: Die naturphilosophische Fundierung der personalen Lebenssphäre
Vorwort zum ersten Teil
- Einführung in und Überblick über das naturphilosophische Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1.)
- Von den Grenzen des Lebendigen in der Naturphilosophie zu den Grenzen im Lachen und Weinen in der Kulturphilosophie (2.)
- Die anthropologischen Grundgesetze als Abschluss der Stufen des Organischen und der Mensch (3.)
- Ausblick aus den Stufen auf Plessners Gesamtwerk und die aktuelle Diskussionslage (4.)
- Das Projekt einer transdisziplinären Rahmenwissenschaft von der Personalität aus den 1920er Jahren und seine Neubegründung heute (5.)
- Plessners Freud-Kritiken. Zum Verhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und klassischer Psychoanalyse (6.)
- Differenzierungen zwischen geschlossener Umwelt und offener Welt: Zum Verhältnis zwischen der Philosophischen Anthropologie und Uexkülls neuer Biologie der Umwelten (7.)
- Philosophische Anthropologie als Rahmen für die heutige Hirn- und Verhaltensforschung: Zwischen Mitmachen, Nachmachen und Nachahmen (8.)
- Die selbstreferenzielle Funktionsweise des Gehirnes als Korrelat. Die hermeneutische Entdeckung und das kausal-explanatorische Missverständnis der neurobiologischen Hirnforschung (9.)
- Embodied, embedded, extended und enactiveKognition in der personalen Lebensführung. Zur Einordnung der Kognitionswissenschaften aus Sicht der Philosophischen Anthropologie (10.)
Teil II: Die sozial- und kulturphilosophische Fundierung personaler Lebensformen
- Vorwort zum zweiten Teil
- Die Individualisierung der Personalität im Medium von Rollen (11.)
- Die Personalisierung der Individualität im Medium von Rollen (12.)
- Liebe. Bewegt werden in der Erfüllung des Kategorischen Konjunktivs (13.)
- Menschliches Sterben (14.)
- Die Körper-Leib-Differenz von Personen: Exzentrische Positionalität und homo absconditus (15.)
Teil III: Die geschichtsphilosophische Fundierung der personalen Lebenssphäre
- Vorwort zum dritten Teil
- Die Unergründlichkeit des künftigen geschichtlichen Lebens als Erkenntnisprinzip und Erkenntnispraxis der Geisteswissenschaft (16.)
- Die säkulare Fraglichkeit des Menschen im globalen Hochkapitalismus – Zur Philosophie der Geschichte in Plessners Philosophischer Anthropologie (17.)
- Kritische Anthropologie? – Zum Verhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und Frankfurter Kritischer Theorie (18.)
- Die doppelte Kritik der Philosophischen Anthropologie und die Vieldeutigkeit des theoretischen Anti-Humanismus (19.)
Teil IV: Ausgewählte Vergleiche der Philosophischen Anthropologie mit anderen Philosophien
- Vorwort zum vierten Teil
- Moderne Forschungsverfahren und ihr Widerstreit im Zeichen der Würde: Helmuth Plessners erste Transformation der kantischen Kritik der Urteilskraft (1920) (20.)
- Von generöser Souveränität im europäischen Geist. Helmuth Plessners natur- und geschichtsphilosophische Kritik an Nietzsches Anthropo-Genealogie (21.)
- Existenz als exzentrische Lebensform? – Zum Vergleich der Philosophien von Karl Jaspers und Helmuth Plessner (22.)
- De-Zentrierungen und Ex-Zentrierungen. Die quasi-transzendentalen Unternehmungen von Heidegger und Plessner heute (23.)
- Wie wird die geistige Lebensform von Menschen in der Natur wirklich möglich? – Parallelen zwischen John Dewey und Helmuth Plessner (24.)
- Das Öffentliche. Die Konzeptionen von John Dewey und Helmuth Plessner im Vergleich (25.)
Inhaltsdiskussion
„Was ist der Mensch?“ Kaum eine Frage ist tiefer als die Frage nach dem Menschen. Gleichzeitig steht kaum eine Frage in einer vergleichbar komplexen und von subtilen Perspektivwechseln durchzogenen Tradition wie die Frage nach dem Menschen. Dies zeigt sich etwa darin, dass es bereits, um den Titel von Hans-Peter Krügers Buch zu verstehen, erforderlich ist, eine in der Forschung übliche begriffliche Unterscheidung zu einzuführen: Es gilt nämlich Philosophische Anthropologie (großes „P“) und philosophische Anthropologie (kleines „p“) voneinander zu trennen. Letzteres meint die philosophische Lehre vom Menschen im Allgemeinen, d.h. dass die philosophische Anthropologie als Subdisziplin der Philosophie aufzufassen ist, die bspw. neben die Kultur- oder Rechtsphilosophie zu reihen wäre. Ersterer Ausdruck wird dahingegen üblicherweise für den Denkansatz von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen reserviert, d.h., dass unter der Philosophischen Anthropologie ein Paradigma zu verstehen ist, das bspw. mit der Existenzphilosophie oder dem Pragmatismus einzureihen wäre (siehe Fischer, 2008). Wenn im Folgenden das anthropologische Denken thematisiert werden wird, so ist damit zuvorderst die Philosophische Anthropologie gemeint.
Um nun das Spezifische an der Philosophischen Anthropologie, wie sie Plessner entwarf und Krüger weiterentwickelte, zum Vorschein zu bringen, eignet es sich das Verhältnis der Philosophie auf der einen und den (empirischen) Spezialwissenschaften auf der anderen Seite zu betrachten. Seit der Neuzeit fördern die Spezialwissenschaften zunehmend Ergebnisse zu Tage, die für die Anthropologie relevant sind. Außerdem treten sie häufiger mit dem Anspruch auf, selbst eine Anthropologie zu sein. So liegt es nahe der Philosophischen Anthropologie die Aufgabe zuzurechnen, die spezialwissenschaftlichen Ergebnisse zu integrieren und zu synthetisieren. In der Tat erkennt auch Plessner eine derartige Vereinheitlichungsleistung als die Aufgabe der „anthropologischen Philosophie“ (S. 599) an, die ein Drittes neben philosophischer und Philosophischer Anthropologie darstellt, wobei sie aber bloß ein Teilgebiet der Letzteren ausmacht. Nach Krüger kann solch eine Vereinheitlichungsleistung jedoch nicht von einem Standpunkt außerhalb der spezialwissenschaftlichen Empirie geleistet werden, sodass die Einheit der Wissenschaften nicht metaphysisch gewährt werden kann: „Die Philosophische Anthropologie musste sich […] auf ein doppeltes Wagnis einlassen. Sie hatte einerseits aus den erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien herauszutreten und in den weltgeschichtlichen Lebensprozess von Menschen einzutreten“ (S. VI). Für Krüger gehört es zum Selbstverständnis der Philosophischen Anthropologie, die Begriffe der Spezialwissenschaften nicht ohne weiteres zu übernehmen, sondern vielmehr deren Voraussetzungen kritisch zu prüfen. So knüpft Plessner nicht einfach an die biologischen Begriffe im Diskurs seiner Zeit an, sondern reflektiert und modifiziert sie vor dem Hintergrund seiner Naturphilosophie. Diese philosophisch grundgelegten Begriffe stehen wiederum nicht jenseits der Geschichte, sondern sind selbst geschichtlich, d.h. sie sind nicht geschichtstranszendent, sondern geschichtsimmanent: Die Begriffe der Philosophischen Anthropologie thematisieren somit den „prozessuale[n] Zusammenhang zwischen dem Natur-, Sozial-, und Kulturwesen“ (S. VI) Mensch.
Krüger sieht nun ein zentrales Spezifikationsmerkmal der Philosophischen Anthropologie darin, dass diese die Dialektik, Phänomenologie und Hermeneutik – anstatt als gleichursprüngliche Paradigmen – als Methoden interpretiert und vermittels ihrer Anwendung auf den Gegenstand der Lebenserfahrung zu einem neuartigen Denkansatz weiterentwickelt. In Anlehnung an den Arbeitsplan, den Plessner für die Philosophische Anthropologie entwirft, kann dieser Ansatz auch als Hermeneutik des Lebens gefasst werden. Diese soll als neue Wissenschaft vom Menschen eine weitere Runde der wechselseitigen Kritik von Anthropologie und Philosophie einleiten. Dementsprechend formuliert Plessner eine ambitionierte Agenda für seinen Denkansatz: „Der Zweck heißt: Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte“ (Plessner, 1928, 30).
Dieses Unterfangen entfaltet sich anhand einer vertikalen und anhand einer horizontalen Achse. Der vertikalen Achse entspricht die Naturphilosophie der Philosophischen Anthropologie, die durch die Begriffe wie die des Lebens, Leibkörpers und der Positionalität entwickelt wird. Hierbei werden insbesondere verschiedene Organisations- und Positionalitätsformen unterschieden, die beschreiben wie verschiedene Lebensformen sich in ihrem Lebenskreis positionieren. Außerdem werden die Positionalitätsformen anhand eines Stufenschemas geordnet, von den subhumanen Lebensformen der Pflanzen und der Tiere hin zu der exzentrischen Lebensform des Menschen. Die Schlüsselwerke Plessners Denken auf der vertikalen Achse – von denen Krüger insbesondere handelt – umfassen neben seinem gemeinhin als Hauptwerk anerkannten Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ ebenso die Werke „Conditio Humana“ und „Die Einheit der Sinne“. Die horizontale Achse kann in eine statisch-horizontale und eine dynamisch-horizontale Achse untergliedert werden (S. 58). Der statisch-horizontalen Achse entspricht die Sozial- und Kulturphilosophie der Philosophischen Anthropologie, die die anthropologischen Konstitutions- und Ermöglichungsbedingungen von Gesellschaft und Gemeinschaft mitunter anhand der Verhältnisbestimmung von Person und Rolle eruiert. Der dynamisch-horizontalen Achse korrespondiert die Geschichtsphilosophie der Philosophischen Anthropologie, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Möglichkeiten und Grenzen innerhalb derer der Mensch sein Leben verstehen kann, historisch variabel sind. Dennoch gelingt es der Philosophischen Anthropologie anhand der Begriffe der Macht und der offenen Immanenz ersichtlich zu machen, dass und inwiefern der Begriff des Menschen, zwar historisch im Abendland hervorgebracht wurde, sich aber geltungsmäßig universalisiert. Die Schlüsselwerke Plessners Denken auf der horizontalen Achse – auf die Krüger besonders bedacht ist – umfassen über seiner von manchen Interpreten als zweites Hauptwerk gehandelten Untersuchung „Macht und menschliche Natur“ hinaus noch Schriften wie „Die Grenzen der Gemeinschaft“ und „Soziale Rolle und menschliche Natur“.
Da die beiden Achsen der Untersuchungsrichtung sich im Menschen kreuzen, verhalten diese sich keineswegs unabhängig zueinander, sondern sind vielmehr wechselseitig durch die je andere durchdrungen. An der Intersektion von vertikaler und horizontaler Achse kommt es zu einem Strukturbruch in der Lebensform des Menschen, sodass die Lebensaufgabe in seiner exzentrischen Positionalitätsform dadurch aufgefasst werden kann, als Vollzugseinheit die Bruchglieder zu vermitteln. Die allgemeinen Verwirklichungsrichtungen dieser Lebensaufgabe werden durch die anthropologischen Grundgesetze beschrieben (siehe unten). Schon begrifflich spiegeln die anthropologischen Grundgesetze – vermittelte Unmittelbarkeit, natürliche Künstlichkeit und utopischer Standort – das ‚quasi-dialektische‘ Verhältnis zwischen vertikaler und horizontaler Achse wider. So bestimmt und bedingt auf der einen Seite die menschliche Natur die Möglichkeiten und Grenzen seines Selbstverständnisses, wohingegen auf der anderen Seite der Mensch sein Leben nicht einfach lebt, sondern es im Lichte einer Vorstellung führen muss. Obgleich die menschliche Lebensform somit als Bruch in der Natur mit der Natur aufgefasst werden muss, ist der Chiasmus, der der Mensch ist, vertikal-horizontal verschränkt.
Krüger entfaltet seine Reflexion auf Plessners Philosophische Anthropologie entlang ebendieser vertikal-horizontalen Achsenunterscheidung, was schon anhand der Kapitelstruktur des Buches eingesehen werden kann. So ist der erste Teil des Buches der Naturphilosophie der Philosophischen Anthropologie gewidmet. Krüger schließt sich dabei Marjone Grene an, wenn er Plessners naturphilosophisches Vorgehen in seinem Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ dadurch auszeichnet, die zwei klassischen Gegensätze zwischen Mechanismus und Teleologie sowie zwischen Organismus und Umwelt durch seine spezifische Thematisierung des Lebens zu überwinden (S. 28–29). Vermöge seiner Positionalitätsanalyse gelinge es Plessner verschiedene Formen des Lebens i.S. von Vollzugsstrukturen zu unterscheiden, in deren Art und Weise zu leben mechanische und teleologische Zusammenhänge ineinandergreifen (S. 28). Vermöge seines Grenztheorems wiederum gelinge es Plessner das Leben i.S. eines anschaulichen Tatbestandes zu thematisieren, sodass er eine Alternative zu Organizismus und Milieu-Theorie dadurch aufweisen kann, eine minimale Wesensbestimmung des Lebensvollzugs im Grenzrealisieren vorzunehmen (S. 29): Organisches Sein endet nicht wie anorganisches Sein an einem Rand, sondern realisiert fortwährend seine eigene Grenze, wodurch das Lebewesen-Sein gerade an der Schwelle zwischen Umwelt und Organismus als die beide ineinander verschränkende Vollzugseinheit aufgefasst wird. Plessners Naturphilosophie ist demnach durch prozessontologische und aspektmonistische Züge zu charakterisieren. Nach Krügers Interpretation bettet sich diese Naturphilosophie in ein „quasi-transzendentales Philosophieverständnis“ ein (S. 34–35). Dieses Philosophieverständnis ist insoweit „transzendental“ als dass es die Aufgabe der Philosophie Kantianisch darin sieht, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zu bestimmen. Es ist jedoch i.d.S. „quasi“-transzendental, als es nicht mehr wie bei Kant am Modell der naturwissenschaftlichen Erfahrungsart orientiert ist, sondern sich auf die geschichtliche Lebenserfahrung richtet. Aus dieser geschichtlichen Ausrichtung entspringt zugleich das Differenzierungsmerkmal Plessners Philosophischer Anthropologie gegenüber den sogenannten anthropologischen Philosophien, denn anders als diese hält jene das Wesen des Menschen gegen „künftige geschichtliche Veränderungen“ offen (S. 55). Diese Geschichtsoffenheit drückt bereits einen ersten Sinn der Figur des homo absconditus aus.
Das Herzstück der Naturphilosophie der Philosophischen Anthropologie betrifft nun den Stufenbau des Organischen. Plessner entwickelt diese Stufen anhand seiner Positionalitätsanalyse. Nach Krüger ist für Plessner positionales, d.h. zunächst grenzrealisierendes Lebewesen-Sein als Teil des Lebensprozesses zu begreifen, weswegen positional zu leben prozessual-gerichtet zu sein bedeutet: Lebewesen-Sein ist gerichtetes Werden, d.h. Entwicklung (S. 39). Das Lebewesen ist i.d.S. im modus procedendi zu begreifen, in der Entwicklung ist das Lebewesen sich selbst also vorweg, indem sein Sein auf sein Sein-Können hingerichtet ist. Die Möglichkeiten seines Lebens sind im sich entwickelnden Lebewesen-Sein aktualpräsent, sodass es in einem Vorwegverhätlnis positioniert ist, in dem die Gegenwart in einem Abhängigkeitsverhältnis von der Zukunft steht (S. 40). Die Aktualpräsenz der Möglichkeiten der Lebensform gestattet es auch, lebendiges Sein von unlebendigen Sein dadurch zu unterscheiden, dass jenes aber nicht dieses einen Eigenraum und eine Eigenzeit konstituiert; einen Unterschied den Krüger mit Plessner begrifflich gegenüber der physikalischen Raum-Zeit als „Raum- und Zeithaftigkeit“ markiert (S. 37).
In der Positionalitätsanalyse positionieren sich die Lebewesen relativ zu ihrer Grenze nach außen, wohingegen sie sich relativ zu ihr nach innen organisieren (S. 39). Das Organismus-Umwelt-Verhältnis kann dabei entweder gleichsinnig oder gegensinnig aufgefasst werden. Der Organismus verhält sich als unselbstständiger Teil der Umwelt gleichsinnig zu ihr, wohingegen er sich als selbstständiger Teil gegensinnig zu ihr verhält (S. 43). Wenn nun dabei die Formen der Eingespieltheit von Organisationsform und Positionalitätsform die sogenannten Sphären des Lebens konstituieren (S. 44), dann drückt sich hierin eine Abwandlung des Harmoniegedankens einer kosmischen Ordnung aus. Es stellt das zentrale Desiderat der Positionalitätsanalyse dar, zu explizieren, welche Lebenssphären durch die verschiedenen Weisen, in denen lebendiges Sein sich positionieren kann, ermöglicht werden. Dies im Detail nachzuvollziehen ist hier nicht notwendig, kann aber andernorts nachgeschlagen werden (Plessner, 1928). Eine Übersicht über die Positionalitätsformen Plessners zu geben ist allerdings sachdienlich, denn nur durch die kontrastive Herleitung wird die Sphäre des Menschen in ihrer Eigengesetzlichkeit begreifbar (S. 40–52).
Der grundlegende Unterschied in der Art und Weise, wie Lebewesen ihre eigenen Grenzen realisieren, ist der zwischen der offenen und der geschlossenen Positionalitätsform. Offene Positionalitätsformen sind so organisiert, dass sie gegenüber den Reizen ihrer Umwelt relativ durchlässig, d.h. in ihrer Aktivität von den Reizen abhängig sind. Demgegenüber sind geschlossene Positionalitätsformen gegenüber den Umweltreizen relativ undurchlässig (bzw. semi-permeabel) und in ihrer Aktivität von denselben relativ unabhängig organisiert. Die Struktur der offenen Positionalität beschreibt die Lebensform der Pflanzen, die der geschlossenen Positionalität die Lebensform der Tiere. Die geschlossene Positionalitätsform kann in die dezentrale und zentrale Positionalitätsform zergliedert werden. Beiden ist gemeinsam, dass eine Organschicht den Umweltkontakt vermittelt. Nun werden die von den Organen durchgelassenen Reize entweder zentral gebündelt oder es bilden sich mehrere Bündelungspunkte aus, die aber nicht auf ein einzelnes Zentrum bezogen sind, d.h. welche dezentral organisiert sind. Die dezentrale Positionalität entspricht tendenziell der Lebensform der sogenannten niederen Tiere wie z.B. der Weichtiere, wohingegen die zentrale Positionalität eher der Lebensform der höheren Tiere zugehört, z.B. der Säugetiere. In der zentrischen Positionalitätsform bildet sich bereits ein Selbst aus, das zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten gegenüber den Umweltreizungen auswählen kann. Demgegenüber steht die exzentrische Positionalitätsform. Diese bildet wiederum nicht nur ein Selbst aus, sondern steht zu diesem Selbst gleichsam noch in einer Distanz, sodass exzentrisch positionierte Lebewesen auch ihr Selbst-Sein erleben können. Die exzentrische Positionalitätsform ist folglich zu einem höheren Grad mittelbar als die zentrische Positionalitätsform, da neben der Organschicht zusätzlich der Geist als vermittelnde Instanz im (Um-)Welt- und Selbstkontakt hinzutritt (S. 81–84, 97). Die Organisationsform der exzentrischen Positionalität bricht auf diese Weise aus dem Lebenskreis der geschlossenen Positionalitätsformen aus. Damit ist nichts Geringeres bezeichnet als der naturphilosophische Sinn der Rede von der Weltoffenheit exzentrisch positionierter Lebewesen. Die exzentrische Positionalität entspricht nun der Sphäre des Menschen. Die Folgen des Bruchs im Lebenskreis des Menschen und seiner daraus entstehenden Weltoffenheit sind zwar immens, können aber auf die ideale Strukturdynamik der exzentrischen Positionalitätsform zurückgeführt und durch die anthropologischen Grundgesetze expliziert werden.
Für das Verständnis aller Positionalitätsformen ist es wichtig, dass weder die Begriffe der Offenheit und Geschlossenheit, noch die der Dezentrizität, Zentrizität oder der Exzentrizität als körperliche Merkmale verstanden werden dürfen (bspw. ist das Zentrum der zentrischen Positionalitätsform nicht identisch mit dem Zentralnervensystem), sondern als qualitativ unterschiedliche Formen des Grenzvollzugs aufgefasst werden müssen (S. 80). In dieser Auffassung unterscheidet sich Philosophische von empirischer Anthropologie. Für Krüger überwindet Plessner mit der exzentrischen Positionalitätsform das Reflexionsmodell des Selbst, insofern die Exzentrizität einerseits aus einer Steigerung des Grenzvollzugs der geschlossenen Positionalität begriffen werden kann (S. 81) und andererseits das Reflexionsproblem anstatt auf den Leib oder das Selbstbewusstsein auf die Personalität gründet (S. 84). Die Personalität der exzentrischen Positionalitätsform ist dabei nicht dasjenige, das den Bruch im Lebenskreis versöhnt, sondern vielmehr der Bruch selbst. Krüger bezeichnet sie deshalb als reine Geistigkeit, als Leerstelle oder als Nichts (S. 82). „Die Position, von der aus die positionale Mitte exzentriert werden kann, wandert nicht nur aus der eigenen Leiblichkeit in das Nichts der Raum- und Zeitlosigkeit und das Nirgendwo-Nirgendwann der Raumzeithaftigkeit, es wird vor allem von innen nach außen verlegt“, schreibt Krüger und fährt fort: „Das Dritte, das die Exzentrierung der Konzentrik von außerhalb der positionalen Mitte ermöglicht, heißt nun nicht mehr ‚Ich‘, sondern ‚Person‘“ (S. 82–83). Der Bruch im Lebenskreis exzentrisch positionierter Lebewesen ist demnach nichts anderes als ihre Personalität. Die Sphäre des Menschen markiert damit einen Bruch mit der Natur in der Natur.
Diese Sphäre kann nun weiter kontrastiv bestimmt werden. So verhalten sich exzentrisch positionierte Lebewesen etwa zu Gegenständen durch „Sachverhalten“, wohingegen zentrisch positionierte Lebewesen sich zu Dingen durch „Feldverhalten“ verhalten (S. 85). Das Sachverhalten der Person zu sich selbst, d.h. in der Selbststellung zeigt ihr ihre Wirklichkeit als Erlebnis, wohingegen das Sachverhalten zur Welt, d.h. in der Gegenstandsstellung ihr die Wirklichkeit ihrer ‚Seele‘ als Wahrnehmung zeigt (S. 85). Die Exzentrierung in Richtung der Gegenstände und Personen in der Welt erfolgt durch die ‚Ekstase‘, wohingegen die Exzentrierung in Richtung des Selbst in der ‚Reflexion‘ geschieht (S. 102). Folglich können zwei Verhaltensrichtungen unterschieden werden, die beide die Person-Welt-Korrelation betreffen: die zentripetale und die zentrifugale Verhaltensrichtung (S. 97). Die zentripetale Verhaltensrichtung wird klassischerweise als Kontemplation gefasst, insofern hier die Welt auf die Person wirkt, wohingegen die zentrifugale Verhaltensrichtung als Aktion begriffen werden kann, da hier die Person auf die Welt wirkt. Auf der einen Seite sieht Krüger im Theorem der zentripetalen Verhaltensrichtung die Überwindung des Problems der Bewusstseinsimmanenz, indem Plessner wie gesagt das Reflexionsproblem vom Selbstbewusstsein in die personale Lebensführung verlegt (S. 99–104). So gelangt die Person, obwohl sie aufgrund ihrer Exzentrizität zu Allem in indirekt-direkter bzw. vermittelt-unmittelbarer Beziehung steht (S. 97–98), zu echtem Realitätskontakt. Krüger fasst dies unter ein – bspw. zu Fuchs Theorem der Organtransparenz analogen – Konzept der Vollzugsvergessenheit: „Dank der Selbstvermittlung, die sich im Vollzug vergisst, erscheint das Objekt in der Ekstase des Subjekts als wirklicher Gegenstand. […] Die Vermitteltheit oder Indirektheit der Beziehung wird zwar im personalen Vollzug vergessen, ist aber nicht getilgt, denn sie steckt in der dynamisch angehobenen Struktur jeder qualitativen Erfahrung, die Manifestation von etwas oder jemandem zu sein“ (S. 103). Auf der anderen Seite sieht Krüger in der zentrifugalen Verhaltensrichtung eine notwendige Expressivität, d.h. einen Ausdruckszwang (S. 104–108): Jede Lebensregung, an der das geistige Aktzentrum teilhat, muss notwendig ausdruckshaft sein (S. 104). Dieser Zusammenhang kann anhand der expressiven Differenz, d.h. dem Unterschied zwischen Ausdruck und Ausdrücken vertieft werden. Wo allem Ausdrücken ein Streben zugrunde liegt, geht dieses im Ausdruck verloren, wenn dieser in Form und Inhalt zerfällt, die im Ausdrücken noch eins waren (S. 106). Nach diesem Schema wird ersichtlich, dass die Sprache als Expressivität zweiter Potenz aufgefasst werden kann, insofern sie die Expressivität selbst zum Ausdruck bringt (S. 108–109). Aufgrund der Irreduzibilität der expressiven Differenz drängt die Person selbst bei gleichbleibenden Intentionen zu immer anderen Ausdruckserfüllungen, sodass dem Ausdruckszwang ein Geschichtszwang korrespondiert (S. 106–107).
Was bislang gesagt wurde, betraf in erster Linie die kontrastive Charakterisierung der spezifischen Gebrochenheit der menschlichen Lebensform. Die Analyse exzentrischen Positionalitätsform gipfelt in den sogenannten anthropologischen Grundgesetzen, welche die „Hiatusgesetzlichkeit“ (S. 406) seiner Position, die Eigengesetzlichkeit seiner Sphäre beschreiben. Bildlich gesprochen fassen die anthropologischen Grundgesetze die verschiedenen Weisen, wie der Mensch aus der Ruhelage gestoßen wird (exzentriert) und wie er versucht dorthin zurückzukehren (rezentriert; S. 107). Plessner unterscheidet die Grundgesetze der natürlichen Künstlichkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit und des utopischen Standorts. Insbesondere die ersten beiden kamen in der bisherigen Darstellung bereits zur Geltung, weswegen sie hier nur angedeutet werden sollen. Die natürliche Künstlichkeit beschreibt den Zusammenhang, dass der Mensch aufgrund des Bruchs in seinem Lebenskreis nicht einfach in seiner Umwelt leben kann, sondern seine eigene Welt bilden muss, in der er sein Leben allererst führen kann. Die vermittelte Unmittelbarkeit befasst sich mit dem Umstand, dass der Mensch aufgrund der doppelten Positioniertheit seiner Position als Ex-Zentrum in einem unhintergehbar vermittelt-unmittelbaren Seinsbezug steht und folglich seinen Weltkontakt und seine Weltoffenheit selbst fortwährend herstellen muss. Der utopische Standort untersucht was es bedeutet, dass der Geist positional die Leerstelle des Bruchs der exzentrischen Lebensform besetzt, d.h. die Personalität des Menschen auf Nichts gründet (S. 111). Das Gesetz des utopischen Standorts betrifft den Verweis der exzentrischen Position auf die Nichtigkeit und Transzendenz, indem es die Exzentrierung von Innen-, Außen- und Mitwelt thematisiert (S. 111): Da der Person das Absolute ermangelt, beruht ihre Innenwelt auf einer Zerfallenheit mit sich selbst (S. 112). Hieraus folgt zugleich, dass die Religion als abstrakte Möglichkeit in der exzentrischen Positionalitätsform angelegt ist (S. 113). Die Außenwelt exzentriert durch ihre Vergegenständlichung, welche sie als lediglich eine mögliche Welt entlarvt (S. 114). Der Gewinn dieser Exzentrierung liegt darin, dass die individuelle Person trotz der Unumkehrbarkeit ihrer Existenzrichtung den Horizont ihrer Möglichkeiten des Anders-sein-Könnens erschließt (S. 114). Der Mitwelt kommt insofern ein Primat zu als dass der Mensch weder bloß in ihr lebt wie in der Außenwelt noch bloß durch sie erfüllt wird wie durch die Innenwelt, sondern sie durch ihn hindurch steht, d.h., dass der Mensch schlechthin die Mitwelt ist (S. 115). Anders als die natürliche Künstlichkeit und die vermittelte Unmittelbarkeit, die die Eigengesetzlichkeit der Verwirklichung der exzentrischen Positionalitätsform betreffen, geht es beim utopischen Standort um die Exzentrierung, die an den Grenzen der Verwirklichbarkeit der exzentrischen Positionalitätsform liegt (S. 122). Der utopische Standort bringt den Menschen dadurch nicht lediglich in den mitweltlichen Zwist zwischen Ersetzbarkeit und Würde (S. 115–118), sondern stellt eine Wesenskorrelation zwischen exzentrischer Positionalität und der Seinsweise Gottes her (S. 123). So entspricht dem Anthropomorphismus in der Wesensbestimmung Gottes ein Theomorphismus in der Wesensbestimmung des Menschen, der sich dadurch ausdrückt, dass der exzentrischen Positionalitätsform ein Zwang zum atheistischen Zweifel entspringt (S. 123). In diesem Sinne kann Krüger seine Reflexion auf die anthropologischen Grundgesetze durch die Emphase ihrer Offenheit abschließen: „Die exzentrische Positionalität bleibt auch in ihrer letzten Fraglichkeit, wie man in die Grenzen ihrer Verwirklichung gestellt doch noch zu stehen kommt, offene Pluralität von wesensmöglichen und wesensnötigen Antworten“ (S. 126).
Das Pendant zur vertikalen Achse der Betrachtungsrichtung der verschiedenen Stufen des Organischen ist die horizontale Achse der verschiedenen Realisierungsweisen auf der Stufe der exzentrischen Positionalitätsform. Wie bereits erwähnt umfasst die horizontale Achse eine statisch-horizontale und eine dynamisch-horizontale Subachse. Krüger widmet sich im zweiten Teil des Buches zunächst statisch-horizontalen Achse, die die Sozial- und Kulturphilosophie der Philosophischen Anthropologie betrifft. Plessner zufolge ist die personale Lebensform durch einen Strukturbruch gekennzeichnet, deren „Hiatusgesetzlichkeit“ (S. 406) in vertikaler Richtung durch die Körper-Leib-Differenz beschrieben werden kann. Krüger betrachtet diesen Strukturbruch nun in horizontaler Richtung durch das Prisma der Mitwelt, d.h. der sozial-geistigen Sphäre, in der der Mensch als Person anderen Personen begegnet. Nun entspricht dem Strukturbruch der Exzentrizität in der Mitwelt dem Unterschied zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, sodass personales Leben als „privat-öffentliches Doppelgängertum“ (S. 259) beschrieben werden kann. Die Vermittlung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit stellt dabei die sozio-kulturelle Lebensaufgabe der Person dar (S. 258). In Anlehnung an Tönnies Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft versteht Krüger mit Plessner das Rollenverhalten der Personen sowohl in elementar-gemeinschaftlichen als auch in repräsentativ-gesellschaftlichen Rollen als Ermöglichungspraktik des öffentlichen Lebens (K. 11–12).
Im Allgemeinen kann Plessners Position, wie er sie beispielsweise seiner Schrift „Die Grenzen der Gemeinschaft“ entwickelt, dadurch ausgezeichnet werden, dass er entgegen dem seinerzeit grassierenden Gemeinschaftsethos ein Plädoyer für die vergleichsweise anonym-öffentliche Sphäre der Gesellschaft entfaltet. Die insbesondere für moderne Gesellschaften charakteristische Funktionalisierung der Personenrollen generiert einen Bruch zwischen privat-persönlicher und öffentlich-gesellschaftlicher Existenz (S. 258), wodurch der Mensch als Doppelgänger zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft leben muss. Ein Reifegrad dieser Funktionalisierung drückt sich im Begriff der Repräsentation aus. Dieser wiederum markiert den Übergang von der theatralen zur gesellschaftlich-politischen Bedeutung des Rollenbegriffs (S. 273). Die Repräsentation einer gesellschaftlichen Funktion gestattet es der Person jemand anderes zu werden, indem sie für etwas Überindividuelles aber dennoch Personales steht. Dabei ist zu beachten, dass die Identifikation der Person mit der (repräsentativen) Rolle notwendig unvollständig ist, sodass die Rollenübernahme immer auch eine Begegnung mit dem (öffentlichen) anderen (seines privaten selbst) impliziert (S. 275). Das Doppelgängertum des Menschen erfordert folglich eine Selbstinstrumentierung, d.h. auch ein gewisses Maß an Distanz zu sich selbst; – Selbstferne. Dass das Doppelgängertum kompatibel mit der Idee einer ‚maßlosen Individualisierung‘ moderner Gesellschaften ist, lässt sich anhand des Beispiels des Blicks verdeutlichen. Trifft der eigene Blick den des anderen, so ist das nicht eine Situation, in der man einen Gegenstand bloß als Gegenstand vor Augen hat. Vielmehr blickt der andere stets zurück, d.h. wir sehen uns durch seinen Blick gesehen (S. 281). Die Philosophische Anthropologie kommt dabei mit der Alteritätsphilosophie überein, dass wir gegenüber diesem Blick des anderen nicht indifferent bleiben, sondern dieser uns berührt. Wir werden vom anderen als personales Individuum anerkannt und vice versa. Bemerkenswert ist dabei, dass das Gesicht, von dem der Blick ausgeht, als expressives Feld nur begrenzt willentlich modulier- und kontrollierbar ist (anders als die Stimme, welche durch ihre feinkörnige Kontrollierbarkeit das ideale personale Ausdrucksmedium darstellt (S. 282)). Da der Mensch in einem Ausdruckszwang steht, ist auch sein Innerstes dem Blick des anderen ausgesetzt, d.h. vis-á-vis mit dem anderen besteht eine irreduzible Erlebnisdimension sozialen Ausgesetztheit der Menschen, die kein Rollenverhalten überdecken könnte.
Soweit betrifft das Gesagte die statisch-horizontale Wesenswissenschaft des Rollenverhaltens. Doch die Philosophische Anthropologie nimmt auch tatsachenwissenschaftliche Analysen vor, die hier jedoch nicht elaboriert werden sollen. Zu Veranschaulichung ist beispielsweise festzustellen, dass das Rollenverständnis ein sich ontogenetisch steigernder Prozess ist (S. 272). Wichtiger für den hier verfolgten Zusammenhang ist der Verschränkungspunkt von horizontaler und vertikaler Achse, der anhand es Verhältnisses von Rolle und Leib im Verhalten sichtbar gemacht werden kann.
Hierbei kommen zugleich die transzendentalphilosophischen Anleihen der Philosophischen Anthropologie zum Vorschein, wenn Krüger nämlich die Möglichkeiten und Grenzen von personalem Rollenverhalten untersucht (vgl. S. 400). Die jeweils eigenen Verhaltensgrenzen erfährt der Mensch im Lachen und Weinen (K. 2; 11–12), in der Liebe (K. 13), im Sterben (K. 14) aber auch in den Leidenschaften und Süchten (K. 11). Obgleich hier nicht der Ort dafür ist, diese Beispiele im Einzelnen durchzuexerzieren, ist es sachdienlich anhand einer exemplarischen Betrachtung des Lachens und des Weinens die Grundzüge der Philosophischen Anthropologie als ‚Grenzwissenschaft‘ nachzuzeichnen: Lachen und Weinen markieren zwei Grenzen personalen Verhaltens, da in ihnen das Selbst gewissermaßen im Körperleib verschwindet (S. 292). Der Körper übernimmt die Regie, indem dieser eruptiv Ausdrucksverhalten hervorbringt (S. 291). Diese Expressionen unterstehen ab dem Überschreiten einer Schwelle nicht mehr der willentlichen Kontrolle der Person. Lachen und Weinen verlaufen somit an der Grenze zwischen dem Körper als Naturding unter Naturdingen und dem Leib als ein vom Willen durchdrungenes expressives Feld. Obgleich ihrer sich mitunter starr entwickelnden, automatischen ablaufenden physiologischen Korrelate kommen Lachen und Weinen mitweltliche Ausdruckswerte zu. Nach der Analyse der Philosophischen Anthropologie verfällt der Mensch ins Lachen, wenn er mit einem unüberschaubaren Überschuss an Verweisungszusammenhängen konfrontiert wird, wohingegen er weint, wenn sein sinnkonstitutives Verweisungsgesamt kollabiert und ihm folglich der Boden unter den Füßen entschwindet: Dennoch hat der Kontrollverlust, der dem Menschen im Lachen und Weinen widerfährt, Ausdruckwert. Der Mensch zeigt im Lachen und Weinen eine letzte Souveränität, da in diesem Grenzverhalten eine personal unbeantwortbare Situation körperlich beantwortet wird.
Was bis nun gesagt wurde betrifft die statisch-horizontale Subachse der Philosophischen Anthropologie, d.h. die Kultur- und Sozialphilosophie. Davon zu unterscheiden ist die dynamisch-horizontale Subachse, entlang derer die Geschichtsphilosophie der Philosophischen Anthropologie zu entfalten ist. Krüger widmet der dynamisch-horizontalen Achse den dritten Teil seiner Untersuchung. „In dem folgenden Teil über die geschichtsphilosophische Fundierung der Philosophischen Anthropologie“, sagt Krüger, „geht es zunächst um das geisteswissenschaftliche Erkenntnisprinzip und eine diesem gemäße Einrichtung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnispraxis“ (S. 411). Hierbei wird der Zusammenhang zwischen Plessners Philosophischer Anthropologie und Diltheys Hermeneutik ersichtlich. Genauer gesagt: Plessners Programm schließt an das von Dilthey an, versucht allerdings dessen disziplinäre und epistemische Dichotomien zu überwinden. So besagt die Charakterisierung der Philosophischen Anthropologie als Hermeneutik des Lebens nichts anderes als die Konstitution einer Erkenntnispraxis, die paradigmatisch den Geisteswissenschaften zugeordnet wird – der Hermeneutik –, auf einen Erkenntnisgegenstand, der paradigmatisch den Naturwissenschaften zugehört – das Leben. Plessner versucht also ein Programm zu entwerfen, das es gestattet, verstehende und erklärende Betrachtungen ineinander zu verschränken.
Krüger bezieht dies nun auf die Unterscheidung zwischen der Wer- und der Was-Frage, mit der beispielsweise Heidegger die Philosophische Anthropologie in Frage gestellt hat. Nach Heidegger kann jedwede Lehre vom Menschen, die diesen als Lebewesen ansetzt, die Ebene der Was-Frage nicht verlassen. Somit setzte eine solche Anthropologie den Menschen in der Seinsweise der Vorhandenheit anstelle der Existenz an: Die Wer-Frage fragt nach Heidegger also nach der Existenz und somit dem eigentlichen Wesen des Menschen. In jüngerer Zeit hat z.B. Spaemann die Unterscheidung zwischen der Was- und der Wer-Frage aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass die Antwort auf die Was-Frage „etwas“ lautet, wohingegen die Antwort auf die Wer-Frage „jemand“ ist. Nach Spaemann fragt die Was-Frage demnach nach den Dingen, wohingegen die Wer-Frage Spaemann die Frage der Person ist. Krügers Position fügt sich in dieses diskursive Feld, indem er mit Plessner und im Ausgang von Dilthey eine alternative Konfiguration der Was- und der Wer-Frage entwickelt:
„Die Frage nach den anorganischen Körpern und ihren Relationen war noch eine Was-Frage, die aber nach den Lebewesen war bereits einer Wer-Frage: Wer verhält sich und wer verhält sich zu seinem bzw. ihrem Verhalten? Das Verstehen bezieht sich auf die Frage, wer sich warum zum eigenen Verhalten verhalten kann, nicht im physikalisch-deterministischen Sinne: verhalten muss. Er/Sie/Es könnten sich auch anders verhalten, wenn ihr Verständnis von der Welt, in der sie leben und eine Aufgabe wahrnehmen, anders wäre. Wir geraten beim Umschreiben der Verstehensfrage in den Konjunktiv“ (S. 420).
Diese Interpretation der Philosophischen Anthropologie verschiebt die Grenze zwischen der Was- und der Wer-Frage ‚eine Stufe‘ nach unten, sodass schon Lebewesen von der ‚Verstehensfrage‘ getroffen werden. Die geisteswissenschaftliche Erkenntnispraxis, so wie sie Krüger vorschwebt, versucht dem Umstand gerecht zu werden, dass ihre Gegenstände sich zu sich selbst verhalten können: Lebewesen verhalten sich zu ihrem Verhalten und zeigen darin ihr Bewusst-Sein (analogerweise zeigen geisteswissenschaftliche Erkenntnisgegenstände das Selbst- und Weltverständnis an, aus dem heraus sich jemand (zu sich) verhalten hat). Durch dieses Sich-zu-sich-selbst-verhalten-Können wird die geisteswissenschaftliche Erkenntnispraxis konjunktivisch, während ihre Erkenntnisgegenstände unergründlich werden. Unter anderem hierfür prägte Plessner den Begriff des kategorischen Konjunktivs: Lebewesen müssen immer Anders-sein-Können. Eng damit verbunden ist die Frage nach der Authentizität. Im Lichte des kategorischen Konjunktivs muss das Selbst-sein-Können nämlich im Sinne einer Aktualpotenzialität verstanden werden, d.h. als die Verwirklichung einer seiner eigenen Möglichkeiten. So unterscheidet sich beispielsweise das Leben des Menschen von dem reinen Selbst-Sein der physischen Dinge (S. 428), dass jenes auf seine künftigen Möglichkeiten ausgerichtet und folglich durch diese bestimmt ist. Geisteswissenschaftliche Gegenstände sind demnach nicht abschließend zu bestimmen, sondern sind vielmehr als „offene Fragen“ aufzufassen. Plessners Projekt hat demgemäß je der Öffnung der Frage nach dem Menschen gegolten; nicht aber ihrer abschließenden Behandlung (S. 422). Demgemäß verzichtet die Philosophische Anthropologie auf eine ‚konstitutive Wesensbestimmung‘ des Menschen. Dass dieser Verzicht nicht als Verlust zu verstehen ist, macht Krüger mit Plessner dadurch deutlich, wenn er vom „schöpferischen Verzicht“ (S. 435) spricht: Geschichtsphilosophisch strukturiert sich die Seins- und Lebensform des Menschen von seiner Zukunft her und wird muss daher eine offene Frage bleiben. Hierdurch soll deutlich werden, dass die Anthropologie gerade durch den Verzicht auf eine konstitutive Wesensbestimmung den Begriff des Menschen für eine sich geschichtlich fortwährend selbst erneuernde Bestimmung öffnet (S. 460). Das ist zugleich der Grund, weshalb – insbesondere in der existenzphilosophischen Interpretation der Anthropologie durch Fahrenbach und Konsorten – Plessners Rede von der „exponierenden Anthropologie“ (Plessner, 1953, S. 285) aufgegriffen wird. Krüger bezieht die geschichtsphilosophisch-exponierte Transformation der Wesensbestimmung des Menschen nun auf die Figur des homo absconditus:
„Für die geschichtsphilosophische Fundierung (Mitscherlich 2007) der anthropologisch horizontalen Vergleiche besteht die Hypothese der Philosophischen Anthropologie in Folgendem: Das Wesen des Menschen im Ganzen seiner Lebensführung liegt in seiner ‚Unergründlichkeit‘ […], d.h. im homo absconditus, der Zukunft ermöglicht. Damit kann dieses Wesen im Ganzen nicht abschließend bestimmt werden. Dies schließt ein, dass es unter Aspekten und Perspektiven sehr wohl bestimmt und bedingt werden kann, sofern es endlich ist, z.B. durch Geisteswissenschaften bzw. Humanwissenschaften. […] Lebte dieses Wesen praktisch nicht in einer Relation der Unbestimmtheit von Zukunft auf sich hin, hätte es keine Bestimmungsaufgabe mehr vor sich. Es wäre bereits vollständig determiniert. Es würde vielleicht durch Geschichte bedingt, würde aber keine Geschichte mehr machen.“ (S. 501–502)
Im Zusammenhang der Geschichtsoffenheit des Menschen prägt Plessner den Begriff des „gewordenen Ursprungs“, der besagt, dass der Begriff des Menschen zwar historisch errungen wurde – und zwar im antik-judeo-christlichen Denkkreis des Abendlandes –, aber nicht erschöpfend geschichtlich zu bestimmen ist. Der Begriff des Menschen markiert damit nicht den Endpunkt der menschlichen Selbstbestimmung, sondern stattdessen einen Anfangspunkt. Die mannigfaltigen und variablen historischen Selbstbestimmungen des Menschen bilden dabei so etwas wie einen Werdepluralismus aus, der in der Unergründlichkeit des Menschen fundiert ist (S. 460). Diese sollte nicht dadurch missverstanden werden, dass der Mensch sich selbst nicht erkennen könnte bzw. über sich selbst nichts in Erfahrung bringen könnte. Vielmehr wird beides, die Unergründlichkeit des und die Intelligibilität des Menschen, durch die exzentrische Positionalitätsform ermöglicht. Seine Intelligibilität wird bspw. durch Habitualisierungen in eigens geschaffenen Umwelten gestiftet, in denen seine Exzentrizität ‚rezentriert‘, d.h. in die Mitte seines Lebenskreises zurückfindet (S. 459). Diese Rezentrierung ist durch das anthropologische Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit beschreibbar, steht aber in einem Zusammenhang mit dem Grundgesetz des utopischen Standorts: Denn nur exzentrisch positionierten Lebewesen ist es möglich eine mitweltlich geteilte, geistig-personale Lebensmitte auszubilden (S. 459, FN. 4). Gleichsam ist diese geteilte Lebensmitte in der Mitwelt die Voraussetzung für die personale Differenz in der Sozialphilosophie, nach der die menschliche Lebensführung in der Gesellschaft stets zwischen ihm als Rollenträger und als Rollenspieler vermitteln muss (siehe die Ausführungen zum zweiten Teil des Buches). Insgesamt besehen sind Unergründlichkeit und Intelligibilität des Menschen insofern miteinander vereinbar, als die Unergründlichkeit zwar eine letztgültige Bestimmung des Wesens des Menschen ausschließt, die Intelligibilität allerdings lediglich eine Bestimmbarkeit des individuellen Lebens veranschlagt. Unergründlichkeit und Intelligibilität sind somit zwei Seiten desselben menschlichen Lebens.
Für Krüger ebenso wie für Plessner weist die Geschichtsphilosophie unmittelbare Implikationen für die politische Philosophie auf. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass beide unzertrennlich miteinander verwoben sind. Das Gewebe, in dem sich beide kreuzen – um im Bild zu bleiben –, ist das der Anthropologie. So spiegelt sich in der Analyse der Philosophischen Anthropologie die Offenheit des Menschenwesens in der ‚Ablösbarkeit‘ der westlichen Werte wider (S. 433). Diese These, die schon Valéry aufgestellt hat, fasst Plessner unter dem Diktum „Europa siegt, indem es entbindet“ (Plessner, 1931, S. 164). Europa siegt den Sieg der Mutter – wenn man so will –, da die Spezifik des europäischen Geistes darin besteht, dass dieser von allen Kulturen und Denkkreisen angeeignet werden kann. Anders als der deutsche Geist der Gemeinschaft, der nicht universalisierbar war, da er sich an Blut und Boden band, anonymisiert sich die Vernunft des europäischen Geistes, sodass es zu einer „Europäisierung der Erde“ kommen konnte (S. 436).
Krüger entwickelt eine Reihe von spezifischen gesellschaftskritischen Analysen an der Intersektion von Geschichtsphilosophie, politischer Philosophie und Philosophischer Anthropologie. Wenngleich diese hier zu entwickeln nicht möglich sein wird, gestattet es eine Betrachtung der diese übergreifenden Einsichten den spezifischen Impetus Krügers Geschichtsphilosophie sichtbar zu machen. Die Kardinalfrage an dieser Intersektion ist die danach, ob eine Wesensstruktur des Menschen vorausgesetzt werden muss, wenn eine gerichtete anstatt bloß beliebiger Gesellschaftskritik möglich sein soll, oder ob nicht vielmehr die Freiheit der Kritik so absolut sein muss, dass sie jedwede Wesensstruktur des Menschen aus den Angeln hebt (S. 462). In der Reflexion auf diese Frage steht zuvorderst Krügers These, dass die Philosophische Anthropologie Plessners und die Kritische Theorie, so wie diese durch Adorno und Habermas entwickelt wurde, nur vermeintlich unvereinbar sind. Nach den bisherigen Ausführungen ist es offenbar, dass dieser Verdacht der Unvereinbarkeit die Philosophische (großes „P“) mit der philosophischen (kleines „p“) Anthropologie verwechselt. Eine „Kritische Anthropologie“ (K. 17) ist nur dann undenkbar, wenn die Anthropologie essentialistisch oder biologistisch verfahren müsste und dadurch ihr gesellschaftskritisches Potenzial zugunsten eines Status-quo-affirmativen Konservativismus preisgäbe. Da der Sache nach eine fundamentale Konvergenz zwischen Plessners immanenter Transzendenz und Adornos negativer Dialektik besteht, die beide einen unabgeschlossen-offenen Geschichtsbegriff entwickeln, bestimmt Krüger das Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie als komplementär. Dem entspricht auch Habermas späte Stellungnahme zu Plessners „Die Stufen des Organischen und der Mensch“, welches dieser im Interview mit Krüger als eines der wichtigsten Werke des 20 Jahrhunderts ausweist (Habermas, Demmerling & Krüger, 2016, S. 812).
Nun liegt dieselbe Verwechslung von philosophischer (kleines „p“) und Philosophischer (großes „P“) Anthropologie an der Wurzel der antihumanistischen Kritiken an der Anthropologie (S. 485). Exemplarisch in diesem Zusammenhang ist Derridas Kritik in „finis hominis“, die darauf hinweist, dass ein Humanismus bzw. Anthropologismus der gemeinsame Nenner der verschiedensten Denkströmungen ist, vom Marxismus bis zur Existenzphilosophie. Im Lichte der antihumanistischen Dekonstruktion zeigt sich der Mensch als eine lediglich historische, nicht aber substanzielle Kategorie. In dieselbe Kerbe schlägt auch Foucaults berühmter Ausruf in „Die Ordnung der Dinge“: „Der Mensch verwischt wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault, 1971, S. 462). In seinem archäologischen Programm radikalisiert er die Historisierung des Menschen: „Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wäre“ (Foucault, 1996, S. 84 f., zit. nach Krüger, S. 490). Anstatt den Menschen am Ende der Geschichte zu sehen, verkündet Foucault das ‚Ende des Menschen‘. Krüger weist nun darauf hin, dass diese Passage auch als „eine Verteidigung der Unergründlichkeit des Menschen“ (S. 490) gesehen werden kann. Mit Krüger liegt somit eine entscheidende Konvergenz nicht nur zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie, sondern gleichfalls mit dem Anthi-Humanismus vor. Allen dreien ist die Kritik an jedweder Verabsolutierung des Wesens des Menschen gemeinsam (S. 494).
Das bislang argumentierte galt der politischen Theorie der Philosophischen Anthropologie unter besonderer Berücksichtigung der Vereinbarkeit der Fragen nach der Gesellschaftskritik und der nach dem Menschen. Die Verbindungslinie dieser beiden Fragen markiert zugleich einen Grundzug einer „politischen Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ (S. 500). Das Desiderat einer gerichteten Kritik lässt sich innerhalb dieser anhand der vertikal-horizontal Unterscheidung entfalten. Dabei betrifft die vertikale Richtung den Speziesismus und die horizontale Richtung den Ethno- und Anthropozentrismus (S. 500). An der Kreuzung dieser beiden Kritikrichtungen setzt die Philosophische Anthropologie eine „neue Verantwortung“ an, deren Hauptaufgabe darin besteht, das Relative trotz seiner Relativität als wirklich anzuerkennen (S. 461). Das kritische Potenzial der Philosophischen Anthropologie zielt somit weder auf einen anthropologischen Essentialismus noch auf einen Pluralismus der Inkommensurabilität, sondern auf eine Selbsthistorisierung und -relativierung der eigenen Position, die zugleich die geltungsmäßige Universalisierung des Begriffs des Menschen ermöglicht. Durch das Ineinandergreifen sowohl des richtungsgebenden Moments dieser Position, d.h. der exzentrischen Positionalitätsform und ihres korrigierenden Moments, d.h. des Unergründlichkeitsprinzips wird eine Bestimmung des Menschen möglich, die weder ihn in seinem Sein noch die Formen seines Zusammenlebens hypostasiert: homo absconditus.
Nachdem die ersten drei Teile des Buches der Darstellung der „sachbezogenen Untersuchungsweise“ (S. 509) Plessners Philosophischer Anthropologie dienten, ist der vierte Teil dem Vergleich zwischen Philosophischer Anthropologie und anderen Denkansätzen der Philosophie gewidmet. Indem Krüger Plessner mit dem Denken von Kant, Nietzsche, Jaspers, Heidegger und Dewey in Dialog bringt, konturiert er noch deutlicher „[d]ie Spezifik von Plessners philosophischen Einsatz“ (S. 509). Der Sache nach stellt Krügers Ansatz durch diesen breit angesetzten Vergleich ein überaus heteromorphes Unterfangen dar. Da dieses hier nur kursorisch und blitzlichtartig wiedergegeben werden könnte, sollen stattdessen einige kontrastierende Reflexionen aufgegriffen werden, die das Philosophieverständnis der Philosophischen Anthropologie beleuchten.
Der fruchtbarste Anschlusspunkt hierfür ist der Vergleich mit Kant, über dessen „Kritik der Urteilskraft“ Plessner sich habilitiert hat. Angesichts Kants Transzendentalphilosophie findet sich Plessner vor einen Zirkel gestellt, den es zu überwinden gilt: Die Maßstäbe, nach denen man in der Wissenschaft immer schon zu urteilen hat, müssen gleichsam in der Wissenschaft selbst erzeugt werden (S. 514). Die Überwindung dieses Zirkels liegt in der Idee einer exakten Wissenschaft begründet. Eine Wissenschaft, welche uns die Mittel zur Erkenntnis ihrer Gegenstände zur Hand gibt, wird dann zur exakten Wissenschaft, wenn sie diese Erkenntnismittel auf sich selbst anwendet, d.h. zu einem Begriff ihrer selbst gelangt bzw. sich selbst begründet (S. 520). Kant fasst dies unter den Begriff der „Heautonomie der Vernunft“ (S. 521), d.h. der spezifischen Form der Autonomie, die der reflektierenden Urteilskraft und ihrer apriorischen Gesetzgebung hinsichtlich ihrer selbst als subjektiven Vermögen (anstatt hinsichtlich eines objektiven Gegenstandsbereichs) zukommt. Dass sich die subjektive Urteilskraft selbst unter ihr eigenes Gesetz bringt, verweist auf ihre geltungsmäßige Offenheit. Die exakte Wissenschaft erzeugt auf diese Weise die Maßstäbe, nach der sie selbst zu urteilen hat und löst damit den angesprochenen Zirkel auf.
Nun findet sich in der Idee der Würde eine anthropologische Spiegelung des Heautonomiegedankens, den Krüger mit Plessner im Dialog mit Kant entwickelt. Würde bezeichnet dabei ein freies, gesetzmäßiges Harmonieren aller Vermögen des menschlichen Wesens (S. 522). So ist es etwa das Ziel der Bildung den idealen, wesensmöglichen Formen der Würde gerecht zu werden und diese zu entwickeln (S. 524). Die Idee der Würde ermöglicht indes das Philosophieren und gibt ihr das Ideal ihres Verfahrens vor: Anthropologisch betrachtet ermöglicht sie die Selbstbestimmung des unergründlichen Wesens des Menschen (S. 523). Es besteht für Krüger damit eine tiefe Verwandtschaft zwischen dem Prinzip der offenen Frage, d.h. dem Unergründlichkeitsprinzip und dem Würdeprinzip (S. 530). Dabei steht das Unergründlichkeitsprinzip durch die Verbindung, die es zwischen empirischer und apriorischer Betrachtungsrichtung in der Anthropologie stiftet (d.h. in Anschluss an das Schelerianische materiale Apriori), theoriesystematisch an einem analogen Ort wie das transzendentalphilosophische Würdeprinzip (S. 588). Nun kann Plessners Interpretation hiervon nach Krügers Ansicht zugleich als transzendentalpragmatische bzw. quasi-transzendentale Rekonstruktion der Lebenserfahrung aufgefasst werden (S. 526), wobei Plessner die charakteristisch lebensphilosophische-mereologische Wende mitvollzieht, nach der die transzendentalen Momente der Lebenserfahrung im Lebensprozess selbst aufgezeigt werden müssen: Das Denken bezieht sich folglich nicht äußerlich auf das Leben, sondern das Denken ist selbst vielmehr Lebensäußerung. Plessners Ästhesiologie fügt sich in diesen Zusammenhang insofern diese das Zusammenwirken der sinnlichen Anschauung und der Möglichkeitsbedingungen begrifflicher Interpretation thematisiert.
Insgesamt zeigt sich, dass Würde und Unergründlichkeit innerlich aufeinander bezogen sind: „Die Symbolik der Würde wurde im Zeichen des homo absconditus (Plessner, 1983h), d.h. im Prinzip von der Unergründlichkeit des Menschen, bewahrt (siehe Krüger 2013a u. 2015)“ (S. 533). Dass die Würde des Menschen mit seiner Verborgenheit nicht preisgegeben werden muss, verweist exemplarisch auf den wechselseitigen, fortwährend offenen Zwist, der zwischen der Anthropologie und der Philosophie hinsichtlich ihres Primats besteht. Anthropologisch ausgewertet artikuliert sich dies zum einen in dem Überschuss der ‚Fraglichkeit‘ des Menschen, die die horizontal-dynamische Achse der Geschichtsphilosophie erschließt, gegenüber der ‚Antwortlichkeit‘ des Menschen, die die vertikale Achse der Naturphilosophie untersucht (S. 589). Zum anderen zeigt es sich darin, dass die Frage nach dem Wesen der Philosophie nicht zu entscheiden ist, ohne den „Grundsatz der Selbstgefährdung“ (S. 535) im Philosophieren aufzugeben. Für Krüger erlangt die Philosophie erst ihre höchste Freiheit, wenn sie ihre eigene Fragwürdigkeit erkennt und folglich die Möglichkeit ihrer Selbstüberwindung entdeckt. Indem auf diese Weise der Mensch gleichsam wie das Denken ‚entsichert‘ werden, veranschlagt Plessner eine Situation der Nichtentscheidbarkeit des Primats zwischen Philosophie und Anthropologie.
Aus diesem systematischen Gesichtspunkt resultiert eine Kritik des Ideals der strengen Wissenschaft, die auf apodiktische Erkenntnis hingerichtet ist. Hinzu tritt der inhaltliche Gesichtspunkt, dass dieses Ideal den Gegensatz zwischen dem Bewusstsein und den Dingen konsolidiert (S. 586–587). Für die Philosophische Anthropologie ist das Bewusstsein allerdings immer schon bei den Dingen. Demgemäß und vor dem Hintergrund der ausführlichen Kritik, die Plessner am Cartesianismus übt, sieht Krüger die Philosophische Anthropologie in einer Reihe mit Deweys Parallaxe, nach der es nicht primär darum gehen kann, den Dualismus abzuschaffen, sondern ihn zu entfundamentalisieren (S. 605). So kann die rekonstruktive Synthese der einstmalig analytisch auseinandergenommenen Lebenserfahrung zu ihrer kreativen Vereinheitlichung als kulturelle Wirklichkeit führen (S. 596).
Der Gegensatz von Psyche und Physis übersetzt sich in der anthropologischen Betrachtung demnach in den zwischen Kultur und Natur. Betrachtet man den Menschen mit einem biologischen Naturbegriff, so erscheint dieser als Gattungswesen der Art Homo(S. 545). Diese Betrachtungsart hat sich zweifelsohne als fruchtbar erwiesen, z.B. für die evolutionäre Anthropologie. Sie eröffnet allerdings zugleich das Ursprungsproblem der Kultur, für das Krüger zwei grundsätzliche Antwortrichtungen unterscheidet (S. 554): Positiv gefasst entsteht die Kultur aus einer Tendenz zur Selbststeigerung des Lebens i.S. des Willens zur Macht. Negativ gefasst resultiert aus der Selbststeigerung des Lebens eine hypertrophe Triebdynamik, die nach Selbstdomestikation verlangt. Da nun gemäß dem Gesetz der natürlichen Künstlichkeit Natur und Kultur im Menschen ineinander verschränkt sind, veranschlagt die Philosophische Anthropologie ihre Gleichursprünglichkeit. Dies hat bedeutsame Implikationen für die die Authentizität des Menschen, die für diesen zur Lebensaufgabe wird. Anders als der Subjektivismus der Existenzialanalyse, für den der nach sich Fragende sich selbst der Nächste ist (S. 539), erscheint dieser in der naturphilosophischen Perspektive der Philosophischen Anthropologie als ein Element in einem Meer an Sein, d.h. dass der Mensch sich weder bloß der Nächste noch der Fernste ist, sondern die paradoxale Verschränkung beider Pole (S. 585). So avanciert Krüger mit Plessner die These, dass das Leben Existenz fundiert (S. 554). Authentizität besteht so aufgefasst in einer Weise der Zentrierung, die das Selbst-sein-Können im Selbst-Werden ernst nimmt, d.h. die Lebensaufgabe der Authentizität verlangt es dem Menschen ab, die ‚neue Verantwortung‘ auch auf sich selbst zu übernehmen, und sein Selbstsein trotz dessen Relativität als wirklich anzuerkennen. Weder die Verschränkung von Natur und Kultur in der exzentrischen Positionalitätsform, noch die Verborgenheit des Menschen verunmöglichen also die Frage nach seinem Selbstsein. Homo absconditus, das bedeutet stattdessen, dass das Selbst immer auch in der Wir-Form thematisiert werden kann, sodass im Selbst die Leerstelle des Geistes sich öffnet, die die für die Reflexion notwendige Selbstdistanz sicherstellt (S. 622). Hieraus leitet sich eine wichtige Struktureinsicht über die Mitwelt ab: Aufgrund der Exzentrizität des Menschen existierte diese nämlich selbst dann, wenn es auf der Welt nur eine Person gäbe (S. 623). Anders gesagt: Sogar Robinson Crusoe könnte sich selbst nur im Verhältnis zu Kultur und zu anderen Menschen begreifen. Zwischen der Ex- und der Rezentrierung eröffnet sich somit eine Zwischenwelt der Vollzüge und Beziehungen, deren Einheit durch die exzentrische Positionalitätsform gestiftet wird (S. 581). Der Mensch, in dem die Mannigfaltigkeit dieser Vollzugs- und Beziehungseinheit in ihrer abstrakten Möglichkeit realisiert wird, bestimmt gleichsam sich selbst und die Welt ohne hierdurch das eine oder das andere zu fixieren (S. 556) – homo absconditus.
Fazit
Schon der Name Hans-Peter Krüger steht für die Verjüngung Plessners Philosophischer Anthropologie. Sein Buch „Homo Absconditus“ entwirft Krüger mit dem Menschen als Ursprung und Kreuzungspunkt einer „vertikal“ naturphilosophischen Achse auf der einen und einer statisch-horizontalen sozial- und kulturphilosophischen sowie einer dynamisch-horizontal geschichtsphilosophischen Achse auf der anderen Seite. Neben der Aktualisierung dieser originären Betrachtungsrichtung der Philosophischen Anthropologie, bringt Krüger Plessners Denken auf den Stand der Zeit, indem er sowohl mit zeitgenössischen anthropologischen Ansätzen in Dialog tritt, als auch den Vergleich mit klassischen paradigmatischen Alternativen zur Philosophischen Anthropologie antritt. Auf diese Weise trägt Krüger dazu bei, die transdisziplinäre Reichweite und ursprüngliche Tiefe Plessners Lehre vom Menschen zu entbergen. Unter dem Begriff des homo absconditus setzt Krügers kritische Erneuerung der Philosophischen Anthropologie zu nichts Geringerem an als einem neuen Verständnis des Menschen in Natur, Kultur und Geschichte.
Mit seinem Sammelband „Homo Absconditus“ legt Hans-Peter Krügers eine tiefschürfende Diskussion Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie vor, die nach dem aktuellen Stand der Forschung sowohl im Umfang als auch in ihrer Ambition seines gleichen sucht. Zweifelsohne leistet er dadurch einen bedeutsamen Beitrag zur sogenannten ‚Rezeptionsrenaissance‘ der Philosophischen Anthropologie, indem er zahlreiche Wegmarken vorzeichnet, die wohl noch die künftige Forscher- und Forscherinnengeneration beschäftigen wird.
Zusammenfassung
Kaum ein wissenschaftliches Feld ist von unterschiedlicheren, einander teilweise widersprechenden Bestimmungen seines Hauptgegenstandes durchfurcht wie die Lehre vom Menschen. Ist der Mensch das vernünftige Lebewesen? Ist er das Ebenbild Gottes? Ist er ein durch Wissenschaft und Technik größenwahnsinnig gewordener Raubaffe? Im vergangenen Jahrhundert entwarf Helmuth Plessner eine alternative Wesensbestimmung des Menschen, die seine Philosophische Anthropologie gleichsam dazu in die Lage versetzte, die mannigfaltigen konkurrierenden Lehren vom Menschen auf ihr Recht und ihre Tragweite hin zu untersuchen und zu beurteilen: Der Mensch als homo absconditus, d.h. der verborgene Mensch. Die Idee ist dabei, dass die Lehre vom Menschen nur dann die vielfältigen Möglichkeiten seines Anders-sein-Könnens wahren kann, wenn sie ihn vor seinem Geschichts- und Möglichkeitshorizont als unergründlich setzt. Hans-Peter Krüger greift diese Figur auf und stellt sie in das Zentrum seiner kritischen Weiterentwicklung Plessners Philosophischer Anthropologie. Hierzu führt Krüger im Wesentlichen vier Arbeitsschritte durch, denen die jeweiligen Buchteile entsprechen und die sich anhand der vertikalen und horizontalen Achsen der Betrachtungsrichtung der Philosophischen Anthropologie strukturieren lassen: 1) Die vertikale Achse der Naturphilosophie untersucht die quasi-transzendentale Struktur der menschlichen Lebensform: die exzentrische Positionalitätsform. 2) Die statisch-horizontale Achse der Sozial- und Kulturphilosophie befasst sich mit dem Menschen als Doppelgänger im personalen Rollenverhalten der Mitwelt. 3) Die dynamisch-horizontale Achse der Geschichtsphilosophie beschäftigt sich mit der Herleitung des Unergründlichkeitsprinzips für die Wesensbestimmung des Menschen als homo absconditus. 4) Der achsenübergreifende Vergleich der Philosophischen Anthropologie mit verschiedenen philosophischen Denkansätzen illustriert Anschluss- und Kritikmöglichkeiten der Philosophischen Anthropologie im historischen und gegenwärtigen diskursiven Feld. Vermöge dieser vier Schritte zeigt Krüger auf systematische Weise, dass der Verzicht auf eine konstitutive Wesensbestimmung des Menschen schöpferisch ist, insofern die Philosophische Anthropologie sich gerade an der Unergründlichkeit des Menschen produktiv entzündet: Homo absconditus – ein Aufbruch zum Menschen.
Literatur
Fischer, J. (2008). Philosophische Anthropologie: Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Alber: Freiburg, München.
Foucault, M. (1971). Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Habermas, J., Demmerling, C., & Krüger, H. (2016). Kommunikative Vernunft. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 64(5), 806–827.
Plessner, H. (1928). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3. Auflage 1975. de Gruyter: Berlin, New York.
Plessner, H. (1931): Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. In Gesammelte Schriften, 5, 2 Auflage 2015. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Plessner, H. (1953). Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege. In Gesammelte Schriften, 9, 2. Auflage 2015. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Plessner, H. (1956). Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie. In Gesammelte Schriften, 8, 3. Auflage 2017. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Rezension von
Hannes Wendler
M.A. (Philosophie), B.Sc. (Psychologie)
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Es gibt 5 Rezensionen von Hannes Wendler.
Zitiervorschlag
Hannes Wendler. Rezension vom 01.09.2021 zu:
Hans-Peter Krüger: Homo Absconditus. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Vergleich. Walter de Gruyter
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-11-066142-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27810.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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