María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie
Rezensiert von Bora Tan, 01.07.2022

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung.
UTB
(Stuttgart) 2020.
3. aktual. Auflage.
384 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5362-2.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 32,50 sFr.
Reihe: UTB - 5362.
Thema
Die dritte Auflage des Buches „Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung“ thematisiert die aktuellen Diskussionen innerhalb postkolonialer Theorie und stellt in diesem Zusammenhang die drei bedeutendsten ProtagonistInnen – Edward W. Said, Gayatri C. Spivak und Homi Bhabha sowie ihre wichtigsten Konzepte – »Orientalism«, »Subalterne« und »Hybridität« vor. Darüber hinaus setzt es sich mit den grundsätzlichen Begrifflichkeiten im Rahmen von Postkolonialität wie etwa »Kolonialismus«, »Imperialimus« und »Postkolonialismus« auseinander.
Autorinnen
María do Mar Castro Varela hat aktuell eine Gastprofessur am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien inne und ist Professorin für Soziale Arbeit und Allgemeine Pädagogik an der Alice Salomon Hochschule in Berlin.
Nikita Dhawan ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden.
Entstehungshintergrund
Entgegen der Auffassung, dass Deutschland nie eine große Kolonialmacht gewesen sei und postkoloniale Theorie daher im deutschsprachigen Kontext keine Bedeutung hätte, konstatieren Castro Varela und Dhawan, dass die postkoloniale Theorie in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Studien im bundesdeutschen Kontext rahmte und inspirierte. Die Autorinnen zeigen auf, dass Kolonialismus nicht als ein Relikt aus der Vergangenheit und damit als überwunden gedacht werden darf. Vielmehr wirkt die Logik des Kolonialismus ungebrochen fort und prägt auch aktuell die politische, ökonomische und soziokulturelle Verfasstheit Europas in erheblichem Maße.
Aufbau
Das Buch ist in drei wesentliche Abschnitte gegliedert.
Erster Teil
Dieser besteht aus einer Einführung in die Begrifflichkeiten »Kolonialismus«, »Imperialismus« und »Postkolonialismus«. Hier werden neben der Entstehung von »Rassetheorien«, welche als Legitimationsgrundlage zur Versklavung von Menschen außerhalb Europas entworfen wurden, auch unterschiedliche Kolonisationsformen skizziert. In diesem Teil wird das Phänomen »Kolonialismus« in seinen unterschiedlichen Verwobenheiten beleuchtet. Dabei wird Kolonialismus „als Rettungsmission“, – „als Akt der Selbstverteidigung“, – „als Begleiterscheinung des Kapitalismus“ aber auch im Zusammenspiel mit »dem« Christentum und in seiner Verflechtung mit Nazismus betrachtet. Auch die Tatsache, dass die Logik des Kolonialismus bis heute an Wirkmächtigkeit nichts eingebüßt hat und die daraus resultierenden aktuellen globalen Ungleichverteilungen von materiellen und immateriellen Gütern, wird in diesem Teil thematisiert.
Zweiter Teil
An dieser Stelle werden die wichtigsten Personen und Werke im Rahmen postkolonialer Theorie vorgestellt. Beginnend mit Edward W. Said und seinem Werk Orientalism, welches 1978 erschien und auch als Gründungsdokument postkolonialer Studien bezeichnet wird. Die Autorinnen beschreiben wie es Edward W. Said in seinem Werk gelingt »den« Orient als ein Konstrukt westlich hegemonialer Diskurse zu entlarven, wobei »dem« Orient scheinbar konstitutive negative Merkmale zugeschrieben werden, die ihn als Gegenbild zum Westen konstruieren. Die Autorinnen konstatieren aber auch, dass Edward W. Said unter anderem dafür kritisiert werde, dass er mit einem totalisierenden Interpretationsrahmen changiere und daher nicht erklären könne wie und warum Orientalismus entstanden sei.
Als Nächstes stellen die Autorinnen Gayatri C. Spivak und ihr Werk Can the Subaltern speak? aus dem Jahr 1988 vor, welches als ein weiteres Gründungsdokument postkolonialer Studien bezeichnet wird. Dabei veranschaulichen die Autorinnen wie Spivak in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie Marx´ aufzeigt, dass die »dritte Welt« sowohl den Reichtum als auch die Möglichkeiten der kulturellen Selbstrepräsentation des globalen Nordens produziert. In diesem Kontext wird auch die Ausführung Spivaks, dass das Wachstum der Exportproduktion im globalen Süden ein wesentlicher Grund für den Anstieg der Migration von der »dritten Welt« in die »erste Welt« darstelle, aufgegriffen, womit ein Zusammenhang zu den hochaktuellen weltweiten Migrationsbewegungen hergestellt wird. Castro Varela und Dhawan verweisen darauf, dass Spivak die Frage Can the Subaltern speak? zwar selbst damit beantwortet, dass die Subalternen nicht sprechen können, doch machen die Autorinnen zeitgleich auf den verkürzenden Charakter dieser Antwort aufmerksam. Auch den kritischen Perspektiven gegenüber Spivak geben die Autorinnen Raum. Dabei führen sie an, dass Spivak immer wieder dafür kritisiert wird zu unverständlich zu schreiben und dass ihre KritikerInnen im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten eine einfachere Sprache fordern. Darüber hinaus zeigen die Autorinnen auf, dass Spivak für ihre ambivalente Argumentation kritisiert wird. Während sie an einer Stelle ausführt, dass Subalterne nicht sprechen können, konstatiert sie an anderer Stelle, dass wenn Subalterne sprechen, diese dadurch keine Subalternen mehr seien.
Als Nächstes stellen die Autorinnen Homi Bhabha und seine Idee von Mimikry, Hybridität und dritter Räume vor, welche als ein weiteres elementares Dokument postkolonialer Studien zu bezeichnen ist. Bhabha gilt als Impulsgeber für politische Auseinandersetzungen zu Fragen von Rassismus, Kolonialismus und Migration. Castro Varela und Dhawan zeichnen in diesem Teil nach wie Bhabha Ambivalenzen als ein konstitutives Merkmal kolonialer Verhältnisse aufzeigt. Das ermöglicht Kolonisierten Widerstandsformen gegen die Macht von KolonisatorInnen zu entwickeln, womit er entgegen Edward W. Said formuliert, dass die Autorität der kolonialen Macht niemals ausschließlich im Besitz der KolonisatorInnen war. Damit löst Bhabha das Verhältnis binärer Oppositionen und öffnet den Raum für Verhandlungen und Widerstand. Bhabha konstatiert, dass kolonisierte Subjekte trotz ihrer Unterwerfung über Handlungsmacht verfügen und führt indes Mimikry und Hybridität als Formen einer Gegenkraft hegemonialer Macht ein. Die Autorinnen beschreiben, dass vor allem Homi Bhabhas Interpretationen Fanons, auf welchen sich Bhabhas theoretische Ausführungen größtenteils beziehen, kritisiert werden. Bhabha wird von seinen KritikerInnen vorgeworfen sich Fanons Ideen einzueignen, damit sie seinem eigenen erkenntnistheoretischen und methodologischen Programm entsprechen.
Dritter Teil
In diesem Teil findet eine abschließende kritische Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie und ihrer Kritik selbst statt. Darin konstatieren die Autorinnen, dass dem Präfix post das Moment inhärent ist unterschiedliche menschliche Erzählungen zu einer Erfahrung kolonialer Begegnung zu reduzieren, obwohl sich der Begriff »postkolonial« grundsätzlich exakten Markierungen widersetzt. Damit geht aber auch einher, dass es schwierig ist zu beschreiben, was Postkolonialismus als Theorierichtung eigentlich ausmacht. Postkoloniale Theorie wird laut Castro Varela und Dhawan vor allem dafür kritisiert weder eine revolutionäre Methode zu sein noch ein neues Untersuchungsfeld eröffnet zu haben. Darüber hinaus argumentiert Aijaz Ahmad an postkolonialer Theorie, dass sie durch ihre Verortung im Westen nicht mehr sei als eine Fortschreibung vorherrschender Dominanzverhältnisse. In diesem Zusammenhang konstatierten die Autorinnen aber auch, dass sich Aijaz Ahmad selbst des westliches Marxismus´ als seinen theoretischen Referenzpunkt bedient, welchen er im Rahmen seiner Kritik an postkolonialer Theorie dethematisiert.
Diskussion
María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan unterziehen postkoloniale Theorie einer Betrachtungsweise aus unterschiedlichen Perspektiven ohne den Anspruch zu erheben einen klar konturierten Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich Postkolonialismus verorten lässt. Sie verbleiben damit ganz in der Logik der Theorie, die sie beschreiben.
Die Autorinnen werden besonders im ersten Teil ihres Buches der Forderung Edward W. Saids gerecht allgemeinverständlich zu formulieren und schaffen es den monologischen Charakter akademischen Sprechens zu konterkarieren, wodurch ein leichterer Zugang zu Begrifflichkeiten wie »Postkolonialismus«, »Imperialismus« oder »Rassismus« geschaffen wird ohne dabei in simplifizierende Erklärungsmuster zu verfallen. Im weiteren Verlauf ihres Buches schimmern aber auch gleichsam Spuren einer Bhabha´schen Schreibart durch, welche teilweise als dicht und labyrinthartig charakterisiert wird. Hierin fordern sie ein aufmerksames Lesen heraus, welches es braucht, um postkoloniale Theorie in einer ganzheitlicheren Betrachtung erfassen zu können.
Castro Varela und Dhawan gelingt es den Bezug zu aktuellen Diskursen wie etwa Migration – sowie dem Verhältnis des globalen Nordens und des globalen Südens und der damit einhergehenden internationalen Arbeitsteilung herzustellen. Im Wesentlichen scheint der Anspruch des Buches damit weniger darin zu liegen Postkolonialismus inhaltlich zu fixieren, sondern eher darin die Aktualität postkolonialer Theorie sowie den Einfluss kolonialer Deutungsmuster auf gesellschaftliche Positionen und Entwicklungen aufzuzeigen.
Fazit
Das vorliegende Buch thematisiert Postkolonialismus nicht als einen geschichtlichen Prozess, vielmehr wird über eine kritische Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie ein hochaktueller Bezug hergestellt. Damit vermitteln die Autorinnen nicht nur einen Einblick in die bedeutendsten Inhalte postkolonialer Theorie, sondern zeigen auf, dass Erklärungsmuster für gesellschaftliche Phänomene wie etwa Migration, welchen koloniale Wissensregime zugrunde liegen, bis heute an Wirkmächtigkeit nichts verloren haben.
Damit werden LeserInnen nicht nur dazu angehalten gesamtgesellschaftliche Prozesse und Normalitäten wie etwa die internationale Arbeitsteilung zwischen der »dritten Welt« und der »ersten Welt« aus einer machtkritischen Perspektive zu reflektieren, sondern ebenso ihre eigene Position innerhalb dieser Matrix zu hinterfragen.
Das Buch ist sehr empfehlenswert, weil es LeserInnen dazu anregt zu reflektieren wie auf kolonialen Wissensregimen beruhende Konstruktionen von Menschen(-gruppen) unser Denken über eben diese prägen und machthierarchische Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft hervorbringen und festigen.
Damit hat das vorliegende Werk einen besonderen Wert für bildungs- und erziehungswissenschaftlich relevante Kontexte ohne ausschließlich auf diese Bereiche reduzierbar zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es als obligatorische Lektüre für LehrerInnen und Fachkräfte im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung sowie Personen, welche sich in rassismuskritischen Kontexten bewegen, sehr zu empfehlen.
Rezension von
Bora Tan
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