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Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 14.05.2021

Cover Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder ISBN 978-3-8379-3053-5

Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2021. 320 Seiten. ISBN 978-3-8379-3053-5. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: Sachbuch Psychosozial.

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Thema

Über fünf Jahrzehnte wurden ab den 1950er Jahren in Westdeutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder, meist im Alter von zwei bis zehn Jahren ohne Eltern zur „Erholung“ verschickt, in den Schwarzwald, in die Berge oder an die See. Während der Kuraufenthalte sollten die Kinder „aufgepäppelt“ werden, die Maßnahmen wurden von den Krankenkassen finanziert. Tatsächlich waren viele Kinder in diesen Kinderkurheimen Willkür, Demütigung, Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt, die Betroffenen leiden zum Teil noch heute an den Folgen der erlittenen Traumata. Anja Röhl hat das Thema der Verschickungskinder 2009 in der Öffentlichkeit publik gemacht. Als Betroffene publizierte sie zunächst einen kurzen Bericht, das Echo darauf war so umfangreich und eindeutig, dass sie mit anderen ehemaligen Verschickungskindern die Initiative Verschickungskinder (www.verschickungsheime.de) gegründet hat, die auf eine systematische Aufarbeitung des Themas zielt. Zu Röhls „Das Elend der Verschickungskinder“ liegt bereits eine Rezension bei socialnet von Peter-Ulrich Wendt vor (https://www.socialnet.de/rezensionen/28163.php). Er resümiert, dass es „Zeit [wird] sich auch der Verschickungskinder anzunehmen. Mit der Aufarbeitung dieses Themas ‚wird auch immer verbunden sein, sich für eine humanistische, einfühlsame Erziehung einzusetzen, in der eine strafende Pädagogik keine Chance mehr hat‘. Dazu leistet dieses sehr empfehlenswerte … Buch einen wichtigen Beitrag!“.

Für die vorliegende Rezension wählt der Verfasser ein von den üblichen Rezensionen abweichendes Format: die Darstellung der Inhalte (Aufbau und Inhalt) bleiben -mit Verweis auf Wendts Würdigung- knapp gehalten. Stattdessen nimmt der Betroffenenbericht des Verfassers breiten Raum ein, der selbst zweimal, mit neun bzw. zehn Jahren „an die See“, bzw. „in den Schwarzwald“ verschickt wurde. Ein zwar individueller Zugang zu diesem Buch, der aber exemplarisch für viele Kuraufenthalte sein dürfte und problemlos anknüpft an den Inhalten Röhls Publikation, den dort dargestellten Strukturen und Handlungsweisen.

Autorin

Anja Röhl (Sonderpädagogin) gründete nach einem ersten eigenen Bericht 2019 die Initiative Verschickungskinder und widmet sich seitdem der Aufarbeitung dieses Themas. Daneben liegen ihre Arbeitsschwerpunkte in den Bereichen Frühpädagogik, institutionelle Gewalt und transgenerationale Weitergabe von NS-Erziehung (Verlagsinformation).

Aufbau und Inhalt

Der Band ist neben einer Vorbemerkung (Das Verdrängte kehrt zurück), dem Literaturverzeichnis und einer Danksagung in die Kapitel

  • Verschickungskinder finden sich
  • Ein Blick in die Literatur
  • Verschickung – Begriff und Geschichte
  • Kindererholungsheime
  • Empirische Befunde
  • Ursachensuche
  • Schlussbemerkung

unterteilt. Die Kapitel beschreiben die sehr übersichtliche Geschichte der Aufarbeitung der Verschickungspädagogik, welche u.a. die Aufarbeitung und vor allem Anerkennung des Leids (das die Kinder damals erfahren haben) ermöglichen soll und die theoretischen Grundlagen der medizinischen Pädagogik und pädiatrischen Fachliteratur. Im Abschnitt zur Klärung der begrifflichen und historischen Hintergründe beschreibt Anja Röhl den geschichtlichen Hintergrund und das Geschäftsmodell der medizinischen Dienstleistung der Verschickung in den fast 300 Einrichtungen mit knapp 60.000 Plätzen, in denen zwischen den 1950er bis weit in die 1990er Jahre acht bis zwölf Millionen Kinder sog. Kuraufenthalte (Röhl spricht von „dark holidays“) verbrachten. Des Weiteren finden sich ausführliche Angaben zu einzelnen Heimeinrichtungen, vorwiegend an der Nordsee und in den Bayerischen Alpen, sowie erste empirische Befunde, die einen ersten Zugang zur Praxis in den genannten Einrichtungen bieten. Der Abschnitt „Ursachensuche“ dient einer vorläufigen Einordnung der erhobenen Erziehungspraxis die stark von Willkür, Demütigung, Gewalt und Missbrauch geprägt war. Einer der Erklärungsstränge zeichnet den Ursprung der NS-Volkswohlfahrt nach, v.a. die dort tätigen NS-Schwesternschaft und eine als „schwarze Pädagogik“ klassifizierte „erzieherische Praxis“. In der Schlussbemerkung propagiert Röhl eine empathische Pädagogik, die sie im vorliegenden Fall an einer breiten Aufarbeitung der Thematik -auch durch die beteiligten Verantwortlichen- festmacht.

Zielgruppe des Buches

Alle Berufsgruppen, die sich mit der Geschichte der Kinderkurheime beschäftigen wollen, Betroffene und deren Eltern, die von der Kinderverschickung betroffen sind bzw. waren.

Persönlicher Einblick: Ein Kind – Der Rezensent als Verschickungskind

1969 – Das schmächtige Kind wird früh morgens, es ist Oktober und ein eisiger Wind weht durch den Vorort, von der Mutter zum Bahnhof gefahren. Kein großes Gepäck, die Wäsche wurde bereits Wochen vorher verschickt, die Kleidung sorgfältig mit Namensschildern versehen. Die Mutter -fast-wie immer, liebevoll, präsent, sicher. Nur ihre Augen glänzen. Auch die des Jungen. „Es geht jetzt los“. Allein, ohne die Familie, für sechs Wochen, an die See, wo noch kein Familienurlaub hingeführt hat. „Du bist der Erste…“. Die sorgenvolle Stimme der Großmutter: „Weißt du noch wo die Nazis die Kinder hingeschickt haben und sie kamen nicht zurück?“. Die Fragen der Geschwister, wohin, warum, wie lange? Das Reiseabteil stickig, zwei „Reisetanten“ welche die Gruppe von zehn Kindern begleiten, die endlos lange Fahrt, über Göttingen, Hamburg und schließlich an die Küste. Die Fähre, das kolossale Meer. „Mutter, das musst du sehen. Es ist so groß, es hört nicht auf!“ Die Ankunft im Kinderheim auf der Insel, spät abends. Essen, Aushändigung der Habe, Einsammeln der Wertgegenstände, Aufteilung der Zimmer, Waschen, Schlafen. Fünf in einem Zimmer. Fünf.

Der erste Tag, die medizinische Untersuchung, ausziehen, messen, wiegen, begutachten. „Zu dünn. Nervös. Einen Tick hat es auch…“ Dann Freispiel. Ein Raum so groß wie das Klassenzimmer. Holzspielzeug, Puppen, Autos. „Nein, Jungs spielen nicht mit Puppen!“ Nimm das hier. 

Gelächter. Der Junge weint nicht, auch wenn er möchte. Die ersten Tage am Strand, es stürmt, Treibgut, Meeresgeruch, Geländespiele. Mittags immer zurück. Die verhasste Mittagspause. Zweieinhalb Stunden Mittagsschlaf, die Schlafwache, die eigens nur dazu zum Dienst kommt, böse, keifend, wer nicht schläft bekommt Schläge. Das Gesicht zur Wand! Wer sich umdreht… Der Junge schläft nie. Liegt ruhig. Träumt sich weg. Zweimal, dreimal die volle Hose, ausziehen, vor der Gruppe. 

Gelächter. Einmal kommt die Heimleitung dazu und rettet alles: „Das kann jedem passieren und ist schon jedem passiert! Das ist nicht schlimm. Der Junge kann sich auch im Bad ausziehen. Kommen Sie nachher ins Büro, das geht so nicht.“ Die Erzieherin danach noch distanzierter, aber keine Demütigungen mehr. Das Essen, viermal am Tag. Ungewohnte Gerichte. Fleisch. Fisch. Berge von Kartoffeln. Süßspeisen. Abends zusätzlich Schmalzbrote. „Ihr sollt zunehmen, das soll man sehen“. Das Kind nimmt nicht zu und will nicht essen. Wie zu Hause. Aufessen! Der Teller mit kalten Resten. Das Kind erbricht auf den Teller. Die Erzieherin, laut, mächtig: „Das wirst du…“ Wieder die Heimleiterin, im rechten Augenblick, rettet. Alles. Die Tage ziehen sich. Briefschreibestunde an die Eltern. Postaushändigung. Die Briefe geöffnet. Das Kind schreibt: „Mama, hier ist alles toll. Ich habe Haifisch gegessen. Die wachsen hier. Ich habe überhaupt kein Heimweh.“ Das e und das h sind verschmiert, Tränen. Die Tage, erst zwei Wochen. Zu Hause Geburtstagsfeiern, ein Onkel stirbt, die Klasslehrerin hat sich erkundigt. Die Nächte. Der Schlaf der nicht kommen will, die Gerüche fremd, der andauernde Wind. Der Junge aus dem Nachbarbett, mit erigiertem Penis vor dem Bett des Kindes. „Mach mal, lecken, los!“. Das Kind schreit, das Licht geht an, die Nachtwache. 

„Was ist hier los, was soll das, was für eine Sauerei“. Schläge für den anderen Jungen, der immer noch nackt dasteht, für das Kind, das nichts versteht. Nichts.

Briefschreibestunde. „Mama, es ist toll und schön und ich hab dich lieb. Ich hoffe du vermisst mich nicht. Zu sehr.“

Am Ende der dritten Woche medizinische Untersuchung. Ausziehen, wiegen, messen, untersuchen. Das Kind hat abgenommen. Fieber. Immer wieder. Wie zu Hause. „So wird das nichts. Heimschicken oder länger dalassen. Der hat ja immer noch den Tick. Soll Einzelförderung kriegen. Was denken die sich nur?“

Die nächsten Wochen immer wieder Fieber, dazwischen mit den anderen Kindern raus, an den Strand. Herbststürme. Eine Fahrt ins Museum. Der Eingang des Gebäudes ein Portal aus Walknochen, riesig. Das Kind träumt, vom Meer, von Walen, Stürmen. Fieberträume. Das Kind liegt allein im Bett, tagsüber, während die anderen draußen sind. Fußball ist das Thema und das Kind froh, nicht mitmachen zu müssen. Fußball geht gar nicht. Dafür kommt die Heimleiterin. Sitzt am Bett. Erzählt Geschichten. Liest vor. Riecht gut. Sie kommt nicht oft und bleibt nur kurz. Hat zu tun.

In der sechsten Woche. Abschlussuntersuchung. Ausziehen, messen, wiegen. „Der wiegt so wenig wie vor sechs Wochen. Schade um das Geld.“ Verpacken der Habe. Heimreise. Ankommen, die Mutter, das Haus ganz fremd. Fragende Blicke. Der Junge schweigt.

25 Jahre später eine Urlaubsreise ans Meer, Föhr. Nieblum. 

Erinnerungen kommen hoch. Die Suche nach dem Kinderheim. Eine Suche im örtlichen Telefonbuch. Kinderheim G., tatsächlich findet sich ein Name, ein Anruf. Zögerliche Vorsicht der alten Dame am Apparat. „Was wollen Sie, warum rufen Sie an?“. Erinnerungen und vor allem Erinnerungslücken. Die alte Dame berichtet ihre Schwester, die Heimleiterin sei vor Jahren verstorben, das Heim verkauft, jetzt ein Gourmetrestaurant „Unter den Kastanien“ mit Hotelbetrieb. Das Anwesen dann gefunden. Es ist viel kleiner, als es in der Erinnerung war. Viel kleiner.

Knapp 50 Jahre später: Da ist diese Erfahrung zweier Kinderkuren, die einerseits gut waren, andererseits Belastung darstellten. Übergriffe, Beschämung, Einsamkeit, Gewalt. Das Kind, das damals alles verschwiegen hat. „Mama, es ist alles toll und schön!“. Die Mutter, die das immer so glauben wollte. Das Kind, das meist nicht mehr daran gedacht hat, aber trotzdem die Briefe von damals aufgehoben hat und bei jedem Umzug gelesen hat und immer wusste um die Ungerechtigkeit, die Abwertung und Demütigungen – dass es solche waren. Das Wissen heute, dass da weiter Lücken sind in der Erinnerung, da war dieser große Junge, nachts… Da war diese Schlafwache, die mir den Arm auf den Rücken drehte, bis es knackte. Zweimal den Teller aufgegessen, obwohl nichts mehr reinpasste. Oder fünfmal? Öfter? Aber auch die Einschätzung, dass etwas „wirklich schlimmes“ nicht passiert ist. Und die Erkenntnis: kein Einzelschicksal.

Diskussion

Das „Schicksal der Verschickungskinder“ betrifft tausende, möglicher Weise hunderttausende. Millionen Kinder waren zwischen 1950 und dem Ende der 1990er Jahre zu Kinderkurmaßnahmen verschickt worden, bislang liegen Erkenntnisse zu einigen tausend Fällen vor, die Anja Röhl zusammen mit dem Nexus-Institut/​Berlin erhoben hat. Dabei geht es zunächst um die Anerkennung und Aufarbeitung des erlittenen Leids und weiterführend um die dunkle Geschichte der Kinderkurkliniken, deren Einbettung in das Gesundheitssystem, die Bedeutung der historischen Wurzeln in der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik und damit einmal mehr um die Frage von Kontinuität und Bezugnahme auf menschenverachtende Konzepte, pädagogische Praxis (die als Schwarze Pädagogik angemessen bezeichnet ist) und neben ihrer direkten Wirkung auf die Betroffenen eben auch Teil des Gesundheitssystems der BRD war. Aufarbeitung heißt in diesem Zusammenhang Bewältigung für die damaligen Kinder und deren Familien und fachliche Bewältigung der -damaligen- Strukturen und Handlungspraxen.

Der vorläufige Höhepunkt dieser Aufarbeitung ist die „Sylter Erklärung der Verschickungskinder“ vom November 2019, die Betroffene im Rahmen einer Tagung verabschiedet hatten und u.a. die sorgfältige Erforschung der Geschehnisse in den Heimen, das Ausmaß der Vorfälle, die kollektive Verarbeitung und den Aufbau einer Anlaufstelle für Betroffene fordert (https://verschickungsheime.de/erklaerung-der-verschickungskinder/ [19.04.2021]).

Der Rezensent (Jg. 1963) ist selbst ein ehemaliges Verschickungskind. Die Lektüre des Buches hat die längst begonnene Auseinandersetzung und Aufarbeitung des Erlebten erneut befördert und vertieft. Manche Fragen sind weiter unbeantwortet, Erinnerungen seltsam verblasst und wenig zugänglich. Im eigenen Familiensystem ist das Thema gelegentlich präsent, oft in Form seltsam anmutender Anekdoten und es gibt noch einzelne Briefe des damaligen Verschickungskindes. Nichts ist da zu lesen von Widrigkeiten, Ungerechtigkeiten oder Übergriffen. „Alles ist schön hier“, das Motto hat geholfen die Situation zu verkraften. Was bleibt ist die Sensibilität für Ungerechtigkeit, Demütigung und Gewalt, die das Kind mitgenommen hat in seiner weiteren Entwicklung. 

Neben der individuellen Bewältigung geht es aber in einem größeren Rahmen um die gesellschaftliche Aufarbeitung, darum „die Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt zu erhöhen“ (https://verschickungskinder.de/) und Kinder aktiv zu schützen, jetzt und in Zukunft.

Fazit

Ein wichtiges Buch das neben der individuellen Bewältigung erfahrenen Leids zur Aufarbeitung sozial- und gesundheitspolitischer Maßnahmen beiträgt. Aufrüttelnd, schonungslos, notwendig. Ein wichtiger erster Beitrag zur Aufarbeitung des Schicksals der Verschickungskinder.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245