Magnus Brechtken: Der Wert der Geschichte
Rezensiert von Peter Flick, 06.01.2021
Magnus Brechtken: Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart. Siedler Verlag (München) 2020. 304 Seiten. ISBN 978-3-8275-0130-1.
Thema
Was macht den „Wert der Geschichte“ aus? Was kann man aus ihr lernen? Brechtkens Antwort lautet: Der Mensch kann als vernunftbegabtes und rational handelndes Wesen, wenn überhaupt, nur aus der der Geschichte lernen. Etwas anderes als die historische Erfahrung steht ihm nicht zur Verfügung.
Dabei ist er nicht gezwungen, die Fehler und Irrtümer der Vergangenheit ständig aufs Neue zu wiederholen. Brechtkens Buch beleuchtet anhand ausgewählter Lebensbereiche der Gesellschaft den kollektiven Lernprozess der letzten drei Jahrhunderte in Europa. Er hat uns nach seiner Meinung nicht nur ungeahnte Wohlstandseffekte, sondern auch eine bisher nicht gekannte Liberalisierung der Lebensformen beschert. Gleichwohl seien diese demokratische Fortschritte immer von Regressionen bedroht. Auch heute, wo die Existenz einer offenen Gesellschaft von vielen als etwas Selbstverständlich angenommen werde.
Autor und Entstehungshintergrund
Magnus Brechtken ist stellvertretender Direktor am Münchner Institut für Zeitgeschichte. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Nationalsozialismus. Einer größeren Öffentlichkeit wurde Brechtken durch seine kritische Speer-Biographie bekannt. Durch eine gründliche Quellenarbeit hat sie die selbstgestrickten Legenden Speers zurechtgerückt (Speer hatte sich in der Nachkriegszeit durch eine erfolgreich vermarktete Autobiographie als „naiver“ Helfer des NS-Regimes inszeniert).
Das vorliegende Buch Brechtkens versteht sich nicht als Beitrag zur Selbstverständigung oder zum Diskurs über den Theorieanspruch von Geschichtswissenschaft. Es will vielmehr einem historisch interessierten Publikum eine „möglichst barrierefreie Zusammenschau“ (S. 12 f.) der in seinen Augen wichtigsten zivilisatorischen Fortschritte des europäischen Geschichte bieten.
Aufbau und Inhalt
„Mut zur Geschichte!“
Das ersten Kapitel vergleicht die Leistungen der naturwissenschaftlichen Forschung mit denen der Geistes – und Geschichtswissenschaften. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen den Behandlungsmethoden der mittelalterlichen „Chirurgie“ oder der moderne Medizintechnik zu entscheiden, würde wohl auch jeder Fortschrittsskeptiker letzterer den Vorzug geben. Das Vertrauen in zivilisatorische Lernfortschritte sei „in der harten Welt der Medizin und der Ingenieurwissenschaften für uns ganz selbstverständlich und alltäglich“ (S. 8). Das gelte mitnichten für das praktische Wissen der Geisteswissenschaften und die Welt des politischen Handelns. Woran liegt das? In der „Welt“ der Naturwissenschaften ist der Fortschritt auch im Alltagsbewusstsein greifbar und anschaulich: „Die Forschung in Physik und Medizin schreitet täglich voran.“ (S. 10). In der „weichen Welt“ des Rechts und der Moral dagegen würden „nicht wenige Prinzipien des Fortschritts, die das Fundamente unserer freiheitlichen Ordnung bilden, immer wieder in Frage gestellt werden.“ (S. 10). Das erklärt für Brechtken auch, warum heute so viele Menschen die Leistungen eines Rechts- und Sozialstaats nicht richtig wahrnehmen, obwohl „im weltweiten Vergleich die meisten Europäer seit vielen Jahrzehnten auf einer Insel der Freiheit und des Wohlstands“ (S. 10) lebten.
„Was ist der Mensch?“
Die Einsicht in die anthropologische Struktur des Menschen belehrt uns darüber, dass er „als einziges Wesen seine Instinkte kontrollieren, Werkzeuge nutzen und mittels Sprache kommunizieren“ kann (S. 15). Als kommunizierendes und interpretierendes Wesen entwickelte der Mensch im Verlauf der Geschichte verschiedenartige Muster der Lebensführung („Menschenbilder“), die ihm helfen, mit der Komplexität und Unüberschaubarkeit seiner Umwelt fertigt zu werden. In vormodernen Gesellschaften dominierten religiöse oder metaphysische Weltbilder. Erst in der Epoche der Aufklärung, die „Mitte des 17. Jahrhunderts“ beginnt und „mit dem 18. Jahrhundert“ (vgl. S. 20) endet, entwickele sich ein neues Vertrauen in das Vernunftvermögen des Menschen. Erst die Ideen des Aufklärungszeitalter hätten die Menschen von hemmenden „Vorstellungen einer alles bestimmenden > göttlichen Ordnung<“ (S. 20) befreit. Denn bis in die Frühe Neuzeit wurden die beunruhigenden Ereignisse des menschlichen Lebens in ein mythisch oder religiös imprägniertes Weltbild eingeordnet. Religion verfestige so ein Gefühl der Ohnmacht, das leicht zu manipulieren sei. Erst die Idee der Autonomie, die sich in Kants Appell „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (vgl. S. 20) zusammenfassen lasse, schaffe die Grundlagen für ein neues Menschenbild mit der Vorstellung einer „vernünftigen Freiheit“.
„Göttergeschichten: Religion“
Dagegen würden „Mythen und Religionen“ die Lebensführung der Menschen von dem Glauben an die Existenz heteronomer Mächte abhängig machen: Der Polytheismus, indem er sein Regelwerk von „Göttergeschichten“ her legitimiert und so zu einer kultischen Praxis anleitet, der Monotheismus, indem er die Geschichten des „Einen Gottes“ erzählt, der sich in den Worten seiner Propheten offenbart und die Einhaltung von religiösen Praktiken fordert. Sie alle unterwerfen den Einzelnen Regeln, die von „außerweltlicher Instanzen“ vorgeschrieben werden. Dabei seien es doch zweifelsfrei die Menschen selbst, die sich „ihre Götter erschaffen“ und „Religionen nach ihren Bedürfnissen konstruieren“ (S. 34). Religionen helfen ihnen, das „Gefühl von Ohnmacht, Unverständnis und Schicksalhaftigkeit des Lebens zu kompensieren – gegenüber den Naturgewalten wie irdischen Mächten gleichermaßen.“ (S. 34). Vor diesem Hintergrund kritisiert Brechtken die in fortbestehenden „machtpolitische Funktion“ (S. 39) der Religionen. Mit Hilfe ihrer „Glaubenssysteme“ würden sie „das individuelle Sprechen und Denken überlagern“ (S. 37). Auch das viel beschworene „jüdisch-christliche Erbe“ bilde da keine Ausnahme, weil dort die „Vorstellung eines Gottes“ vertreten wird, „der sich direkt zu den Menschen verhält und von ihnen Gehorsam erwartet“ (S. 37). Der missionarische Drang zur Unterwerfung der „Vielfalt der Göttervorstellungen“ unter die „Idee des einen Gottes“ machte das historische Christentum als Staatsreligion „für politische Herrscher höchst attraktiv“ (S. 38). Auch in der Gegenwart sieht der Autor einen eher unheilvollen Einfluss der großen Religionsgemeinschaften auf den formell neutralen Staat (vgl. S. 46 ff.). Deshalb wendet sich Brechtken entschieden gegen das bekannte „Diktum“ des konservativ – liberalen Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckernförde. Dieser meinte, dass die religiöse Neutralität des „freiheitlichen, säkularisierten Staates“ von „Voraussetzungen“ lebt, „die er selbst nicht garantieren“ (Böckernförde) könne. Brechtken ist überzeugt, dass es auch bei nachlassender Bindungskraft der Religion und ohne eine „tragende, homogenitätsverbürgende Kraft der Gesellschaft“ (Böckernförde) möglich sei, den Ordnungsrahmen eines freiheitlichen Staates zu legitimieren – durch das Prinzip der „Humanität aus rationaler Freiheit“ (S. 52). Dafür brauche es weder eine Absicherung durch eine „außer- oder übermenschliche Autorität“ noch eines „verbindenden Ethos“ im Sinne Böckernfördes (S. 53).
„Das Bild der Frau: Geschlechterverhältnisse“
Wie an keinem anderen Kapitel der europäischen und deutschen Geschichte lässt sich anhand der Emanzipationsgeschichte der Frau anschaulich belegen, wie mühsam sich die Lernprozesse einer„egalitären Freiheit“ gestalten; aber auch welche Fortschritte trotz immer wieder zu verzeichnender Rückschläge und fortbestehender Defizite in den westlichen Gesellschaften erzielt werden konnten. Brechtken zeigt, wie neben einem religiösen Fundamentalismus auch im säkularen politischen Denken bis hinein in die Gegenwart das spezifische Rollenmuster einer vermeintlichen „natürlichen Geschlechterpolarität“ eine zentrale Rolle spielt. Sie markiert auch einen blinden Fleck im Denken der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der liberalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Selbst in der Französischen Revolution ging „das Momentum für eine stärkere Frauengleichberechtigung und ihre Teilhabe wieder verloren“ (S. 65). Im 19. Jahrhunderts wurde dann die gesellschaftliche Stellung der Frau „fast ausschließlich in Bezug auf auf die des (Ehe-) Mannes diskutiert.“ (S .65). Auch nach dem „Wandel durch den Ersten Weltkrieg“ (S. 72 ff.) und dem Rückschlägen in den Jahren des NS – Herrschaft (vgl. S. 76 ff.) bleibt die rechtliche und soziale Lage der Frauen in der neu entstandenen Bundesrepublik Deutschland in seinen Augen verbesserungswürdig. Eindrücklich sind die Darstellungen des Autors zur rechtlichen Situation der Frau, die bis in die 1970er Jahre hinein die Berufstätigkeit der Frau von der Zustimmung des Ehemanns abhängig machte (von der legalisierten Duldung sexueller Gewalt in der Ehe einmal ganz abgesehen). Was die Gegenwart angeht, hätten die Frauen „inzwischen selbstverständliche (politische, d. Verf.) Machtpositionen inne“, aber eine volle Parität, die dem realen Bevölkerungsanteil entspreche, sei „keineswegs erreicht.“ (S. 86).
„Die Stimme finden: Politik und Partizipation“
Eine säkulare politische Philosophie und die Theorien des Naturrechts bilden für Brechtken den Beginn eines folgenreichen Versuchs, die Macht absoluter Herrscher zu beschränken. In den demokratischen Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts erlangen die Ideen des Naturrechts praktische Wirksamkeit. Im Anschluss daran versucht Brechtken den „langen Weg“ zu einer „Mitbestimmung“ (S. 92 ff.) des Volkes bei politischen Entscheidungen nachzuzeichnen. Die unterschiedlichen historischen Entwicklungen in England, Frankreich und Deutschland und die daraus entstehende Vielfalt der der „Repräsentationsmodelle“ (S. 101), die zunächst dem Bürgertum ein Mitspracherecht ermöglichen sollten, hatten mit „Demokratie“ in unserem heutigen Verständnis nichts zu tun (S. 101 ff.). Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein blieb die demokratische Verfassung ein im „Kern bürgerliches Projekt“ (S. 99), das lange Zeit „wichtige Gruppen der Gesellschaft von der aktiven politischen Mitbestimmung“ (S. 106) ausschloss.Nach dem 1. Weltkrieg entstand mit der Weimarer Republik dann eine Verfassung, die „das allgemeine Wahlrecht“ und „universelle Menschenrechte“ durchsetzte (vgl.107 f.). Die „Lektion“ von Weimar besteht für Brechtken darin, dass es auch heute nicht genüge, sich auf das allgemeine Wahlrecht zu verlassen. Es brauche vielmehr eine aktive, wachsame Bürgerschaft, die sich auch zwischen den Wahlen artikuliert und Kompromisslösungen politischen „Erlösungsvisionen“ (vgl. S. 107 ff.) vorziehe.
„Wir und die anderen: Nationalismus“
In einem kurzen Durchgang durch die vergleichende Nationalismusforschung zeigt Brechtken, wie „Vorstellung der Nation“ als eine imaginierte „Gemeinschaft“ im ausgehehenden 18. Jahrhundert als Konstrukt einer philosophisch – intellektuellen Elite entstanden ist. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt sich der Nationalismus zu einer breiten soziale Bewegung, die eine ungeahnte Dynamik entfalten sollte. Brechtken geht kurz auf die Ursachen des Scheiterns der 1848er Revolution ein und die darauf folgende „Spätgeburt“ der deutschen Nation unter Bismarck, die den jungen Nationalstaat mit großen „inneren und äußeren Spannungen“ (S. 135) belastete und in der Folge zur „Selbstisolierung“ des Wilhelminischen Reiches und zum Anspruch einer kulturellen Überlegenheit der deutschen „Kultur“ gegenüber der westlichen „Zivilisation“ (S. 140) führte. Im Kapitel „Von der Nation zum Rassenkampf – Zwischen den Kriegen“ (S. 140 ff.) beschreibt der Autor die Erfahrungen der deutschen Kriegsgesellschaft und die durch den Krieg bewirkte Brutalisierung der Politik der „Zwischenkriegszeit“, die schließlich zu Vorstellungen eines „Rassenkampfes“ führte, mit dem der Nationalsozialismus seinen Hegemonialanspruch in Europa durchsetzen wollte. Nach dem Scheitern der imperialen Politik Hitlers mit dem Ziel einer „ethnischen Neuordnung Europas“ (S. 145), die Millionen von Menschen das Leben gekostet hatte, war auch in den Augen der Mehrheit der Deutschen „jede Idee eines ethnisch homogenisierten Machtstaates ein für alle Mal diskreditiert“ (S. 147 f.), auch wenn sich schon in der Gründungs- und Konsolidierungsphase der Bundesrepuplik nach 1945 ein vitaler konservativer Nationalismus neu formierte (sowohl auf der Linken wie auf der Rechten, wie Brechtken anmerkt; vgl. zu diesem Thema auch die interessante Arbeit von Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, Göttingen 2020). Die „Politik der europäischen Staaten nach 1945“ blieb zwar „weiterhin von >nationalen Interessen< motiviert“, der große Lernschritt bestand aber für Brechtken darin, dass es gelang, „den Nationalstaat vom Nationalismus und seinen Weltbildern zu trennen“ (S. 147). Der europäische Nationalstaat mit seinen Bindungen an das Nato – Bündnis als Friedensgarant und seiner Integration in die Europäische Staatengemeinschaft zur Sicherung des Wohlstands seien auch heute noch die Stützpfeiler eine entwicklungsfähigen, „historisch geübten, vom Nationalismus entflochtenen Ordnungsmodells“ (vgl. S. 151). Die wiederauflebende nationalistische Identitätssuche und der Aufstieg des Rechtspopulismus, der über die „Kosten Europas“ lamentiert, könnten hingegen nicht plausibel machen, welche Vorteile die Rückkehr zu „nationalstaatlichen Machtkonkurrenzen“ und die Zerstörung des „gemeinsamen Rechtsraums“ (S. 154) der EU angesichts des sich verschärfenden globalen Wettbewerbs bringen würde.
„Ordnung der Macht: Krieg und Frieden“
Vor dem Hintergrund einer knappen Skizze der verheerenden militärischen Konflikte in Mitteleuropa, vom Dreißigjährigen Krieg bis zum 2. Weltkrieg (vgl. S. 160 ff.), einer Darstellungen der kriegerische Konflikte im 19. Jahrhundert (S. 166 ff.) und des Ersten Weltkriegs (S. 174 ff.) beschreibt Brechtken das Ende des Zweiten Weltkriegs als eine entscheidende Zäsur der Staatengeschichte. Nicht nur durch „das Abrücken Europas aus seiner weltweiten Zentralstellung“ (S. 180), sondern durch den „atomare Patt“ der Siegermächte USA und Sowjetunion haben in Europa einen realpolitischen Lerneffekt bewirkt, die eine Politik der Grenzveränderungen als „selbstmörderisch“ (S. 187) ausschloss. Eine gewaltsame Revision der deutschen Ostgrenzen war auch in Westdeutschland deshalb im Unterschied zu den 1920er Jahre „ein politisches und militärisches Tabu.“ (S. 187). Leider geht Brechtken kaum auf den politischen Lernprozess ein, der sich in der Gründung der UN und dem Reformansatz des Völkerrechts in der Zeit von 1945 bis 1948 niederschlug. Er schuf die Grundlagen für eine internationale Rechtsordnung, die die Idee des Weltfriedens in Verbindung mit einer Ächtung des Präventivkriegs und der Achtung der Menschenrechte neu definierte. Nur vor diesem Hintergrund sind aber die vom Autor geschilderten Konflikte zwischen der USA und Teilen ihrer NATO – Verbündeten in den 90er Jahren und zu Beginn des Millenniums zu verstehen; insbesondere der europäisch – amerikanische Streit um den Dritten Irakkrieg, in dem nicht nur strategische, sondern auch normative Differenzen zu Tage traten, die nicht allein mit dem „missionarischen Eifer“ (S. 196) des damaligen Präsidenten George W. Bush erklärt werden können. Erstmals zeigten sich tiefe Risse innerhalb des westlichen Bündnisses, die auf unterschiedliche normative Konzeptionen einer multilateral angelegte Sicherheitspolitik zurückgeführt werden müssen und nichts mit dem gängigen Erklärungsschema „europäische Idealisten vs. US-amerikanische Realisten“ zu tun haben. Brechtken betont in seiner Darstellung die strategische Neuorientierung der USA „in Richtung Pazifik“ (S. 197). Der damit einhergehenden „Bedeutungsverlust“ Europas für die US – Regierung, die sich auch in der unter der Obama – und Trump – Administration fortgeführten Diskussion um einen größeren europäischen NATO – Beitrag zeige, sollte die Europäer, so der Autor, zu einem stärkeren Nachdenken über die „existentiellen Funktion der Sicherheitspartnerschaft der NATO“ motivieren. (S. 197).
„Das Ringen um den fairen Markt: Wirtschaft und Gesellschaft“
In diesem Kapitel kritisiert Brechtken die obszöne Vergrößerung der Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensentwicklung in den westlichen Gesellschaften (vgl. S. 201) Die wachsende soziale Ungleichheit in den westlichen Gesellschaften zerstöre nicht nur die Fundamente einer „gesunden“ Wettbewerbsordnung und wirtschaftlichen Produktivität, sondern auch das Vertrauen der Menschen in eine Marktwirtschaft, die eine gerechte Teilhabe aller an der Wohlstandsvermehrung verspricht. In einem „Blick zurück“ (S. 205 ff.) schildert Brechtken die Entstehung und Weiterentwicklung des deutschen Sozialstaats vom Wilhelminischen Reich bis zur Leistungen der soziale Sicherung im Nachkriegsdeutschland der fünfziger Jahre (am Gründungsmythos der Bundesrepublik, dem „Wirtschaftswunder“, wird dabei nicht „gekratzt“, siehe dazu Ulrike Herrmanns Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“, Frankfurt a.M. 2019). Die Krise des Sozialstaats in den siebziger Jahren führte dann zu einer „neoliberalen Wende“ (S. 215 ff.) der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, deren desaströse Folgen Brechtken am Beispiel der Thatcher – Ära in Großbritannien analysiert, wobei er sich insbesondere auf die Verletzung der Chancengleichheit konzentriert, die im flagranten Widerspruch zum meritokratischen Ideal der Leistungsgerechtigkeit stehe (S. 228). Im Blick auf das Ende des Kalten Krieges sieht er den Beginn einer neuen globalen Ära des „Systemwettbewerbs“ (S. 228 ff.) heraufziehen, in dem sich Europa insbesondere gegenüber der „chinesischen Herausforderung“ (S. 235 ff.) behaupten müsse. Angesichts einer wachsenden Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und der damit verbundenen Bildungschancen ( S:238 ff.) sollte nach seiner Meinung die „im Kapitalismus angelegte Dynamik zur kreativen Produktivität“ (S. 247) ebenso genutzt werden wie Ideen zu neuen Formen der Einkommens – und Vermögensverteilung. Da Konzepte einer „konfiskatorischen Steuerumverteilung“ bei Vermögenden und Unternehmern auf erhebliche Widerstände stoßen, schlägt der Autor eine Form der Umverteilung vor, die mit marktwirtschaftlichen Prinzipien und Kapitalinteressen verträglich sei, wie z.B. ein neu einzurichtender „Deutschlandfonds“, der sich am „Vorbild des norwegischen Staatsfonds“ (S. 243) oder dem Modell „privater Vermögensverwalter wie Black Rock“ (S. 244) orientieren sollte. Die Idee ist, dass in einen solchen „Topf“ Teile der Produktivitätsgewinne der Unternehmen und der Vermögenswerte eingezahlt werden, um daraus dann gemeinwohlorientierte Investitionen zu finanzieren. Das Ganze sollte von Fachleuten geleitet werden, in jedem Fall unabhängig von „parteipolitischen Einflüssen und Etatfragen“ (S. 244).
„Zehn Lektionen für die Gegenwart“
In einem Schlusskapitel resümiert der Autor in „zehn Thesen“ (er nennt sie „Lektionen“) den „Wert der Geschichte“. Die erste und wichtigste „Lektion“ lautet, dass „freie, selbstbestimmte Menschen auf Kenntnis der Geschichte angewiesen“ (S. 249) seien. Nur so könne ein Bewusstsein darüber wachgehalten werden, wie hart diese „Freiheiten errungen wurden“ (Lektion 1, S. 249). Der Nutzen der Geschichte besteht darin uns vor den fundamentalistischen Verirrungen illiberaler „Menschenbilder“ zu bewahren, wie sie in „jeder Religion und jeder Ideologie“ enthalten seien, die „Macht über andere“ zu erlangen suchen (Lektion 2, S. 249). Dagegen betont der Autor die Vorzüge des „rationales Handelns“, deren Überlegenheit „in der harten Welt der Wissenschaft und Technik“ einer Mehrheit von Menschen zweifelsfrei vor Augen stünden (Lektion 3, S. 250). Diese überlegene Rationalität zeige sich nicht zuletzt auch im wirtschaftspolitischen Bereich einer Sozialen Marktwirtschaft. Die historische Erfahrung zeige, dass eine uferlos wachsende soziale Ungleichheit die Fundamente einer „gesunden“ Wettbewerbsordnung zerstört. „Wirtschaftliche Teilhabe und faire Vermögensverteilung“ seien gerade heute „entscheidende Faktoren im globalen Systemwettbewerb zwischen freien und autokratischen Gesellschaften“ (Lektion 4, S. 250). Was immer auch heute die Religion noch für eine Rolle für die „menschliche Psyche“ spiele, insbesondere als „Trost in der Not“, als Grundlage für politisches Handeln sei sie „denkbar ungeeignet.“ Die Trennung von Staat und Religion sei eine „historische Errungenschaft zu beider Vorteil“ (Lektion 5, S. 250). Dass die „menschliche Neugier“ als „eine unbändige Kraft“ die Forschung in Wissenschaft und Technik antreibe, sei eine Tatsache. Aber nur in freien Gesellschaften sei es auch möglich „Chancen und Gefahren“ des wissenschaftlichen Fortschritts „abzuwägen, um zu entscheiden, welche Potenziale wir nutzen wollen.“ (Lektion 6, S. 251). Zum Schluss verweist der Autor auf die Bedeutung der „repräsentativen Demokratie“ und der „Menschenrechte“ (Lektionen 7 und 8, S. 251). Der antitotalitäre Konsens der Nachkriegszeit müsse neu belebt werden: „Unsere offene Gesellschaft und ihre Prinzipien“ sind „gegen jede Form autoritärer Bedrohung“ zu verteidigen, „militärisch, wirtschaftlich, intellektuell“ (Lektion 9 und 10, S. 252).
Diskussion
Ich beschränke mich auf zwei Punkte, Brechtkens Religionskritik und seine Bemerkungen über die Zukunft des westlichen Wirtschafts – und Demokratiemodells:
Zur Dialektik der Aufklärung.
In Brechtkens funktionalistischem Ansatz steht der Nutzen der Religion, ihr Beitrag zur Stabilisierung von „Gemeinschaftsgefühlen“, in keinem Verhältnis zu ihrem möglichen Schaden. Denn „jede Religion“ könne dazu benutzt werden, „Macht über andere Menschen zu erlangen“ (S. 249). Die „Befreiung von religiöser Bevormundung“ wird so für ihn zum entscheidenden Beitrag der Aufklärung in der europäischen Ideengeschichte. Damit kann der Autor aber nicht erklären, wie auf auf dem Boden der europäischen Aufklärung auch das Anregungspotenzial des jüdischen und christlichen Glaubens auf produktive Weise wirksam werden konnte und bis heute den Diskurs über soziale Gerechtigkeit beeinflusst. Brechtken erklärt weder die Bedeutung der sog. „Achsenzeit“ (Jaspers) für ein interkulturelles Verständnis der Menschenrechte noch wie die produktive Spannung von „Glauben und Wissen“, der Konflikt zwischen jüdischem und christlichem Monotheismus und den Weisheitslehren der antiken Philosophie den Boden für den Diskurs der Aufklärung über den modernen Freiheitsbegriff überhaupt erst vorbereitet hat. Die auf Kant und Hume folgenden ethischen Selbstbefragungen der Aufklärung, von Hegel über Kierkegaard bis Adorno und Arendt, zielen des Weiteren auf eine fortdauernde Selbstkritik und eine Differenzierung des liberalen Fortschrittsbegriffs, der eine Kritik des Begriffs der „rationalen Freiheit“ (Brechtken, S. 52) einschließt, der bekanntermaßen auch mit blanker Amoralität einhergehen kann. Dass es gegenüber der von Brechtken favorisierten Dekonstruktion religiöser Ideologien auch andere kritische Perspektive auf die religiöse Traditionen gibt, zeigen auf unterschiedliche Weise die Werke von Charles Taylor („Ein säkulares Zeitalter“, Frankfurt a.M. 2009) und Jürgen Habermas („Auch eine Geschichte der Philosophie“, Frankfurt a.M. 2020).
Systemwettbewerb und die Frage der Gerechtigkeit.
Dass es bei dem neuen „globalen Systemwettbewerb“ (S. 250) und dem Konflikt mit China letztlich um das „bessere“ (oder „sozialere“) Wachstumsmodell geht, legt eine verkürzte Sichtweise der Herausforderungen der Gegenwart nahe. Was auf der Tagesordnung steht, ist eine notwendige ökologische Transformation des wachstumsgetriebenen Kapitalismus in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft. Die „Jahrhundertfrage“ lautet dabei, ob es gelingen wird, eine tiefgreifende ökologische Transformation der Wirtschaft so voranzutreiben, ohne dass sie die soziale Spaltung in den westlichen Gesellschaften nicht noch weiter vertieft. Das Problem der wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen ist eng mit einer durch die globalisierte westliche Wirtschafts- und Lebensweise verursachten Klimakrise verknotet. Das macht den Bruch mit der weltweit verbreiteten westlich – konsumistischen Lebensmodell und den Prinzipien eines rein ökonomistischen Wachstumstheorie unausweichlich. Ein antitotalitäre Konsens und ein sozialdemokratisch eingehegtes Wachstumsmodell mit „fairer Vermögensverteilung“ (S. 250) und einem „Deutschlandfonds“ (S. 242) allein werden dafür nicht ausreichen.
Fazit
Das Buch Brechtkens ist in seinem Kern ein Appell an die bürgerlichen Mitte sich angesichts eines wiederauflebenden völkischen Nationalismus auf den antitotalitären Konsens und die Tugenden des öffentlichen Engagements und der Solidargemeinschaft zurückzubesinnen. Brechtken erinnert daran, wie hart die Fortschritte im Sinne einer egalitären Freiheit erkämpft werden mussten und dass einzig die westliche Demokratie einen Weg eröffnet, dem Ziel einer „humanen, friedlichen und für alle Menschen gleichermaßen lebenswerten Welt“ (S. 13) näherzukommen.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 32 Rezensionen von Peter Flick.
Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 06.01.2021 zu:
Magnus Brechtken: Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart. Siedler Verlag
(München) 2020.
ISBN 978-3-8275-0130-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27837.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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