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Georg Theunissen: Behindertenarbeit vom Menschen aus

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 11.01.2021

Cover Georg Theunissen: Behindertenarbeit vom Menschen aus ISBN 978-3-7841-3159-7

Georg Theunissen: Behindertenarbeit vom Menschen aus. Unterstützungssysteme und Assistenzleistungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2021. 306 Seiten. ISBN 978-3-7841-3159-7. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thema

Die Publikation zeigt Wege einer Behindertenarbeit auf, die vorwiegend vom erwachsenen Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexen Behinderungen ausgeht. „Der Begriff der komplexen Behinderung bezieht sich auf Personen, die angesichts spezifischer Beeinträchtigungen auf kognitiver, motorischer, sensorischer, emotionaler und sozialer Ebene und darauf abgestimmter Bewältigungsstrategien eine entsprechende ressourcenorientierte Unterstützung zur Verwirklichung des menschlichen Lebens benötigen, die von lebenswelt- und sozialraumorientierten Maßnahmen nicht losgelöst betrachtet werden darf“ (S. 10).

Autor

Georg Theunissen war von 1994 bis 2019 Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2012 hat Theunissen zusätzlich eine Professur für Pädagogik bei Autismus.

Entstehungshintergrund

Die Veröffentlichung ist eine aktualisierte und z.T. völlig neu verfasste Ausgabe von dem 2012 erschienenen Buch „Lebensweltbezogene Behindertenarbeit und Sozialraumorientierung“.

Aufbau

  1. Geschichte der Institutionalisierung behinderter Menschen
  2. Von der Deinstitutionalisierung zur Lebenswelt- und Sozialraumorientierung
  3. Behindertenarbeit vom Menschen aus – dargestellt am Beispiel von Kalifornien (USA)
  4. Unterstützungssysteme und personenzentriertes Arbeiten in Bezug auf Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und schwerwiegendem herausforderndem Verhalten
  5. Behindertenarbeit vom Menschen aus: Unterstützungssysteme und Unterstützungsleistungen bei schweren neurokognitiven Störungen (Demenzen)

Inhalt

In seiner Einleitung in die Geschichte der Institutionalisierung behinderter Menschen schreibt Theunissen, dass behinderte Menschen, Arme oder Irre zum einen „als 'unheilträchtig' und belastend für eine Gemeinschaft wahrgenommen, als Dämonen gefürchtet und daher vorzeitig getötet oder ausgesetzt (wurden – CR), zum anderen kam es gelegentlich zu ihrer Verehrung, Duldung und Betreuung durch Familienangehörige, indem davon ausgegangen wurde, dass sie als 'Wesen unter dem besonderen Schutz Gottes' […] stehend dazu auserwählt seien, alle Sünden einer Familie auf sich zu nehmen und abzubüßen“ (S. 15).

Bei der Betrachtung des sozioökonomischen Utilitarismus steht, gerade in Zeiten der gegenwärtigen Coronapandemie, die staatlich gewährte soziale Hilfe auf dem Prüfstand, wenn Theunissen ausführt, dass diese soziale Abhängigkeit für alle Betroffenen bedeutet in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise Leistungen gestrichen zu bekommen „oder wenn ökonomische Motive und egoistisch utilitaristische Interessen soziale und humane Aufgaben verkommen lassen“ (S. 24).

Die Geschichte der Institutionalisierung behinderter Menschen führt von der Spätantike – in der u.a. das christliche Ideal der Nächstenliebe die Basis für die Institutionalisierung Behinderter wurde –, über das Mittelalter – in dem Martin Luther in seinen Tischreden Wechselbälge als Söhne des Satans bezeichnete, deren Tötung Gott zum Wohlgefallen diente – bis hin zum Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit. „Die Geschichte unserer Behindertenpädagogik ist gekennzeichnet durch Brutalitäten und Unmenschlichkeiten, für die wir ein Stück Verantwortung und Kollektivschuld mitzutragen haben“ (S. 33).

Der Beitrag zur Deinstitutionalisierung beginnt mit einem kritischen Blick auf die Reformen. Das Normalisierungsprinzip wurde nicht konsequent umgesetzt, denn:

  1. statt einer Auflösung von Anstalten wurde eine Humanisierung der Lebensbedingungen in denselben in den Blick genommen;
  2. gemeindenahe Wohnangebote wurden durch die Schaffung neuer Wohnheime realisiert;
  3. an der Defizitorientierung wurde festgehalten;
  4. behinderte Menschen wurden an der Normalisierung ihrer Lebensbedingungen nicht beteiligt;
  5. statt einer Normalisierung wurde die Lebenswelt von behinderten Menschen normiert, indem z.B. Wohngruppen eines Heims einheitlich ausgestattet und behinderte Menschen auf eine Norm hin behandelt worden sind.

„Scharf kritisiert wurde die Priorisierung von Eigeninteressen der Kostenträger ([…] Leistungsträger […]), Wohlfahrtsverbände und Organisationen der Behindertenhilfe“ (S. 62). Einige Leistungsträger sahen in der Deinstitutionalisierung ein Instrument zur Einsparung von Sozialausgaben.

Die vorgenannte Kritik führte zur Einführung des Empowerments, was mit Selbstbefähigung, Selbstbemächtigung, Selbstermächtigung oder Selbstvertretung übersetzt und in Verbindung gebracht werden kann. Theunissen erkennt im Empowerment ein Vehikel, welches der Gewinnung von mehr Menschlichkeit und sozialer Gerechtigkeit dient. Empowerment-Initiativen haben dazu beigetragen, die Reformen der Deinstitutionalisierung nachhaltig zu verbessern, die neben einer räumlichen Integration auch die sozio-kulturelle Einbindung betraf.

Dem Empowerment behinderter Menschen sind auch gesetzliche Neuerungen für die Lebensbedingungen der Betroffenen zu nennen, als da beispielsweise wären das Benachteiligungsverbot gemäß Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG, das SGB IX, die UN-Behindertenrechtskonvention, das Behindertengleichstellungsgesetz oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.

Zur UN-Behindertenrechtskonvention führt der Autor aus: „Als besonders kritisch muss der Umgang mit dem Begriff der Inklusion gesehen werden, der in der deutschsprachigen Version der UN-Konvention durch 'Integration' […] ersetzt wurde“ (S. 75).

Für eine, vom Menschen ausgehende, lebensweltbezogene Behindertenarbeit erachte ich die politische Einmischung als ein wesentliches Instrument für die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung im Sinne § 32 Absatz 3 SGB IX, nach dem Betroffene gleichartig Betroffene, gemäß des Peer Counseling, beraten sollen. Zur Durchsetzung von Rechten oder Interessen wird eine professionelle und informelle Unterstützung in Form einer Anwaltschaft für Adressaten benötigt. Theunissen spricht hierbei von einer advokatorischen Assistenz oder parteilichen Vertretung, „die möglichst in 'kollaborativer Allianz' […] zum Tragen kommen sollte“ (S. 99).

Aus der Kritik an der Gemeinwesenarbeit der 1960er/​1970er Jahre ist die Sozialraumorientierung hervorgegangen. Die Sozialraumorientierung hat Erkenntnisse aus der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit aufgegriffen und sich dem Konzept des Empowerments verschrieben. Im Bundesteilhabegesetz ist die Sozialraumorientierung mitbedacht worden.

Einen Blick über die deutschen Grenzen hinaus bietet die, vom Menschen ausgehende, Behindertenarbeit in Kalifornien (USA).

In Kalifornien koordinieren Regional Centers alle Dienstleistungen und Unterstützungsformen für Menschen mit developmental disabilities. In Kalifornien hat die Personenzentrierte Planung eine Schlüsselfunktion in einer lebensweltbezogenen Behindertenarbeit, in der den Betroffenen eine Stimme gegeben wird. Nach dieser Stimme der Betroffenen hat sich die Behindertenhilfe zu orientieren.

Die Diskussion zu den Unterstützungssystemen beginnt mit einem Blick auf die kritischen Sozialisationserfahrungen und Unterstützungsleistungen im Kindes- und Jugendalter, die in eine Verbesonderung münden. Bundesweit werden „betroffene Personen oftmals […] in Sondergruppen großer Behinderteneinrichtungen […]'untergebracht'“ (S. 187 f.).

Medizinische Diagnosen führen spätestens ab der Einschulung zur Verordnung von Medikamenten, die vielfach den erhofften Erfolg vermissen lassen. Die sich oft widersprechenden Diagnosen nehmen zu und bringen „Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern, Förderschule, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie zuständigen Behörden“ (S. 192) mit sich. Die Beschulung erfolgt in – nicht wohnortnahen – Internatssonderschulen, der dann die berufliche Karriere in einer Werkstatt für behinderte Menschen folgt. Das Leben in einer totalen Institution ist vorgegeben, in der „zumeist unzureichende Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Teilhabe am alltäglichen Leben bestehen“ (S. 195). Theunissen nennt hier beispielhaft die verschlossene Küche, die Zentralversorgung und verschlossene Zimmer. Für alles Drei verfügt lediglich das Personal über die Schlüsselgewalt. Es handelt sich um einen gefängnisartigen Charakter und eine gerichtlich genehmigte freiheitsentziehende Maßnahme.

Alternativen zum Leben in einer totalen Institution bieten beispielsweise die niedrigschwelligen Konsulentendienste. Hierbei handelt es sich um ein pädagogisches und psychosoziales Unterstützungssystem, welches zur Prävention und Intervention von herausforderndem Verhalten beitragen kann. Einer institutionellen Karriere kann auch eine geeignete Wohnform vorbeugen, denn ein Wohnen in einer Institution ist kein effektiver Beitrag zur Prävention und zum Auflösen herausfordernden Verhaltens.

Personenzentrierte Planung, Positive Verhaltensunterstützung und Sicherheitsplan zielen „darauf ab, eine Einweisung von Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten und einem schwerwiegenden herausfordernden Verhalten in psychiatrische (Spezial-)Kliniken zu vermeiden und ein Wohnen und Leben im Gemeinwesen sicherzustellen“ (S. 205).

Bei der Personenzentrierten Planung ist, gemäß des Empowerment-Konzepts, die Stimme der Betroffenen wesentlich. Behinderte Menschen als Experten in eigener Angelegenheit zu betrachten und zu respektieren geht mit der UN-Behindertenrechtskonvention konform. Hauptmerkmale der Personenzentrierten Planung sind:

  1. die Mittelpunktstellung der betroffenen Person;
  2. der Einbezug von Familienmitgliedern, Freunden oder Vertrauenspersonen als Partner;
  3. die betroffene Person benennt Belange, Träume, Ressourcen und Fähigkeiten, die ihr wichtig sind. Hierfür artikuliert sie auch die notwendige Unterstützung, die sie zur Realisierung benötigt;
  4. die betroffene Person zieht informelle Unterstützungsmaßnahmen heran, welche sich auf das Leben ebendieser Person beziehen und sie reflektiert dabei, „was möglich ist und was nicht verfügbar ist“ (S. 211);
  5. „der Plan führt zu fortlaufendem Zuhören, zum Lernen aller Beteiligten und zu weiteren Aktionen, um Entwicklungen oder veränderten Situationen Rechnung tragen zu können“ (ebd.).

Die Positive Verhaltensunterstützung zielt darauf, problematisches Verhalten gar nicht erst entstehen zu lassen.

Zur Realisierung des Sicherheitsplans ist die Zustimmung der betroffenen Person bzw. ihres gesetzlichen Betreuers einzuholen. Hierbei handelt es sich um das strategische Timeout, welches hier jedoch nicht als Bestrafung zum Einsatz kommt.

Die demografische Entwicklung macht den Blick auf die Unterstützungssysteme und -leistungen von Menschen, die mit einer schweren neurokognitiven Störung leben, notwendig.

Bei der schweren neurokognitiven Störung Demenz handelt es sich um „Störungen des Gedächtnisses, Intelligenzeinbußen sowie Beeinträchtigungen intellektueller und anderer Fähigkeiten“ (S. 246).

Schwere neurokognitive Störungen sind nur in ihren psychosozialen Auffälligkeiten oder deren Begleiterscheinungen therapiebar. Ein Schwerpunkt der Demenz liegt in ihrer sozialen Seite.

Bei Menschen, die mit einem Down-Syndrom leben, tritt eine Demenz häufig ab dem 40. Lebensjahr ein. Jedoch ist die Diagnostik nicht ganz unproblematisch und in der Hauptsache über spezielle Verfahren für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung möglich.

Jegliche Unterstützungsmaßnahmen und Hilfsangebote für alte und demente Menschen sollen auf die Lebensqualität ausgerichtet sein, also auf:

  1. zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Kontakte;
  2. Selbstbestimmung;
  3. emotionales und soziales Wohlbefinden;
  4. personale Identität;
  5. Sicherheit und Unversehrtheit;
  6. bedeutungsvolle Aktivitäten;
  7. soziale Integration und Inklusion.

Bei den angeführten assistierenden Hilfen erlaube ich mir die validierende Assistenz zu nennen, bei der die Gefühlsäußerungen einer dementen Person als echt – und somit valide – akzeptiert, zugelassen, wertgeschätzt und bestätigt werden. „Die hinter den Verhaltensäußerungen oder Handlungen liegenden Gefühle […] sollen adäquat erfasst und der Person durch Widerspiegelung (z.B. 'oh, Sie sind aber fleißig; […]; ja, davor haben Sie Angst […]') so vor Augen geführt werden, dass sie sich mit ihren emotionalen Erinnerungen, Äußerungen oder Handlungen angenommen und 'aufgefangen' erleben sowie zu einer inneren Befriedigung gelangen kann“ (S. 291 f.).

Fazit

Georg Theunissen legt mit dieser Veröffentlichung ein Lehrbuch für die Inklusionsforschung vor. Es ist schön, dass der Autor hier die Stimme der Experten in eigener Sache, die über eine erlebte Kompetenz verfügen, in den Vordergrund rückt. In jedem Abschnitt ist die Sicht Letztgenannter ein wesentlicher Bestandteil jeglicher Intervention.

Obwohl mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bereits 2009 die Grundlagen gelegt sind, stellt Theunissen auf Seite 212 fest, dass aus der Sicht der betroffenen Personen, „ihre Stimme von Unterstützungskonferenzen nicht immer ausreichend gewürdigt“ wird.

Sehr schön ist auch der Blick in die Geschichte der Behindertenarbeit, die für die gegenwärtig beginnende Inklusion wegweisend ist.

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 185 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.

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ISSN 2190-9245