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Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Facetten der Fürsorge

Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Nakao, 05.07.2021

Cover  Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Facetten der Fürsorge ISBN 978-3-7841-3314-0

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Facetten der Fürsorge. Akteurinnen und Akteure in der Geschichte des Deutschen Vereins. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. - DV (Berlin) 2020. 288 Seiten. ISBN 978-3-7841-3314-0.

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Thema

In diesem Sammelband werden zwölf für den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge (nachfolgend Deutscher Verein) bedeutende Persönlichkeiten biographisch portraitiert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem jeweiligen Beitrag zur Entwicklung des Vereins und für die Ausgestaltung des Fürsorgewesens bzw. von Sozialpolitik.

Herausgeber und Autor*innen

Herausgeber des Bandes ist der Deutschen Verein, der sich als Forum für den Austausch zwischen öffentlichen und privaten Träger der Wohlfahrtspflege sowie Wissenschaft und Politik versteht. Unter anderem werden vom Deutschen Verein Gutachten und Stellungnahmen zur Sozialgesetzgebung verfasst, er betätigt sich außerdem als Fachverlag für sozialrechtliche, sozialpolitische und sozialarbeiterische Themen und ist Veranstalter des deutschen Fürsorgetags.

Die einzelnen biographischen Portraits wurden von insgesamt neun Autor*innen verfasst.

Entstehungshintergrund

Der Band wurde anlässlich des 140sten Jubiläum des Deutschen Vereins herausgegeben. Es ist die dritte neuere Jubiläumsveröffentlichung des Deutschen Vereins. 2005 erschien zum 125sten Jubiläum der Band „Forum für Sozialreformen“, in dem anhand von Akten und anderen Dokumenten die Geschichte des Vereins nachgezeichnet wurde, dabei wurde auch die Rolle während des Nationalsozialismus ausführlich thematisiert. Zum zehnjährigen Umzug nach Berlin erschien die Broschüre „MitWirkung“, die sich mit den Vereinsaktivitäten in der Zeit von 2004 bis 2014 befasst. In diesem Band nun wird der Fokus vor allem auf die Persönlichkeiten, die den Deutschen Verein geprägt haben, gerichtet.

Die Beiträge wurden teils bereits an anderer Stelle veröffentlicht, teilweise eigens für den Sammelband erstellt.

Aufbau

In seinem Aufbau erfüllt der Band alle Erwartungen an eine Jubiläumsschrift. Er wird mit einem Vorwort des Vorstands eingeleitet. Darauf folgt ein Gesamtüberblick zur Entwicklung des Deutschen Vereins. Die zwölf biographischen Portraits schließen sich daran an, weitgehend chronologisch nach Geburtsdatum des/der Portraitierten gereiht.

Die Verzeichnisse am Schluss beinhalten neben den üblichen Registern ein gesondertes, weiterführendes Literaturverzeichnis zur Geschichte der Fürsorge und des Deutschen Vereins, das die Quellenangaben am Ende jeden Beitrags ergänzt.

Inhalt

Der erste Beitrag, verfasst von Willing, umreißt die Geschichte des Deutschen Vereins von der Gründung 1880 bis heute. Hier geht es noch nicht vorrangig um die daran beteiligten Personen, sondern um die Organisation selbst. Anlass der Gründung 1880 war die immer offensichtlicher werdende Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Der Verein entwickelte sich von einem anfangs losen Verbund von Akteur*innen der Sozialpolitik zu einer einflussreichen Instanz in der Weimarer Zeit, trug später allerdings auch nationalsozialistische Politik mit. In der Gründungszeit der Bundesrepublik war der Verein als Mitgestalter des spezifisch bundesrepublikanischen Wohlfahrtswesens gefragt, diese Rolle hat er bis heute inne.

Auf diesen Überblick folgen zwölf Portraits von Persönlichkeiten, die zum Profil des Vereins beigetragen haben: Albert Döll (Schmitt), Wolfgang Straßmann (Schmitt), Emil Münsterberg (Lades), Alice Salomon (Feustel), Dorothea Hirschfeld (Schmitt), Wilhelm Polligkeit (Stein), Hilde Eiserhardt (Willing), Hans Muthesius (Schrapper), Käthe Petersen, Agnes Neuhaus (Rothmaler und Lehnert), Walter Schellhorn und Otto Fichtner (Mulot).

Der Auftakt wird mit dem Beitrag über Albert Döll von Schmitt gemacht, den sie als Impulsgeber für die Vereinsgründung vorstellt. Er war Verfasser einer Schrift zur Reform der Armenpflege und damit derjenige, der den Anstoß für die erste Armenpflegerkonferenz 1880 in Berlin gab. Im Nachgang erfolgte die Vereinsgründung, an der Döll selbst allerdings nicht mehr beteiligt war.

Wolfgang Straßmann, ebenfalls von Schmitt portraitiert, engagierte sich als Choloraarzt in einem Armenbezirk in Berlin. Als Mitglied einer der Armenkommissionen Berlins sah er eine Notwendigkeit, die sogenannte Privatwohltätigkeit und amtlicher Armenpflege besser miteinander zu verzahnen, ein auch in Dölls Schrift und auf der Armenpflegerkonferenz behandeltes Thema. Straßmann war Mitinitiator der Gründung des Vereins und sein erster Vorsitzender, was er bis zu seinem plötzlichen Tod 1885 blieb.

Der von Landes vorgestellte Emil Münsterberg war erst später, Anfang des 20. Jahrhunderts, im Deutschen Verein aktiv. Im Beitrag über ihn werden vor allem seine internationalen Aktivitäten hervorgehoben. Er pflegte Kontakte zu Sozialarbeiter*innen z.B. in den USA und Großbritannien. Dies ermöglichte Impulse, die mit zur Entwicklung der professionellen Sozialen Arbeit in Deutschland beigetragen haben.

Im Band erst an späterer Stelle erwähnt, chronologisch gesehen aber in der Zeit der Weimarer Republik zu verorten, ist Agens Neuhaus, vorgestellt von Lehnert. An ihrem Wirken wird die Problematik scheinbar unpolitischer fürsorgerischer Tätigkeit deutlich gemacht. Ihr Engagement galt „gefährdeten“ Frauen. Doch ihre Interventionen hatten nicht das Ziel, ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, sondern sollte die Frauen in bestimmte, von Neuhaus für richtig angesehene Bahnen lenken. Dabei befürwortete sie auch Zwangsmaßnahmen, z.B. indem sie sich für das sogenannte Bewahrungsgesetzt einsetzte.

Die wohl bekannteste Persönlichkeit des Sammelwerks ist die von Feustel portraitierte Alice Salomon. Sie ist vor allem als frühe Theoretikerin der Sozialen Arbeit und als Frauenrechtlerin bekannt. In diesem Beitrag liegt der Fokus naturgemäß auf ihrem Engagement im Deutschen Verein, dem sie langjährig verbunden war. Unter anderem konzeptionierte sie Ausbildungskonzepte für Sozialarbeiterinnen und gehörte zu den ersten weiblichen Vorstandsmitgliedern des Vereins. Dies verschonte sie jedoch als Jüdin nicht vom Entzug ihrer Ämter 1933, der Ausweisung aus Deutschland und dem Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft und ihres Doktortitels.

Dorothea Hirschfeld (Schmitt) trat als erste hauptamtliche Vorständin des Deutschen Vereins hervor. Später arbeitete sie in leitender Position in verschiedenen Ministerien, blieb im Deutschen Verein aber als Mitglied des Hauptausschusses engagiert. 1933 wurde sie als Jüdin und Sozialdemokratin ihrer Ämter enthoben, später verhaftet und in einem KZ interniert. Sie überlebte dieses und kehrte nach Kriegsende nach Berlin zurück. Dort gelang es ihr trotz ihrer früheren Positionen kaum, ihre Existenz zu sichern. Schon gar nicht konnte sie adäquat an ihre frühreren Ämter anknüpfen.

Wilhelm Polligkeit – portraitiert von Stein – arbeitete an verantwortlicher Position, als es zum Ausschluss der beiden gerade genannten Persönlichkeiten aus dem Verein kam. Stein zeigt auf, wie schwierig es ist, die sozialpolitischen Verdienste Polligkeits zu würdigen, der unermüdlich nach wissenschaftlichen Lösungen für die soziale Frage strebte, wohl aber auch in NS-Strukturen eingebunden war.

An vielen Stellen ähnlich ambivalent wird von Willing die Rolle von Hilde Eiserhardt beschrieben, deren Lebensweg und Karriere eng mit dem von Polligkeit verknüpft ist.

Und auch Hans Muthesius, der, wie Schrapper darstellt, in der Nachkriegszeit als Leitfigur der Wohlfahrtspflege und als vorbildlicher Sozialreformer wahrgenommen wurde, bekleidete während des Nationalsozialismus einflussreiche Ämter. Dieser Zwiespalt wurde vom Deutschen Verein in den Nachkriegsjahren zuerst kaum beachtet, später wurden die vielfältigen Verstrickungen jedoch ausführlich aufgearbeitet.

Hierzu ist auch Käthe Petersen, vorgestellt von Rothmaler bzw. Lehnert, zu nennen. Unter ihrer Beteiligung wurden zum Beispiel Richtlinien, die Menschen in „sozial Vollwertige“ und „sozial nicht Vollwertige und Gemeinschaftswidrige“ kategorisierten, entwickelt. Sie habe, so Rothmaler, keiner politischen Aufforderung bedurft, um sich diese Denk- und Handlungsweise zu eigen zu machen (S. 225). Trotzdem spielte sie später in der bundesrepublikanischen Sozialpolitik eine wichtige Rolle, wobei sie auch dann aus heutiger Sicht problematische und bevormundende Konzepte vertrat. Ihre stigmatisierende und ausgrenzende Einstellung gegenüber aus Petersens Sicht „gefährdeter“ Personen wurden von ihr bis zu ihrer Pensionierung in den 1960er Jahren vertreten. Diese wurden, so Lehnert (S. 250), bis in die 1980er Jahre hinein häufig nicht als problematisch wahrgenommen.

Vielleicht passt für all diese Personen teilweise Schrappers Einschätzung zu Muthesius: dieser könne dafür stehen „wie schmal der Grat notwendig erscheinender Effizienzbegründungen, wie schnell und tief die Beteiligung an menschenverachtenden Verbrechen, aber auch wie unverzichtbar und zugleich mühevoll die Besinnung auf eine die Würde jeden Menschen achtende Fürsorge ist […].“ (S. 207)

Der Band schließt mit zwei Beiträgen von Mulot über Walter Schellhorn und Otto Fichtner, die in der Nachkriegszeit Akzente setzten. Schellhorn befasste sich z.B. intensiv mit der bis dahin wenig priorisierten Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen durch die Sozial- und Jugendhilfeträger, mit dem 1962 in Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetz und mit Fragen der Finanzierung und Ausgestaltung von Pflege.

Fichtner wird insbesondere als Kommunikator zwischen öffentlichen und privaten Trägern beschrieben, eine Verbindung, die er auch aus der eigenen Biografie heraus vertreten konnte.

Diskussion

In einem Jubiläumsband geht es immer auch darum, die/den Jubilar*in zu ehren, Verdienste darzustellen und Bilanz zu ziehen. Diesen Zweck erfüllt der Band mit Sicherheit, ohne dabei über problematische Seiten der Geschichte des Deutschen Vereins und seiner Akteur*innen zu schweigen.

Darüber hinaus wird laut Klappentext auch angestrebt darüber Auskunft zu geben wie die Akteur*innen jeweils eingebettet in den historischen Zusammenhang „Fürsorge“ verstanden. Auch hierzu lässt sich vieles den Texten entnehmen. Allerdings oft verwoben mit ausführlichen lebensgeschichtlichen Daten, Beschreibung von Ausbildungs- und Karrierestationen und Erläuterung von vereinsinternen Aktivitäten. Das Verständnis von Fürsorge, manchmal wäre (Sozial-)politik oder Soziale Arbeit vielleicht der passendere Begriff, lässt sich daraus erschließen, doch es obliegt oftmals dem/der Leser*in, diese Informationen in Auseinandersetzung mit dem Text herauszuarbeiten. Zudem sind die Beiträge untereinander nicht immer miteinander verknüpft, und es bleibt auch hier dem/der Leser*in überlassen, die entsprechenden Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Personen herzustellen. Dann allerdings ergibt sich ein Bild zur jeweiligen Person und ihrer Denk- und Arbeitsweise, das weit über biografische Eckdaten hinausgeht. Und auch für daran anschließende Fragen gibt es Hinweise: Wie kamen die Akteur*innen – häufig aus anderen Berufen kommend – dazu, sich im Fürsorgewesen zu engagieren? Und welche Fähigkeiten, Kontakte oder Kenntnisse ermöglichte Ihnen, dabei Führungspositionen einzunehmen? Welche Ambivalenzen waren mit der Kategorie „Geschlecht“ verbunden? Wie konnte es sein, dass während der NS-Zeit Verfolgte nach dem zweiten Weltkrieg kaum Fuß fassen konnten, während andere, die sich innerhalb des nationalsozialistischen Systems bewegt hatten, Ämter wiedererlangten? Und warum wurden bis weit in die bundesrepublikanischen Zeiten hinein teilweise ausgrenzende und repressive Konzepte der Sozialen Arbeit vertreten? Wie ist die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin mit den wechselvollen sozialpolitischen Rahmenbedingungen und deren Interpretation durch die Akteur*innen verknüpft?

Wenn also zwar die ausführlichen Schilderungen nicht immer leichtgängige Lektüre sind, so ist es doch gerade der Detailreichtum der Texte, der solche tiefen Einblicke ermöglicht.

Fazit

Eine Sammlung sehr ausführlicher, differenzierter biografischer Notizen zu hoch interessanten und von Alice Salomon einmal abgesehen der Öffentlichkeit wohl nicht allzu bekannten Personen, die die Entwicklung hin zu unserer heutigen „Soziallandschaft“ entscheidend geprägt haben. Die gesellschaftlichen Umstände, von denen diese Personen und auch ihr Fürsorgeverständnis geprägt wurden, und der Beitrag, den diese Personen zur Weiterentwicklung des Fürsorgewesens geleistet haben, lassen sich aus den Texten herausarbeiten. In seiner Detailliertheit erscheint der Band weniger geeignet für diejenigen, die einen ersten Einstieg in die Materie versuchen möchten. Hierfür hält der Deutsche Verein in Form seines Internetauftritts aber durchaus ein passendes alternatives Format bereit. Wer sich tiefer in die Thematik einarbeiten möchte, der findet im Band „Facetten der Fürsorge“ genau diese Möglichkeit, nämlich über Grunddaten hinausgehende facettenreiche Ausarbeitungen zur Entwicklung des sozialstaatlichen Rahmens, in dem sich Soziale Arbeit heute bewegt, und zu dessen Verständnis Kenntnisse der historischen Zusammenhänge gewinnbringend sind.

Rezension von
Prof. Dr. Christiane Nakao
Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule
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Es gibt 2 Rezensionen von Christiane Nakao.

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Zitiervorschlag
Christiane Nakao. Rezension vom 05.07.2021 zu: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Facetten der Fürsorge. Akteurinnen und Akteure in der Geschichte des Deutschen Vereins. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. - DV (Berlin) 2020. ISBN 978-3-7841-3314-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27848.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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