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Stefan Schäfer: Internationale Jugendarbeit und politische Theorie

Rezensiert von Jennifer Hübner, 12.10.2021

Cover Stefan Schäfer: Internationale Jugendarbeit und politische Theorie ISBN 978-3-7344-1160-1

Stefan Schäfer: Internationale Jugendarbeit und politische Theorie. Diskurse und Perspektiven. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2021. 156 Seiten. ISBN 978-3-7344-1160-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Reihe: Non-formale politische Bildung - Band 20.

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Thema

Das Buch „Internationale Jugendarbeit und politische Bildung. Diskurse und Perspektiven“ von Stefan Schäfer widmet sich dem Handlungsfeld der internationalen Jugendarbeit aus politiktheoretischer Perspektive und möchte ihre Verschränkungen mit Theorien, Ansätzen und Konzepten politischer Bildung poststrukturalistisch und kritisch-reflexiv diskutieren.

Autor

Stefan Schäfer ist als „Lehrkraft für besondere Aufgaben“ wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Köln und seit 2013 an verschiedenen Hochschulen und Universitäten als Lehrbeauftragter tätig. Schäfer hat an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zum Thema „Auf dem Weg zur Demokratie. Eine historiographische Kritik der Verhältnisbestimmungen von Sozialem und Politischem in Sozialpädagogik und Fürsorge der Weimarer Republik“ promoviert.

Entstehungshintergrund

Das Buch „Internationale Jugendarbeit und politische Bildung. Diskurse und Perspektiven“ schließt an eine 2018 an der Hochschule Köln implementierte Fachtagung zur „Politischen Dimension der internationalen Jugendarbeit“ an und präsentiert Überlegungen und Diskurse aus einem 2013 angelegten Drittelmittelprojekt zum Forschungsschwerpunkt ‚Non-formale Bildung‘. Unter Rückgriff auf Prozesse wie „European Youth Work“ oder „Critical Youth Citizenship“ greift Schäfer aktuelle Entwicklungslinien zur Weiterentwicklung internationaler Jugendarbeit auf. Andreas Thimmel zufolge möchte der Autor mit seinem Werk ein Angebot an die offensichtliche Diskrepanz zwischen der theoretisch-konzeptionellen Bearbeitung des Themas als politische und der sozialpädagogischen Handlungspraxis als pädagogische Dimension offerieren, um das Handlungsfeld insgesamt auch politisch durchdringen zu können (vgl. Thimmel 2021, 7 ff.).

Aufbau

Das Skript segmentiert sich in die vier folgenden Hauptkapitel

  1. „Völkerverständigung – Interkulturalität – Diversität – Reflexive Internationalität. Zur Genealogie der konzeptionellen Diskurse in der internationalen Jugendarbeit“ (Seite 17 bis 42),
  2. „Das Politische und die Politik: Zum Begriff der politischen Differenz in politischer Theorie und radikaler Demokratietheorie“ (Seite 43 bis 80),
  3. „Bildung und Demokratie: Das Politische in Erziehungswissenschaft und Bildungsphilosophie“ (Seite 81 bis 108) und
  4. „Kontingenz und radikale Demokratie als Bildungsgelegenheiten: Das Politische in der politischen Bildung“ (Seite 109 bis 126)

… und wird durch ein Vorwort von Andreas Thimmel (Seite 7–10) sowie einem abschließenden Schlusswort zu dem Politischen in der internationalen Jugendarbeit (Seite 127–133) gerahmt.

Im ersten Teil seines Werkes diskutiert Schäfer die „Genealogie konzeptioneller Diskurse in der internationalen Jugendarbeit.“ Im zweiten Kapitel elaboriert er verschiedene politische Theorien, um im dritten Abschnitt gegenwärtige pädagogische Rezeptionsdiskurse zum pädagogisch-politischem Verhältnis aus poststrukturalistischer Perspektive auf einer allgemeineren erziehungswissenschaftlichen Ebene zu diskutieren und im vierten Teil dann schließlich politische Bildungsperspektiven darzustellen.

Inhalt

Stefan Schäfer entwirft in seiner Einleitung eine aktuelle Diskursbestimmung zum Titel seiner Arbeit und entwickelt dazu zunächst skizzenhaft ein Verhältnis zwischen internationaler Jugendarbeit und Politik. Ihm zufolge wird internationale Jugendarbeit oft aus einer Politikabhängigkeitsperspektive reflektiert, welche die Verstrickungen zwischen Politik und pädagogischer Praxis außenvorlässt. Im Anschluss an Andreas Thimmel ist für Schäfer die internationale Jugendarbeit kein Arbeitsfeld, das lediglich von Politik abhängig ist oder gar als ihr Produkt verstanden werden darf. Schäfer zufolge birgt internationale Jugendarbeit selbst politische Momente und muss stets politisch begriffen werden. Die aus seiner Sicht an vielen Stellen zu beobachtende Passungsdiskrepanz ist für den Autor Anlass gegenzusteuern und konzeptionelle Ebenen als Reflexionsdiskurs anzubieten (vgl. Schäfer 2021, S. 15).

In seinem ersten Kapitel erörtert Schäfer den aktuellen Forschungsstand zur internationalen Jugendarbeit als „Genealogie der konzeptionellen Diskurse in der internationalen Jugendarbeit“ und reflektiert die Anfänge internationaler Jugendarbeit als „Völkerverständigung durch Begegnung“ (S. 17 ff.), welche insbesondere nach 1945 einst mit vor allem außenpolitischen Diskursen eng verbunden waren. Es folgen politiktheoretische Ausführungen.

Unter Rekurs auf einschlägige Ansätze zur diversitätsbewussten internationalen Jugendarbeit um Anne Winkelmann (Winkelmann 2006) oder differenztheoretische Bezugsgrößen um Stuart Hall oder Hanna Arendt kritisiert Schäfer in einem diversitätstheoretisch-kritischem Duktus (S. 29 ff.) den aus seiner Sicht verkürzenden und homogenisierenden Begriff des ‚interkulturellen Lernens‘, welcher genauso wie der Begriff der ‚Kultur‘ die „Komplexität, Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit“ von Realitäten nicht in Kulturidentitäten pressen darf (vgl. Schäfer 2021, S. 31). Schäfer entmystifiziert damit veraltete Ideale internationaler Jugendarbeit, die sich eher auf Methoden und weniger auf anthropologische Grundannahmen (in) der Sozialen Arbeit konzentrierten. „Wer davon ausgeht, dass kollektive Identitäten das Handeln von Personen determinieren, leugnet das es so etwas wie eigensinniges politisches Handeln überhaupt geben kann“ (Schäfer 2021, S. 33) und beansprucht aus Sicht von Schäfer dann eine eher deterministische Perspektive auf junge Menschen.

Im Anschluss daran überführt Schäfer die Lesenden in den Terminus der reflexiven Internationalität und bietet im Rekurs auf den Ansatz der subjektorientierte Jugendarbeit nach Albert Scherr und Forschungsansätze von Thimmel alternative bzw. ergänzende Ansätze zum Erschließen internationaler Jugendarbeit an (Schäfer 2021, S. 34 ff.) an. Aus seiner Sicht ist es notwendig, die einstige Idee, internationaler Jugendarbeit aus den fünfziger Jahren wieder zu beleben und das Politische als „Begegnung und Verständigung von Menschen aus unterschiedlichen Ländern“ (ebd. S. 35) diversitätsbewusst in den Fokus zu rücken. Erst auf diese Weise könnten potenzielle Homogenisierungen von Menschen, Gruppen oder Staaten mithilfe internationaler jugendarbeiterischer Arrangements kritisch-reflexiv bearbeitet werden. Ziel aktueller internationaler Jugendarbeitsdiskurse sollte die Sichtbarmachung des Politischen (Schäfer 2021, S. 40 ff.) sein, welche eine Politisierung des Handlungsfeldes respektive eine Widersichtbarmachung des Politischen im Handlungsfeld in Verbindung mit Pädagogik in das Zentrum ihres Diskurses stellt.

In seinem zweiten Kapitel verweist der Autor auf die bekannte Differenz zwischen der Politik und dem Politischen und überlegt, inwieweit diese nicht als „Reflexionsinstrument auf Fragen von Pädagogik im Allgemeinen und der internationalen Jugendarbeit“ (Schäfer 2021, S. 44) im Besonderen genutzt werden können, um abseits formaler Zuständigkeiten und Hierarchien (Beck 1993, S. 156) eigensinnig und demokratisch an Gesellschaft – als gelebte Praxis von Jugendarbeit – teilzuhaben. Unter dem Begriff der Kontingenz verweist Schäfer auf das Spannungsverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit politischen Handelns und entführt die Lesenden in radikal-demokratietheoretische Ansätze mit Bezugnahme auf Oliver Marchart (2010), Hanna Arendt (1972), aber auch Reinhard Heil und Andreas Hetzel (2006), um im Anschuss daran verschiedene Spielformen der politischen Differenz (Schäfer 2021, S. 49 ff.) zu skizzieren. Aus seiner Perspektive sollte die „Differenzierungspraxis selbst zum Gegenstand des Denkens“ werden (ebd. S. 49) und als politische Praxis, also politische Bildung, vom Sein ins Seiende überführen (ebd. S. 51). Anknüpfend an Arendt muss das Praktizieren von Pluralität also erlaubt und weit mehr als nur die zur Kenntnisnahme von öffentlichen Differenzmarkierungen sein. Laut Arendt geht es nicht (nur) darum, „was man ist,“ sondern als Ausdruck reflexiv politisch-kritischer Praxis „wer man ist.“ (Arendt 1958) „Das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit [gilt es] nicht nach einer Seite hin aufzulösen, sondern ihre relationale Verschränktheit zu betrachten.“ (Schäfer 2021, S. 52) Politisches Handeln bedeutet immer öffentliches Zusammenhandeln und sich zu und in Diskursen miteinander verständigen, die zwischen und nicht in uns liegen (vgl. ebd.).

Im Anschluss daran diskutiert der Autor den Begriff des Politischen als phänomenologische Dimension des Öffentlichen („Ort des Entscheidens“) und führt ihn als Oppositionsbegriff zur Privatheit ein, welche durch eine gemeinsame „Zwischenwelt“ miteinander verbunden sind (ebd.). Gleichheit bedeutet hier die Arbeit an einer gemeinsamen Sache, auch Konflikt; mehr als die bloße Artikulation, Verhandlung und Darstellung von Herkunft, sondern viel mehr „eine Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit“ bedeutet. (ebd. S. 52–53).

Unter Bezugnahme auf Arendt referiert Schäfer die Unterscheidung zwischen Gesellschaftlichen und Politischem und verweist auf die Bedeutung vom Mikrorevolutionen im Alltag als „initiatives Handeln, […] [welches] Unterbrechungen von Gewohnheiten, Sitten und Routinen“ induzieren kann (ebd. S. 54). Carl Schmitt zufolge, so Schäfer, verweist auf die Unterscheidung zwischen Feind und Freund und sieht Politisches immer da zum Vorschein kommen, wo Kohorten gegeneinander handeln und „diskursiv erzeugte Identität durch eine Grenze bestimmt“ wird, die „Inneres von einem Äußeren“ trennen (ebd. S. 55). Differenziert wird dabei zwischen innen und äußeren Antagonismen (ebd. S. 55 f.). Beide Konzepte, die Kritik am Parlamentarismus und das der Pluralität, werden im Anschluss daran gegenübergestellt und unter Bezugnahme auf Oliver Marchart als totalitäres Phänomen unter dem Schlaglicht „alles ist politisch“ als Politisches perspektiviert (Marchart 2010, S. 88). Dieser nämlich diskutiert kritisch die technokratische Managerisierung von Politischem, wenn alles politisch ist und gleichzeitig Räume des Öffentlichen schwinden. Jean-Luc Nancy zufolge bedeutet Gemeinschaft „kein gemeinsames Sein […], sondern [meint] die Weise des Gemeinsamen einer Existenz ohne Essenz bzw. einer Existenz, deren Essenz Existenz ist“ (Esposito 2010, S. 95). Es geht also nicht um ein plurales Nebeneinandersein von verschiedenen Ausdrucksformen, sondern um eine Reflexion dieses Mangels an Identität als „Zwischen des Mit-Seins“ und einer ständigen Begründung dessen (vgl. Schäfer 2021, S. 59). Nancy nach ist ein Ausdruck von Demokratie immer „Revolution in der Schwebe“ (Nancy 2012, S. 77) und bedeutet das gemeinsame Auftreten als Gemeinschaft; also die Teilung und Mit-Teilung, welche auch Brüche aufweist, aber eben nicht durch eine „ethnozentrische[…] Selbsteinmauerung“ (Bedorf 2019, S. 39) möglich wird. Claude Leforts begreift Demokratie als „radikale Umbestimmtheit“ (Lefort 1979, S. 51), welche „Entwicklungsmöglichkeiten offen [hält] und […] nie auf[hört], eine Erfahrung des Anderen zu befördern.“ (ebd.). Schäfer beschreibt, dass Gesellschaft über Klassifizierungsversuche soziale Identität konfigurieren möchte und auf diese Weise symbolische Ordnung herstellt. Diese jedoch stellen lediglich Institutionalisierungsversuche durch Macht dar und bedürfen im Anschluss an Claude Lefort kritische Betrachtungs- und Handhabungsweisen, um „Demokratie als demokratisch und Politik als politisch“ (Marchart 2010c, S. 30) zu reflektieren und zu leben.

Für Jaques Rancière bedeutet Politik, so führt Schäfer es weiter aus, immer auch Emanzipation (Marchart 2010, S. 180), die das die Gesellschaft im Allgemeinen beruhigende Gleichheitsgefühl (vgl. Bensaid, S. 25) überwinden muss. Das Politische ist dann der Ort der Auseinandersetzung (vgl. Rancière2002, S. 73) und eine ständige Form des Unterbrechens von Vorhandenem, ihrer Gleichheitslogiken; also eine Diskussion von Singularitäten in Universalität, die uns identitätsstiftend und quantifizierbar macht, jedoch ortsspezifisch hergestellt wird (vgl. Schäfer2021, S. 68). Nachfolgend erläutert Schäfer das Verhältnis zwischen Politik und Politischem aus Sicht von Ernesto Laclau (Schäfer 2021, S. 68 ff.) sowie Chantal Mouffe, welche in dem Politischen die Konflikthaftigkeit in der Politik, als Vorgabe von Ordnung, betrachtet (Mouffe 2007, S. 80).

Für Schäfer ist es notwendig, Kontingenz, Pluralität und Konfliktualität in der internationalen Jugendarbeit zum Gegenstand kritischen Denkens zu machen (vgl. Schäfer 2021, S. 76). Er beschreibt, was internationale Jugendarbeit im Hinblick auf sein eigenes Verständnis alles nicht machen solle. Ebenfalls fragt er, wie das Konzept des Kosmopolitismus als moderne und nicht kritikfreie Form weitgedacht werden sollte. Wichtig sei es, kritisch zu reflektieren, das Kosmopolitismus vor allem ein westlich geprägtes Konzept sei, das „regionale historische Sonderentwicklung universalisiert“ (Bedorf 2010, S. 25) und eher einer Utopie gleicht, die Innen und Außen nicht zwangsläufig mitdenkt und eine Erweiterung um politische Differenz bedarf. „Gegen Modelle des mehr oder wenig offen rassistischen Ethnopluralismus, des politischen wie methodologischen Nationalismus sowie Neoliberalismus und ihre Angriffe auf demokratische Institutionen wären vor dem Hintergrund der Theorien der politischen Differenz zu fragen, wie eine 'gewisse Gemeinschaft' (Nancy) zu denen wäre, ohne die grundsätzliche 'Teil des Sozialen' (Lefort) zugunsten einer Imagination der globalen Versöhnung so aufzulösen, das Kontinenz, Pluralität und Konfliktualität ausgeblendet, politische Interessen, Gegensätze und Widersprüche übergangen und soziale Ausschlüssen übersehen oder gar im Namen der Demokratie gerechtfertigt werden.“ (Schäfer 2021, S. 79–80)

In seinem drittel Kapitel reflektiert Schäfer in Anknüpfung an seine Ausführungen zu Politik und Politischem die Pädagogik und das Pädagogische und wirbt für einen kritischen Blick auf die ordnungsstiftende Selbstverständlichkeit des Pädagogischen, welches vor allem auf bereits Vorhandenes zugreift und dieses reproduziert anstelle eine Verhältnisbestimmung von Pädagogischen und Politischen als reflexive Notwendigkeit für pädagogisches Handeln (vgl. Dollinger 2013, S. 189) und kritische Reflexion von Kontingenzbegründungen herzustellen.

Unter Bezugnahme auf „Bildung und Demokratie als Schnittstelle pädagogischer Differenz“ verweist der Autor im Anschluss daran auf Roland Reichenbachs Grundauffassung, alle soziale Praxen haben immer auch eine pädagogische Bedeutung, die erst erlernt werden müssten (vgl. Schäfer 2021, S. 87); setzt Politisches und Pädagogisches aber nicht gleich. Schäfer diskutiert das unhinterfragte „man“ (Reichenbach 2016), welches eine Hinterfragung des Gegebenen verunmöglicht und vor allem Konfirmismus produziert. Reichenbach zufolge bedarf es ein klares Verständnisses, Kinder und Jugendliche als mündige Bürger:innen anzuerkennen und nicht erst (etwa) durch Erziehung zu ihnen zu machen (vgl. Schäfer 2021, S. 90). „Demokratie und politische Kultur zeichnen sich für Reichenbach dadurch aus, das prinzipiell allen die Möglichkeit offen steht, vor einer Allgemeinheit sichtbar und hörbar zu werden und sich handelnd an der öffentlichen Gestaltung des Weltlich-Gemeinsamen zu beteiligen.“ (ebd. S. 92). Ihm zufolge sollte Pädagogik am Handeln bzw. Nicht-Handeln ansetzen und dieses Verhältnis problematisieren. Dazu brauche es aus pädagogischer Perspektive für junge Menschen die Freiheit, das zu praktizieren und nicht Erziehung. Michael Wimmer verweist in seinen bildungsphilosophischen Ansätzen auf die „Kontingenz, Ungewissheit, Unbestimmtheit und Unvorsehrbarkeit“ (Schäfer S. 92 nach Wimmer 2019) und kritisiert die Zukunftgewandtheit von Pädagogik, die eine technokratisierte und erziehende Gesamtheit zur Folge hat (ebd. S. 93). Auch die internationale Jugendarbeit sei davon betroffen, wie es aktuelle Programme zeigen. Eine mit politischen Normativen konfrontierte und überfrachtete Pädagogik führe also zu Paradoxien im pädagogischen Handeln. Erziehung und Bildung könnten ihm zufolge nicht normativ etwa durch Zielstellungen begründet werden. Pädagogik kann durch Pädagogisches überschritten werden. Dabei handelt es sich um eine reflexive Kritik und um die Überwindung eines pädagogischen Schon-Raums als Akzeptanz allen Vorhandenen (Schäfer 2021, S. 96–97). Der Autor diskutiert Vorstellungen von Alfred Schäfer mit seinem Hinweis auf eine „pädagogischen Entpolitisierungsstrategie“ (Schäfer 2014). Mit Carsten Bünger überlegt er weiter, „wie sich soziale Ordnung und subjektive Orientierung begründen lassen, wenn transzendente Instanzen, die eine metaphysische Absicherung der Sozialordnung wie der Selbstverhältnisse gewährleisten sollen, fraglich werden.“ (Schäfer 2021, S. 102) Mündigkeit ist hier kein Ziel von Pädagogik, sondern ein immerwährendes Dasein, das andere Möglichkeiten des Möglichen (vgl. Bünger 2013, S. 206) offeriert. Es brauche, so der Autor, auch in der internationalen Jugendarbeit und in der Pädagogik insgesamt, weniger „entpolitiserende Management- und Kompetenzvermittlungsmodelle“ (Schäfer 2021, S. 106) als vielmehr Raum und Gelegenheit für Demokratie „als Erfahrungsweise von Kontingenz“ (Bünger 2013, S. 219), die es ermöglicht gegen geschlossene Hegemonien und Herrschaftsstaatlichkeit vorzugehen.

In seinem vorletzten Kapitel diskutiert Schäfer Kontingenz und radikale Demokratie als Bildungsangelegenheit und versucht dem Politischen in der politischen Bildung nachzuspüren. Ausgehend vom Re-Educationprogramm der Alliierten nach 1945 und der sich dann entwickelnden Jugendwerke sieht er einen Zusammenhang zwischen (außen)politischen Themen und der internationalen Jugendarbeit, deren Verhältnis jedoch weiter klärungsbedürftig ist. Im Anschluss an seinen Ausführungen zu Politik als Gegenstand von politischer Bildung beleuchtet er politische Differenz und Skizzen der radikalen Demokratietheorien in der politischen Bildung spezifischer und führt unter anderem Tonio Oeftering ein, welcher verschiedene Ansätze zur Überwindung der unpolitischen politischen Bildung entwickelt hat. Ihm geht es nicht um das Abhandeln bereits bestehender Ordnungssysteme, sondern um das Handeln als politische Praxis (Handlungsmodus) selbst (Schäfer 2021, S. 111 ff.), bei der Integration und Emanzipation als Gleichzeitigkeit gedacht werden. Politische Bildung bedeutet immer, sich selbst und alles jederzeit infrage zu stellen und kritisches Nachdenken als ein Nachdenken, das nicht aufhören darf. Christian Kirschner reflektiert dabei die immerwährende Unbestimmtheit politischen Handelns als Notwendigkeit und betrachtet Kontingenz als Bildungsgelegenheit. Im Anschluss an Jaques Ranciers betont dieser den Dissens als wichtigen Punkt politischen Handelns, welcher Vorhandenes nicht einfach reproduziert. „Politische Bildung könne keinen festen Gegenstand haben, weil es diesen schlichtweg nicht gebe“ (Schäfer 2021, S. 115) und immer ein Überprüfen von Polizeilichkeit und Ordnung als Hegemonie braucht. „Ins Zentrum rückt [im Anschluss an Judith Butler und Michel Foucault] damit der Zusammenhang von Politik/​Polizei und Subjektivierungsweisen“ (ebd. S. 116). Es geht um das Wie als Analyseform von Gesellschaft; also die Frage kritischer politischer Bildung, wie Identitäten, Lebensweisen, Diskurse, Wahrheiten oder das Verhältnis von Subjekt und Macht (re)produziert werden. Unter Bezugnahme auf Margit Rodrian-Pfennig wird ein weiteres Mal darauf verwiesen, dass es kein politisches Desinteresse junger Menschen gibt, sondern „politische Entscheidungen entweder nur noch als Vollzug einer vorgeblichen Zwangslogik erfolgen oder gänzlich in den Händen von sog. Expertengremien liegen“ (Rodrian-Pfennig 2000, S. 158) und deswegen uninteressant sein könnten. Der Autor sieht in der politischen Bildung das Potenzial der Demokratisierung von Demokratie (Schäfer 2021, S. 119). Malte Eschenbach wirbt dabei für ein kontingenztheorie-kritische Betrachtung und wirbt um eine Aufdeckung und Diskussion „epistemischer Gewalt durch Bezeichnungspraktiken und deren performative Wirkmächtigkeit.“ (Eschenbach 2017, S. 41) Ihm zufolge braucht es eine Verschiebung von der sich hinzuwendenden Dimension Politik auf das Politische und der ständigen Infragestellung von vorherrschenden Schließungen als Form des un/doing difference (vgl. ebd. S. 42, 44). Politische Differenz sollte in der politischen Bildung aus Sicht des Autors ein Orientierungspunkt für die internationale Jugendarbeit sein (Schäfer 2021, S. 122–124). Er kritisiert abermals die fehlende konzeptionelle Ausschärfung politischer Bildung im Kontext internationaler Jugendarbeit.

In seinem Abschlusskapitel resümiert Schäfer das vermeintlich Politische (in) der internationalen Jugendarbeit und fasst seine vorherigen Ausführungen zusammen. Er prospektiert einen poststrukturalistischen Ansatz, der die politische Bildungsarbeit in der internationalen Jugendarbeit aus seiner Sicht vitalisieren kann. Es braucht eine dekonstruktive Perspektive, eine Auseinandersetzung mit Kontingenz und eine kritische Verhältnisbestimmung von Bildung und Demokratie, um „unhintergehbare Bezugspunkte internationaler Jugendarbeit zu verteidigen, theoretisch auszuformulieren und – im Bewusstsein um die Kontingenz und Rhetorizität dieser Setzungen – auf konzeptioneller und institutioneller Ebene stärker zu verankern.“ (Schäfer 2021, S. 129).

Schließlich geht es darum, sich folgendes einzugestehen: „Unsere Hoffnung hängt immer an dem Neuen, das jede Generation bringt; aber gerade weil wir nur hierauf unsere Hoffnung setzen können, verderben wir alles, wenn wir versuchen, das Neue so in die Hand zu bekommen, dass wir, die Alten, bestimmen können, wie es aussehen wird.“ (Arendt 1958/2013, S. 273). „Erst wenn es der nachwachsenden Generation möglich ist, der Welt der Alten auch mit Ablehnung und Widerstand zu begegnen, die Initiative zu ergreifen und Dinge anders zu machen, ist ein generationaler Antagonismus aufgezeigt, der das agonale Feld des Politischen auch für junge Menschen öffnet.“ (Schäfer nach Jacobs 2019, S. 34) Es braucht also eine Pädagogik die Handlungsräume bereitstellt, in den Anfänge und Anfangen grundsätzlich und immer wieder möglich ist, die an den Interessen und Bedürfnissen junger Menschen anknüpft und „diese ernst nimmt […], damit sie nicht im Nichts verhallen, und die letztlich darauf zielt, Jugendliche in (internationale) Handlungszusammenhänge zu verstricken und sie dabei zu begleiten, sich die Welt anzueignen.“ (Schäfer, 2021, S. 132)

Diskussion

Das Werk „Internationale Jugendarbeit und politische Theorie“ von Stefan Schäfer möchte wie im Untertitel erklärt, handlungsfeldspezifische und heuristische Diskurse und Perspektiven diskutieren und miteinander verschränken. Unter Bezugnahme auf eine Vielzahl einschlägiger Autor:innen referiert der Autor verschiedene politische Theorienansätze, zählt diese jedoch eher in einem Nebeneinander auf, verschränkt diese an einigen Stellen – ohne jedoch einen an vielen Stellen erwartbaren durchgängigen Querverweis zum eigentlichen Gegenstand nämlich der internationalen Jugendarbeit zu ziehen. Das Werk birgt gelegentlich einen Sammelbandcharakter, der den Lesenden skizzenhafte Einblicke in verschiedene politiktheoretische Ansätze ermöglicht und den Politik-, später dann auch, wenngleich etwas schmaler gehalten, den Bildungs- und Demokratiebegriff umfänglich und differenziert perspektiviert. Das normative Appellativ an alle, sich mit Kontinenz, Pluralität und Konfliktualität kritisch-reflexiv auseinanderzusetzen, durchdringt die gesamte Arbeit.

Fazit

Der Autor kritisiert zu Beginn seiner Ausführungen das fehlende Politische im handlungspraktischen Diskurs der internationalen Jugendarbeit und nähert sich diesem, aus seiner Sicht vorhandenen blinden Fleck, unter Bezugnahme auf eine Vielzahl theoretischer Konzepte. Er versucht sich an einer Verhältnisbestimmung um verschiedene Termini wie Politik, das Politische, Pädagogik, das Pädagogische, Bildung und Demokratie.

Gleichwohl er den gegenwärtigen theoretisch-konzeptionellen Diskurs internationaler Jugendarbeit und seinen politischen Bildungsbegriff vielerorts verkürzt und vor allem technokratisch-didaktisch bewertet, bietet er trotz seiner vielfältigen Darstellungen keinen abschließenden sich an die Praxis wendenden Entwurf, wie seine Vorstellungen von kritisch-reflexiver politischer Bildungsarbeit in der internationalen Jugendarbeit implementiert werden können.

Das Buch bietet eine gelungene grundlagenpolitische Übersicht zum Differenzverständnis von Politik und Politischem, könnte für die Akteur:innen der internationalen Jugendarbeit an vielen Stellen jedoch nur schwer zugänglich sein. Zur Diskursteilhabe und Diskursführung braucht es einen Dialog auf Augenhöhe zwischen Praxis und Theorie. Stefan Schäfer verweist mit seinen Ausführungen um eines mehr auf fehlende empirische etwa praxisforschende Hinweise und Zugänge, wie politische Bildung in der internationalen Jugendarbeit und internationale Jugendarbeit überhaupt hergestellt wird.

Rezension von
Jennifer Hübner
Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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Es gibt 3 Rezensionen von Jennifer Hübner.

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Zitiervorschlag
Jennifer Hübner. Rezension vom 12.10.2021 zu: Stefan Schäfer: Internationale Jugendarbeit und politische Theorie. Diskurse und Perspektiven. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2021. ISBN 978-3-7344-1160-1. Reihe: Non-formale politische Bildung - Band 20. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27850.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.


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