Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen
Rezensiert von Prof. Dr. med. Gertraud Müller, 11.02.2021

Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Hogrefe AG (Bern) 2020. 328 Seiten. ISBN 978-3-456-86011-4. 59,95 EUR.
Thema
Das vorliegende Werk stellt ein strukturiertes, klares Vorgehen bei der Diagnostik der verwirrenden Vielfalt miteinander in Beziehung stehender Traumafolgestörungen vorwiegend bei Erwachsenen vor, in dem es 5 Trauma-Dissoziations-Achsen entwirft und die neue WHO-Krankheitsklassifikation (ICD 11) als Rahmen nutzt. Es geht aber weit über die ICD hinaus, in dem es, wenn diese therapierelevant sind, auch weitere diagnostische Differenzierungen beschreibt, oder wie A. Maerker in seinem Vorwort meint: „Es bietet ein 'Netzwerk' von klinischen Beurteilungsaspekten“. Die neueren, teilweise heiß diskutierten Entitäten, wie komplexe posttraumatische Belastungsstörung und insbesondere die dissoziativen Störungen – hier insbesondere gestützt auf die holländische Arbeitsgruppe Boon, Nijenhuis, Steele, van der Hart- werden ausführlicher besprochen als die altbekannten akuten posttraumatischen. Immer wieder wird auf diagnostische (z.B. Anosognosie!) und therapeutische (z.B. Stellenwert, Zeitpunkt konfrontativer Verfahren) Fallstricke hingewiesen.
Das Buch will „einen Überblick zur umfassenden Diagnostik von Traumafolgestörungen geben“ und so Bücher, deren Hauptfokus die Therapie bzw. Einzelbereiche der Diagnostik darstellen, sinnvoll, die Fülle neuerer Erkenntnisse zusammentragend, ergänzen. Es ist „kein Diagnosemanual sondern eine strukturierte Denkhilfe für eine umfassende Diagnostik“.
Autor
Der Schweizer Autor Dr. med. Jan Gysi ist Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie FMH mit langjähriger Erfahrung sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Arbeit mit Menschen, die an psychischen Krankheiten, insbesondere Traumafolgen leiden und einer breiten Weiterbildungstätigkeit zu dieser Thematik (www.jangysi.ch).
Aufbau
Nach einem ersten Kapitel, das sich mit grundsätzlichen Fragen zum Thema „Trauma“ auseinandersetzt und das Achsenmodel vorstellt, folgt die Beschreibung der 5 Achsen des Trauma-Dissoziations-Modells [1] (Bindungsstörungen/Persönlichkeitsstörungen – spezifisch belastungsbezogene Störungen- strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit – dissoziative Symptome – komorbide Störungen) gefolgt von einem Kapitel, das sich mit den diagnostischen Aspekten für Berichte an Strafverfolgungsbehörden auseinandersetzt. Im letzten Kapitel „Fragenübersicht“ wird nochmals dargelegt – strukturiert nach den Achsen und wesentlichen diagnostischen Inhalten- welche Fragen im Anamnesegespräch zu stellen sind, mit Querverweisen zu Fragenlisten im Buch. Am Anfang des Buches findet sich ein „Navigator“ – übersichtliche Tabellen zu den einzelnen Achsen und zum Diagnostik-Therapie-Prozess-, am Ende ein ausführliches Stichwortverzeichnis.
Inhalt
Im ersten, einleitenden Kapitel werden einige Grundbegriffe definiert und verschiedene Typen traumatisierender Ereignisse incl. Bindungstraumatisierungen und Traumatisierung durch schwere Krankheit vorgestellt. Neben der kurz beschriebenen bekannten Traumatisierungstypologie nach Terr (TypI I: kurzfristig, einmalig und Typ II: mehrfach, langfristig) wird ein neu hinzugefügter Typ III (organisierte und ritualisierte Gewaltstruktur) ausführlicher beschrieben: Die Häufigkeit dieses Phänomens, die Rolle neuerer Technologien/​Medien, als auch die gezielte Absicht der TäterInnenschaft, bewusst eine komplexe PTSB bzw. strukturelle Dissoziation beim Opfer zu erzielen. Weiterhin geht der Autor auf grundsätzliche Voraussetzungen für die Exploration traumatischer Störungen ein und weist darauf hin, dass z.B. wegen der bei den Betroffenen häufig vorkommenden Anosognosie Traumadiagnostik immer auch Prozessdiagnostik ist und konfrontative Elemente enthält, mit denen professionell umzugehen ist.
Im zweiten Kapitel -Persönlichkeitsstörungen- wird zu Beginn klargestellt, dass diese Störungen neben genetischer Vulnerabilität durch Bindungs- bzw. Beziehungstraumatisierungen bedingt sind und als solche insbesondere wegen der hohen therapeutischen Relevanz abzuklären sind. Die neue Einteilung der ICD-11 nach Schwergrad und 5 Merkmalsdomänen wird ebenso dargestellt, wie die weiterhin umstrittene Diagnosekategorie „Borderline-Muster“. In diesem Kapitel erfolgt nochmals ein Hinweis zur allgemeinen Traumadiagnostik (indikations-, prozessorientierte und evaluative Diagnostik) und der hierfür ggf. verwendbaren Therapieeinschätzungsskalen, sowie zur Diagnostik der Ressourcen.
Im dritten Kapitel -spezifische belastungsbezogene Störungen- werden traumatisierende Ereignisse und Prozesse definiert und die Diagnosen nach ICD 11: Anpassungsstörung, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), komplexe Posttraumtische Belastungsstörung (kPTBS) und anhaltende Trauerstörung, vorgestellt. Hierbei wird der diagnostische Prozess – wie im gesamten Buch- bis auf die zu stellenden Fragen „heruntergebrochen“ und es werden die geeigneten Fragebogen vorgestellt. Wegen der hohen therapeutischen und diagnostischen (und auch forensischen) Relevanz wird ausführlich auf die peritraumatische Dissoziation eingegangen. Auch im ICD-11 nicht explizit Erwähntes, wie Hypoarousal und angst- bzw. wut- oder schambasierte PTBS werden wegen der Therapierelevanz dargestellt, wichtige Differentialdiagnosen wie z.B. kPTBS – Borderline-Störung werden teils tabellarisch ausführlich besprochen. Intensiv geht der Autor auf eine nicht im ICD bzw. DSM genannte besonders vulnerable, häufig verkannte PatientInnengruppe ein, diejenigen, die noch der Gewalt ausgesetzt sind – er nennt sie Belastungsstörungen bei anhaltender Traumatisierung- praktisch von erheblicher Relevanz, sind hier ja Schutzmaßnahmen von prioritärer Bedeutung!
Das vierte Kapitel ist der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit gewidmet, der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bzw. partiellen dissoziativen Identitätsstörung (PDIS) nach ICD 11, also Krankheitsbildern, bei denen unterschiedliche Persönlichkeitszustände das exekutive Handeln übernehmen und die heute als wissenschaftlich gesichert gelten. Diagnostische Kriterien und die sich daraus ergebende Operationalisierung, nämlich welche Fragen aktiv! zu stellen sind, werden ebenso ausführlich beleuchtet, wie die Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung. Da diese Krankheitsbilder häufig übersehen werden, u.a. weil die PatientInnen selbst ihre Krankheit nicht erkennen können (Anosognosie), bzw. weil Scham sie daran hindert, ihre Symptome spontan zu berichten, werden die diagnostischen Hürden und die Möglichkeiten ihrer Überwindung ausführlich dargestellt -das Kapitel hat 92 Seiten-, ebenso auch hilfreiche Frageinstrumente. Besonders wichtig auch die Tabellen zur differentialdiagnostischen Differenzierung von pPTBS, Borderlinestörung, Schizophrenie/​psychotische Störungen, bipolare Störungen und Hinweise zur Unterscheidung der imitierten DIS. Das Kapitel schließt mit der ausführlichen Darstellung der weiterführenden spezialisierten Diagnostik der einzelnen Anteile, die prozessorientiert den einzelnen Therapiephasen zugeordnet wird.
Das fünfte Kapitel – dissoziative Symptome- bewegt sich im Grenzgebiet zwischen Somatik und Psychiatrie. Der Autor geht davon aus, dass es heute als wissenschaftlich gesichert gilt, dass diese früher „funktionell“ u.a. genannten Störungen traumabedingt sind. Das Quadrantenmodell dieser Störungen (somatoform, psychoform, Plus- und Minussymptome) wird beschrieben. Dann werden die unterschiedlichen Erscheinungsformen dargestellt. Besonders ausführlich werden die dissoziativen Amnesien und die nicht-Epileptischen Krampfanfälle abgehandelt, wobei neben der nicht einfachen Diagnose auch auf die weitreichenden Konsequenzen bei Fehldiagnosen, wie z.B. unnötige Medikamentengabe ausführlich verwiesen wird. Zuletzt werden noch Trancestörungen abgegrenzt.
Das sechste Kapitel widmet sich der letzten Achse – den komorbiden Störungen – ein ebenfalls wichtiges Feld, da bei 50 – 100 % der PatientInnen mit PTBS Komorbiditäten gefunden werden. Hier wird besonderer Wert auf den Zusammenhang der Traumafolgestörung mit der Zweitkrankheit, wie Sucht, Essstörung u.a. gelegt, wie z.B. der Funktion der Traumafolgenregulation. Schwierigkeiten der Diagnostik (z.B. Amnesie bei Dissoziation oder Suchtmittelgebrauch?) werden aufgezeigt. Wieder wird intensiv auf wichtige Differentialdiagnosen, wie z.B. Zwangssymptome versus strukturelle Dissoziation eingegangen. Zwei potentielle Komorbiditäten bzw. auch Differentialdiagnosen aus der Kinder- und Jugendmedizin, nämlich Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung und Autismus-Spektrum-Störung werden besprochen.
Das siebte Kapitel – diagnostische Aspekte für Berichte an Strafverfolgungsbehörden- gibt wichtige Hinweise für das diagnostische und psychotherapeutische Vorgehen und schriftlichen Stellungnahmen bei potentiellen Kontakten mit Polizei und Justiz. Diese reichen von der richtigen Verwendung juristisch relevanter Begrifflichkeiten bis zum Umgang mit sogenannten Glaubhaftigkeitsproblemen, wie z.B. fehlender Wehrhaftigkeit bei peritraumatischem Stupor, „verspäteter“ Anzeige, Vergewaltigungsmythen u.a. Hinweise zu typischen posttraumatischen Erinnerungsqualitäten, richtiger und falscher Erinnerung schließen das Kapitel ab.
Im letzten Kapitel erfolgt geordnet nach den Achsen und unterschiedlichen Diagnosekriterien eine Übersicht über die zu stellenden diagnostischen Fragen mit Querverweisen zu den Vorkapiteln.
Diskussion
Jan Gysi schreibt in seinem Vorwort, dass er an diesem Buch über 10 Jahre gearbeitet habe – diese lange und wohl auch intensive Arbeit ist diesem Buch sehr gut bekommen: Prägnant wird das Wesentliche für eine umfangreiche Traumafolgediagnostik herausgearbeitet – kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig. Neuere Aspekte seines Themas, die noch nicht Allgemeingut sind, wie z.B. die dissoziativen Störungen werden sinnvollerweise ausführlicher behandelt, als Altbekanntes. Einerseits wird immer wieder viel praktische Erfahrung sichtbar, wenn z.B. Zusatzinformationen gegeben werden, inwiefern eine gute Diagnostik in einem bestimmten Bereich unabdingbar ist, weil eine therapeutische Relevanz, z.B. hinsichtlich des Zeitpunkts einer Traumakonfrontation, besteht. Andererseits weist das Buch eine sehr gute theoretische Fundierung auf, was sich in einer ausgezeichneten Literaturarbeit ebenso zeigt, wie durch Hinweise, was nun wissenschaftlich gesichert und wo noch Forschung vonnöten sei. Sehr hilfreich sind die gutausgewählten Fallvignetten und die hervorragende Strukturierung des Textes – Hervorhebungen von Wichtigem, zahlreiche Tabellen und Schemazeichnungen. Dabei ist das Buch aber kein reiner „Spiegelstrichtext“ – der rote Faden ist im Fließtext stets vorhanden. Die allgemeinen Hinweise zur Diagnostik und das Kapitel über die Besonderheiten der Diagnostik im forensischen Kontext ist für jede PraktikerIn wichtig und ausgesprochen hilfreich. Das ganze Werk ist von einer wohl humanistisch zu nennenden Grundhaltung durchdrungen, was ersichtlich wird, wenn immer wieder vor Stigmatisierung der PatientInnen gewarnt wird und „Symptome“ konsequent auf die erlittene Traumatisierung zurückgeführt werden. Auch dem Verlag ist ein Kompliment zu machen – die redaktionelle Arbeit ist sorgfältig -es finden sich so gut wie keine Fehler-, die Tabellen und Zeichnungen sind graphisch gut gestaltet und in den Text integriert, nur die hellblaue Schrift bei den Überschriften ist manchmal schwer lesbar.
Eine Anregung sei noch gestattet: Im Eingangskapitel ist zu lesen, dass das Achsenmodell auf keiner Therapieschule und keinem spezifisch psychologischen Modell (z.B. Psychoanalyse, kognitive Verhaltenstherapie, humanistische Psychologie) beruht – verschwiegen wird aber, auf welchem Paradigma, welcher theoretischen Grundlage es denn nun basiert – einem so gut theoretisch fundierten Werk stünde ein kurze Aussage hierzu gut an, auch wenn das gerade in der medizinischen Wissenschaft (leider) eher unüblich ist.
Fazit
Jan Gysi hat ein Werk vorgelegt, das die komplexe Diagnostik von Traumafolgestörungen und manchmal darüber hinaus wichtige prognostische und therapeutische Konsequenzen umfassend, wissenschaftlich fundiert, auf dem neuesten Stand und praxisrelevant gut verständlich darstellt. Es werden nicht nur die in der ICD-11 Erwähnung findenden Diagnosen dargestellt, sondern auch Krankheitsentitäten darüber hinaus, wenn sie für die Betroffenen bzw. die einzuschlagende Therapie wesentlich sind, wie z.B. „Belastungsstörungen bei anhaltender Traumatisierung“. Er entwirft ein Trauma-Dissoziations-Modell, das aus 5 Achsen besteht: Bindungsstörungen/Persönlichkeitsstörungen – spezifisch belastungsbezogene Störungen- strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit – dissoziative Symptome – komorbide Störungen und weist außerdem in einem speziellen Kapitel auf forensisch wichtige Aspekte hin. Neuere, noch nicht so bekannte Aspekte der Diagnostik bzw. besonders häufig übersehene, schwierige Diagnosen werden besonders ausführlich behandelt, wie z.B. die dissoziativen Störungen. Sehr hilfreich sind für den schnellen Überblick die zahlreichen, gut strukturierten Tabellen – z.B. zu Differentialdiagnosen- und Überblicksgraphiken. Kurze Fallvignetten dienen der Veranschaulichung. Das Werk ruft nochmals ins Gedächtnis, wie wichtig eine fundierte Diagnose für eine ebensolche therapeutische Entscheidung ist und dass es darum geht, mit ausreichend Zeit, ggf. viel Zeit! die richtigen Fragen aktiv! zu stellen – und das nicht zuletzt in einem angemessen traumasensiblen Setting. Es wäre wünschenswert, dass viele Professionelle, sowohl die „Newcomer“ als auch die „alten Hasen“ im Bereich der Psychotraumatologie, sei es aus dem medizinischen, pflegerischen, psychologischen oder sozialarbeiterischen Bereich, dieses Buch lesen und beherzigen, um den KlientInnen -vor allem denjenigen, mit den schwierig zu stellenden Diagnosen aus dem dissoziativen Formenkreis- eine adäquate Diagnostik und Therapie sofort und nicht erst nach Jahren der Chronifizierung zu Teil werden zu lassen.
[1] Die Achsen haben keine Gemeinsamkeiten mit den ehemaligen Achsen des DSM-III bzw VI.
Rezension von
Prof. Dr. med. Gertraud Müller
Internistin, Psychotherapie; KIP-Therapeutin;
Fakultät für Sozialwissenschaften der Evangelischen Hochschule Nürnberg
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Es gibt 11 Rezensionen von Gertraud Müller.
Zitiervorschlag
Gertraud Müller. Rezension vom 11.02.2021 zu:
Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Hogrefe AG
(Bern) 2020.
ISBN 978-3-456-86011-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27854.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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