Markus Heidingsfelder, Maren Lehmann: Corona
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 01.09.2021

Markus Heidingsfelder, Maren Lehmann: Corona. Weltgesellschaft im Ausnahmezustand? Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2020. 364 Seiten. ISBN 978-3-95832-237-0. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Es geht den Herausgebern um die Benennung dessen, welche Deklarierung der Corona-Pandemie am ehesten gerecht zu werden scheint. So wenden sie sich zunächst dagegen, dass es sich bei dieser globalen Krise um einen Ausnahmezustand handelt, da sich die Weltgesellschaft in eine inklusive Umgebung gewandelt hat, „die alle ihre Grenzen untereinander vernetzt, die kein Außen mehr abtrennt und kein Innen mehr isoliert, die komplex und unsicher ist und von der es keinen Rückzug in Einfachheit und Sicherheit gibt“ (S. 9) – und es sich somit bei der Corona-Krise nicht um eine Ausnahme handeln könne. Sie gehen eher davon aus – und dies gilt als Grundtenor der Publikation – dass das Ganze als Plage, als Warnung verstanden werden muss hinsichtlich der Implikationen einer vernetzten, inklusiven Globalität. Die beiden Herausgeber verstehen ihr Werk im Sinne der Konzipierung eines Beobachtungsgeflechts, “ das weder situativen Wahrnehmungen noch begrifflichen Erklärungen Vorrang gibt, ihnen allen aber den Platz einräumt, den diese sich ohnehin zu nehmen verstehen“ (S. 12).
Herausgeber:in
Markus Heidingsfelder, Assistant Professor für Media Studies an der Xiamen University Malaysia.
Maren Lehmann ist seit 2014 Lehrstuhlinhaberin für Soziologische Theorie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Privatdozentin an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt.
Entstehungshintergrund
Bei Drucklegung des Bandes waren mehr als 15 Millionen Menschen mit dem Corona-Virus infiziert, weshalb es sich die Herausgeber zur Aufgabe gemacht haben, unter den verschiedensten Aspekten die Implikationen auf die Weltgesellschaft als Folge einer sich immer stärker vernetzenden Welt zu eruieren. Dabei nehmen die Autoren (ähnlich wie schon Kröll, Platzer, Ruckenbauer, Schaupp in Ihrem vom Rezensenten im Mai besprochenen Werk: Die Corona-Pandemie) in Kauf, dass aus einer möglichst aktuellen analysierenden Untersuchung heraus mögliche weiterreichende Entwicklungsverläufe nicht berücksichtigt werden können, weshalb explizit seitens der Herausgeber auf eine sehr tastende Vorgehensweise der Verfasser der Einzelbeiträge hingewiesen wird.
Aufbau
Das Werk gliedert sich in fünf Themenbereiche, die jeweils in bis zu sieben Kapitel untergliedert sind. Dem vorangestellt ist eine Vorbemerkung der beiden Herausgeber; den Abschluss bilden editorische Notizen, ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, sowie konkretere Angaben über die Herausgeber.
Inhalte
Der erste Themenbereich ist mit 'Annäherungen' überschrieben und beinhaltet sechs Beiträge. Der erste Beitrag „Letters against Separation“ der chinesischen Autoren Ding, Quingshuo und Xinghua Lu bildet in brieflicher Darlegung Betroffener die Sorge um die im Verlaufe des Sommers 2020 zunehmende Gefahr der Isolation bzw. Trennung von all dem gesellschaftlichen Leben, wie es sich aufgrund der Lockdown-Maßnahmen in der Region Wuhan in China ergeben hat, wider.
Der Literat Durs Grünbaum (der sowohl in Berlin wie auch in Rom lebt) geht von einer 'großen Überforderung aus', die sich aus der Pandemie ergibt und sieht in der ganzen Entwicklung einen Alptraum, „der nicht mehr aufhört, aus dem es kein Erwachen gibt…“ (S. 40). Dabei vergleicht er die Reaktionen, wie sie sich in Deutschland ergeben und wie sie in Italien feststellbar sind.
Auch die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken geht von ihrem persönlichen Erleben der Corona-Pandemie aus und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass sich aus dem gemeinsamen Erleben ein Band des Zusammenhalts unserer Gesellschaft ergibt. Weitere Beiträge (Jörg Heiser und Peter Fuchs) beschäftigen sich mit den Auswirkungen auf die Kunst- und Kulturwelt.
Der nächste Themenbereich 'Zugänge' wird weitgehend mit englischsprachigen Beiträgen bestritten. Dabei geht es natürlich um die Wirkungen der Pandemie auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten. So beschreibt etwa der Soziologe Dirk Baecker die Auswirkung von Corona auf die 'pulsierende Gesellschaft' durch die Abstandsregelungen, das Maskentragen oder durch den teilweisen temporären Verzicht auf gesellschaftliche Funktionen.
Die italienische Soziologin und Schriftstellerin Elena Esposito macht sich in ihrem Beitrag mittels des Instrumentariums der soziologischen Systemtheorie an die Analyse der Notlage, die sich aus der Existenz des Coronavirus unter dem Aspekt der „Systemic Integration and the Need for De-Integration in Pandemic Times“ speziell für eine 'systemische', 'soziale' wie auch 'geographische Integration' auf der Basis von notwendiger Diversität ergibt.
Die weiteren Beiträge diese Themenbereichs beschäftigen sich u.a. mit Überwachungssystemen und Kooperationsmöglichkeiten im Zusammenhang mit einer globalen Infektionskrankheit (Alka Menon), mit der Konfrontation der Wissenschaft mit einer 'new reality' (Michael King), oder aber auch mit „Verbotene[n] und erlaubte[n] Sozialformen“. Dabei geht der Psychiater und Psychoanalytiker Fritz B. Simon insbesondere auf die Problematik einer räumlichen versus sozialen Distanz bei den verschiedensten Sozialformen des täglichen Zusammenlebens, wie etwa der Kleinfamilie, der Paare, der Organisationen oder auch der Feste und Massenveranstaltungen ein und prognostiziert, dass von den Regeln des Abstandshaltens und den verordneten Sozialformen und deren Nebenwirkungen im Gegensatz zur Nutzung technischer Kommunikationsmittel bzgl. Home-Office und Online-Handel nicht viel bleiben wird (vgl. S. 166)
Der Philosoph Werner Stegmaier widmet sich der Frage nach „Orientierung in der Corona-Krise“ und plädiert für eine „besonnene wie entschlossene Führung für kollektiv bindende Entscheidungen“ (S. 167), welche sich auf eine überlegene Orientierung stützen sollte, die wiederum ein lediglich begrenztes kompetentes Wissen zur Verfügung hat. Er beschreibt dabei die verschiedenen Orientierungs-Modi im Bezug auf das wissenschaftliche Wissen, die Politik, die Moral, den Umgang mit dem Recht, die Seriosität der Informationen durch die Medien, aber auch hinsichtlich der Zuversicht schaffenden Entwicklung von Routinen.
Der Themenbereich 'Spannungen' wird insbesondere von länderspezifischen Entwicklungen und Reaktionen gestaltet. Fang Ying, Heiner Fangerau und Alfons Labisch gehen auf gouvernmentale Reaktionen und speziell auf zentral kontrollierte aufgrund unterschiedlicher Gesellschafts(formen) differenzierte Interventionen auf Covid-19 - so insbesondere in China, Taiwan, Südkorea, Japan, aber auch in Deutschland und in den USA – ein.
Der Politk- und Ostasienwissenschaftler Thomas Heberer widmet sich dem Kampf Chinas gegen Corona mit den Aspekten historischer Erfahrungen, innen- und außenpolitischer Implikationen und ergänzt diese durch Fragen nach der Funktionalität des chinesischen Staates in Geschichte und Gegenwart. Schließlich werden die internationalen Beziehungen nach der Pandemie zwischen China, den USA und Europa reflektiert. Dabei kommt der Autor zu dem Schluss, „dass der chinesische Staat Handlungs- und Problemlösungskapazität besitzt und Disziplin in der Bevölkerung durchzusetzen vermag“ (S. 240), aber auch, dass die anderen Staaten nur bedingt von China lernen können, jedoch den Weg der Kooperation suchen sollten.
Der Soziologe Marius Meinhof schließt diesen Themenbereich mit seinem Beitrag über „Das Virus der Anderen“ ab. Seine Argumentation steht unter der Erkenntnis, „dass eine neue Art von Orientalismus [1] eine der Grundlagen dafür bildete, dass erstens im Februar [2020] chinesisches Wissen über die Pandemie im Westen kaum wahrgenommen wurde, und zweitens ab März keine kritische Reflektion dieser Versäumnisse stattfand“ ( S. 242 f.). Und er möchte „anhand von Beispielen aus Zeitungsartikeln und Social-Media-Debatten zeigen, wie dieser Orientalismus die Grundlage dafür bildete, Covid-19 in der Sphäre des Anderen zu verorten, chinesische Stimmen aus dem Diskurs auszuschließen, und – damit verbunden – zunächst wichtige Lehren aus China zu ignorieren und später eine kritische Reflexion der eigenen Ignoranz zu vermeiden“ (S. 243). Hierfür analysiert Meinhof 900 Zeitungsartikel und 83 Twitter-Diskussionen auf Deutsch, Englisch und Chinesisch. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, dass ein neuer Orientalismus offensichtlich die Grundlage für die Verdrängung des Ursprungs der Pandemie in China und die schnelle Eskalation des Diskurses ab dem März 2020 gebildet hat.
Im Themenbereich 'Verweisungen' wird zum einen auf verschiedene Sichtweisen in der Einschätzung bzw. Deklaration der Pandemie verwiesen. Sei es nun, dass dieses weltumspannende Ereignis mit einem Krieg verglichen wird, oder aber als eine Reaktion der Natur auf den menschengemachten Klimawandel, wie dies von Papst Franziskus verstanden wird. Der ehemalige US-amerikanische Präsident wiederum instrumentalisierte das Virus für seinen Wahlkampf, indem er China als eine lebensbedrohliche Gefahr für Amerika darstellte, um sich so zugunsten eines Wetteiferns um die Wählerstimmen in besonderer Weise zu profilieren.
Auch die Positionen der Kirche bleiben nicht unerwähnt, wenn die Professorin für Altes Testament Alexandra Grund-Wittenberg danach fragt, welche Stellung die Kirche in der Krise eingenommen hat und was theologische Perspektiven in der Corona-Krise beizutragen vermögen? So spricht sie beispielsweise vom „Dröhnenden Schweigen“ (vgl. S. 280) etwa der Evangelischen Kirche in Deutschland, während der Ethiker und Fundamentaltheologe Günter Thomas in seinem Beitrag zur 'Theologie im Schatten der Coronakrise' durch letztere eine Herausforderung der Kirchen zu neuen Formen mutiger Nächstenliebe sieht. Für ihn geht es darum, dass die Coronakrise zu „einem tiefgreifenden Umbau der Bühne, auf dem die Kirche sich aufführt“ (S. 297) führt. Er zieht in diesem Zusammenhang u.a. den theologischen Schöpfungsgedanken, Gottes Vorsehung oder aber die Sündenlehre ebenso ins Kalkül, wie er die Vorstellungen der theologischen Anthropologie, oder aber einer protestantischen Ethik benennt.
Der letzte Themenbereich ist mit 'Verzweigungen' überschrieben und wirft Fragestellungen besonderer Spezifika auf.
So geht Joachim Landkammer auf historische Seuchenausbrüche und erforschte Epidemie-„Spielregeln“ ein.
Der Psychologe Arist von Schlippe beschreitet „Psychologische Wege des Umgangs mit der Corona-Krise“, sieht einen Sturz aus der Wirklichkeit im Sinne eines kollektiven Kontrollverlustes und wirft einen psychologischen Blick auf die Frage danach, „welche Wege des Umgangs mit Belastungen Menschen zur Verfügung stehen“ (S. 338). Dabei geht er auf die psychosozialen Risikofaktoren ein, erläutert die Mechanismen der psychologischen Verarbeitung und schließt seinen Beitrag damit ab, dass er das Lachen im Sinne Freuds als reiferen Abwehrmechanismus für psychologisch wichtig hält, um zu bedrohlichen und unangenehmen Themen auf Distanz gehen zu können (vgl. S. 342 f.). Er postuliert, dass das Lachen bedrohliche Situationen – wie etwa in Zeiten von Corona – etwas zu entschärfen vermag, was auch mittels einer Vielzahl von Witzen und Videos in den Social Media zum Ausdruck kommt.
Der das Werk abschließende Beitrag von dem Romanisten und Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht wirft die Frage nach dem „Notstandsstaat als Staat der Zukunft“ auf. Hierin glaubt der Autor nicht daran, dass das politische Handeln durch die und während der Corona-Krise auf die Aufhebung und das Übergehen der legitimen Interessen der von ihnen vertretenen Bürger abzielt, wenngleich der sogenannte Notstandsstaat wegen anderer Bedrohungen – wie zum Beispiel aufgrund ökologischer, demographischer und wirtschaftlicher Entwicklungen – zum politischen Modell der Zukunft werden könnte (siehe S. 354).
Diskussion
Den Herausgebern ist es gelungen, vorwiegend ProfessorInnen und Fachkräfte sowohl aus der praxis- als auch einer wissenschaftsorientierten Forschung zu versammeln und mittels deren Einzelbeiträgen eine umfassende Darstellung der Kernthemen und Problemfelder, die die Corona-Pandemie ausmachen, zu liefern.
Da das Werk zu einem Zeitpunkt erschienen ist, zu dem die weitere Entwicklung der Virus-Pandemie noch nicht absehbar war, beruhen die Beiträge auf den zum Zeitpunkt der Niederschrift vorhandenen Erkenntnissen und nachvollziehbaren Gegebenheiten. Zudem eröffneten sich vergleichende historische Rückblicke und Gegenüberstellungen.
Auch hier gilt – wie bei dem vom Verfasser zuvor schon rezensierten und von Kröll/Platzer/Ruckenbauer/Schaupp herausgegebenen Werk „Die Corona-Pandemie“: socialnet Rezensionen: Wolfgang Kröll, Johann Platzer u.a.: Die Corona-Pandemie | socialnet.de –, dass von Anfang an weder die Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens, wie auch konkrete und evidenzbasierte Erkenntnisse und sich daraus ableitende seriöse Analysen und politisch wie auch rechtlich durchsetzbare und haltbare Folgerungen äußerst schwierig generierbar und plausibel transferierbar waren, weshalb das vorliegende Werk in gewisser Weise lediglich das Bild eines zum damaligen Zeitpunkt vorhandenen Ist-Zustands widerzuspiegeln vermag.
Und dennoch gilt es festzuhalten, dass die vorliegende Publikation in vielerlei Hinsicht dadurch zu überzeugen, da es zum einen bar jeglicher Prognosen im Bezug auf den weiteren Pandemieverlauf, noch bezüglich irgendwelcher Spekulationen zu Wirkungen und Auswirkungen pandemischer Folgeerscheinungen auskommt.
Fazit
Das vorliegende Werk der Herausgeber Heidingsfelder und Lehmann erfüllt den Anspruch, eine Analyse einer multikrisenhaften Lage aufgrund einer allumfassenden Covid-19-Pandemie liefern zu können, eben nur dann, wenn man diese als eine Zeitaufnahme von erkennbaren Tatbeständen und Entwicklungen begreift, die über den gegebenen Zeitpunkt hinaus nur beschränkt Aufschlüsse und Folgerungen für den weiteren Verlauf der Pandemie bis heute ermöglichen. Insofern zeichnet sich das Werk in seiner durch eine sich aus der Analyse des verfügbaren Datenmaterials und der Rückschlüsse aus historischen Vergleichen der Pandemie ergebenden Materialfülle besonders aus.
Es kommt hinzu, dass der Anspruch des Untertitels 'Eine Weltgesellschaft im Ausnahmezustand' hinterfragen zu wollen, insbesondere dadurch gelingt, dass etliche Beiträge aus internationaler Feder stammen und in englischer Sprache abgefasst sind.
[1] Gemeint ist ursprünglich damit ein eurozentrischer, westlicher Blick auf die Gesellschaften des Nahen Ostens; während es sich bei dem 'Neuen Orientalismus' offensichtlich um Sichtweisen der Europäer im Bezug auf die asiatische, insbesondere chinesische Welt handelt.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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