Helen Tyrer, Peter Tyrer et al.: Praktische Sozialpsychotherapie
Rezensiert von Prof. Ulrich Paetzold, 14.09.2021
Helen Tyrer, Peter Tyrer, Iris Orth: Praktische Sozialpsychotherapie. Die Lebenswelt von Patientinnen und Patienten positiv beeinflussen. Schattauer (Stuttgart) 2021. 2. Auflage. 176 Seiten. ISBN 978-3-608-40064-9. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Thema
Das Buch beschreibt die Grundprinzipien, Indikationen und Phasen der bedürfnisorientierten Therapie (Nidotherapie) sowie deren Anwendungsgebiete. Kern dieses Ansatzes ist die gezielte Veränderung physischer, sozialer und persönlicher Umgebungsfaktoren.
Autorin und Autor
Peter und Helen Tyrer sind Psychiater und Psychotherapeuten. Helen Tyrer ist wissenschaftliche Leiterin der medizinischen Fakultät am Imperial College London. Peter Tyrer ist Herausgeber des „British Journal of Psychiatry“ und war maßgeblich an der Entwicklung des ICD-11 beteiligt.
Aufbau
Dieses grundlegende Buch zur Nidotherapie (lat. nidus = Nest) gliedert sich in 11 Abschnitte die wesentliche Aspekte dieses Ansatzes bearbeiten. Ein sehr umfangreicher Anhang ergänzt das Buch. Hier wird auf das deutsche Gesundheitssystem und die mögliche Umsetzung dieses Ansatzes in Deutschland ausführlich eingegangen.
Inhalt
Im ersten Abschnitt wird ausführlich auf die philosophischen Grundprinzipien und den theoretischen Hintergrund der Nidotherapie eingegangen. Zehn Prinzipien strukturieren diesen Abschnitt. Zwei Beispiele daraus:
- Prinzip 1: Alle Personen haben die Fähigkeit, ihr Leben zum Besseren zu wenden, wenn sie in der richtigen Umgebung leben.
- Prinzip 8: Allem Verhalten liegt eine Ursache zugrunde, welche oft auf die unmittelbaren Umweltbedingungen zurückzuführen ist.
Der nächste Abschnitt widmet sich der Frage der Indikation (Schwerpunkt Persönlichkeitsstörungen). Dem schließt sich ein Abschnitt über die vier Phasen der bedürfnisorientierten Therapie an: Entwicklung eines Person-Umwelt-Verständnisses, Umweltanalyse, Umweltveränderungen umsetzen, den Fortschritt überprüfen. Weitere Abschnitte sind:
- bedürfnisorientierte Therapie für Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz,
- Methoden und Werkzeuge bedürfnisorientierter Therapie,
- die Kennzeichen eines guten bedürfnisorientierten Therapeuten, weitere Anwendungsbereiche dieser Therapieform (physische Gesundheit, Arbeitsmedizin, Sozialversorgung).
Kleinere Abschnitte zur Forschungsevidenz, zu ökonomischen Vorteilen und zu häufigen Irrtümern in Bezug auf die bedürfnisorientierte Therapie runden das Buch ab.
Der umfangreiche Anhang geht ausführlich auf die Situation in Deutschland ein und setzt das Vorgehen in der Sozialpsychiatrie zur Nidotherapie in Bezug. Sehr fundiert werden die Unterstützungsmöglichkeiten in Deutschland beschrieben (der Sozialpsychiatrische Dienst als erste, mögliche Hilfe) sowie Nidotherapie als Zusatzmodul in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis.
Diskussion
Durch die zahlreichen, anschaulichen Fallbeispiele wird man sofort als Leser/​Leserin zum Weiterlesen gedrängt und man versteht sofort die zentralen Ansatzpunkte dieses therapeutischen Vorgehens. Es wird gezielt versucht, die Umwelt von KlientInnen zu verändern und so den Teufelskreislauf aus psychiatrischen Klinikaufenthalten zu durchbrechen. Dabei wird der Patient/die Patientin als eigenständiger „Navigator“ der Veränderungen angesehen. Im Gegensatz zu manualisierten Behandlungen steuern die KlientInnen selbst den Prozess, der Therapeut/die Therapeutin sind die Moderatoren. „Anstatt darauf zu warten, dass sich die Person verändert, damit sie zur Umwelt passt, versucht man in die Therapie die Umwelt so zu verändern, dass sie zur Person passt“ (S. 13).
Passenderweise wurde in der deutschen Übersetzung für Nidotherapie der Begriff bedürfnisorientierte Therapie gewählt. Besonders beeindruckt bei diesem Ansatz, dass mit PatientInnen gearbeitet wird, bei denen evidenzbasierte Ansätze keine ausreichende Besserung gebracht haben (Behandlungsresistenz als unpassender Begriff, vielmehr sollte von Behandlungsfehlschlag gesprochen werden wie Tyler vorschlägt), PatientInnen mit (schweren) Persönlichkeitsstörungen, schweren psychischen Erkrankungen oder mit Demenz. Insgesamt geht es um PatientInnen, die in eine Sackgasse geraten und häufig schon lange (erfolglos) in Behandlung sind. Ebenfalls beeindruckt bei den Fallbeispielen, wie ernst der Leitsatz „Therapie auf Augenhöhe“ genommen wird und wie KlientInnen als ebenbürtige Partner angesehen werden und wie auf deren Bedürfnisse eingegangen werden kann. Freundlich aber durchaus elegant und überzeugend werden an verschiedenen Stellen Grundsätze traditioneller Psychotherapie bzw. psychiatrische Behandlungsgrundsätze in Frage gestellt, ohne dass man sich (als ausgebildeter Psychotherapeut) angegriffen fühlt. Der Anspruch dieses Ansatzes ist schulen- und störungsübergreifend. Nach dem Lesen dieses Buches kann man dies nur bestätigen. Insgesamt liegt ein (wie es im Geleitwort heißt) innovativer und außergewöhnlicher Ansatz vor, der wissenschaftlich fundiert und theoretisch plausibel belegt, für schwere, chronische Krankheitsbilder mit komplexen Behandlungsbedarf einen praktikablen Ausweg zeigt und eine vielversprechende Bereicherung in der psychotherapeutischen Versorgung darstellt.
Fazit
Das Buch stellt für alle Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten einen Gewinn und eine Bereicherung dar: Psychiater, Sozialarbeiter, Psychologen/​Psychotherapeuten, Krankenpfleger, Ergotherapeuten, aber auch politische Entscheidungsträger. Für den Einsatz im Studium und in der Ausbildung ist das Buch ebenfalls empfehlenswert (insbesondere auch der umfangreiche auf Deutschland bezogene Anhang). Ein hervorragendes Grundlagenwerk, das auch für erfahrene Praktiker wichtige Denkanstöße gibt. Absolut lohnenswert.
Rezension von
Prof. Ulrich Paetzold
Professor für Psychologie an der Hochschule Lausitz, Fachbereich Sozialwesen in Cottbus. Neben interkulturellen Fragen sind Schwerpunkte in der Lehre: sexueller Missbrauch, Klinische Psychologie, Beratung. Zusatzqualifikationen: Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten sowie verschiedene kognitive Therapieverfahren.
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Zitiervorschlag
Ulrich Paetzold. Rezension vom 14.09.2021 zu:
Helen Tyrer, Peter Tyrer, Iris Orth: Praktische Sozialpsychotherapie. Die Lebenswelt von Patientinnen und Patienten positiv beeinflussen. Schattauer
(Stuttgart) 2021. 2. Auflage.
ISBN 978-3-608-40064-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27867.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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