Jörg Schlömerkemper: Pädagogische Diskurs-Kultur
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.01.2021

Jörg Schlömerkemper: Pädagogische Diskurs-Kultur. Über den sensiblen Umgang mit Widersprüchen in Erziehung und Bildung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. 196 Seiten. ISBN 978-3-8474-2461-1. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Wahrheit und Wirksamkeit
Es sind die Kontroversen über das, was Bildung ist und Erziehung sein soll, die gewissermaßen das Salz in der Suppe der Theorien und Paxen der Bildungs- und Erziehungswissenschaften ausmachen. Das ist gut und richtig so! Denn nichts wäre unpädagogischer aber auch inhumaner, als wenn das, was Bildung und Erziehung ist und sein soll, per Ordre du Mufti oder ideologisch festgelegt werden würde. Anerkannt freilich sollte sein, dass Bildung und Erziehung notwendige, den anthrôpos „emporhebende“ Eigenschaften sind, wie sie in der Definition der UNESCO (Empfehlung zur „internationalen Erziehung“, 1990) zum Ausdruck kommt: Sie umfassen und bestimmen „den Gesamtprozess des sozialen Lebens, innerhalb dessen Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen es lernen, in ihrer eigenen Gesellschaft und im Rahmen der gesamten Weltgemeinschaft ihre persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen, ihr Können und ihr Wissen bewusst und bestmöglich zu entfalten“. Der wissenschaftliche Diskurs vollzieht sich dabei in lebhaften Auseinandersetzungen darüber, was Bildung in einer gleichberechtigen, demokratischen, humanen und menschenwürdigen Weltgesellschaft ist (Wolfgang Sander, Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​24230.php), welche Bedeutung dabei der Aufklärung zukommt (Anne Conrad/Alexander Maier, Hrsg., Erziehung als „Entfehlerung“. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/​22612.php), welchen Sinn Bildung und Erziehung hat ( Ralf Lutz, Sinnvergessenheit in der Professionalisierung?, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26075.php), wie sich Selbstbewusstsein und Autorität gestalten (Martin Lemme/Bruno Körner, Neue Autorität in Haltung und Handlung, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​23891.php), und wie sich individuell und institutionell Lehren und Lernen vollziehen (Rolf Torsten Kramer/Hilke Pallesen, Hrsg., Lehrerhabitus. Theoretische und praktische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26159.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Der ehemalige Erziehungswissenschaftler von der Goethe-Universität in Ffm, Jörg Schlömerkemper, hat 2017 eine Studie vorgelegt, in der er eine „antinomische Deutung“ von pädagogischen Prozessen vornimmt. Es ist der Versuch, „aus den anhaltenden Schwierigkeiten herauszukommen, in denen die Bildungspolitik und Bildungsreform seit langem stagnieren“ (Jörg Schlömerkemper, Pädagogische Prozesse in antinomischer Deutung. Begriffliche Klärungen und Entwürfe für Lernen und Lehren, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/​23045.php). Mit dem Buch „Pädagogische Diskurs-Kultur“ macht er sich auf den Weg, die Suche nach den „absoluten Wahrheiten“ hinter sich zu lassen. Mit Fragen nach den „Wirksamkeiten“ betrachtet er eingeführte und etablierte (Fach-)Begriffe in den Erziehungswissenschaften „antinomie-sensibel“. Dabei vollzieht er einen pädagogisch-politischen Perspektivenwechsel, indem er das wissenschaftlich-theoretische und -praktische Denken aus dem (scheinbar) geschlossenen Diskursraum herausholt – „Wissenschaft (ist) keinesfalls etwas ganz anderes“ – und nach den „Wirksamkeiten“ fragt, die Bildungs- und Erziehungsprozesse hervorrufen.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort gliedert Schlömerkemper seine Studie in vier Teile.
- Im ersten Teil (A) unternimmt er „begriffliche Klärungen“ bei den erziehungswissenschaftlichen Begrifflichkeiten, wie: „Pädagogik“, „Pädagogische Wirksamkeiten“, „Antinomie-Sensibilität“, „Handlungsformen der Pädagogik“, „Erziehung“, „Bildung“, „Sozialisation“. „Disposition“, „Lernen“, „Motivation“ und „Habitus“.
- Im zweiten Teil (B) nimmt er sich den Begriff „Erziehung“ in den verschiedenen Denk-Theorien und Handlungskonzepten vor.
- Im dritten Teil (C) geht es um die Institution „Schule“; und
- im vierten Teil (D) diskutiert er „Perspektiven“ für die Erziehungswissenschaft und die pädagogische Praxis.
Damit nicht „Aussitzen“ oder fatalistisches Hinnehmen und Erdulden von antinomischen Wirklichkeiten bleibt, braucht es eine intellektuelle, aktive Auseinandersetzung im pädagogischen Diskurs. Schlömerkemper nimmt sich deshalb die oben genannten, pädagogischen Begriffe vor und diskutiert sie mit der grundlegend bildungs- und erziehungstheoretischen und -praktischen Zielsetzung, dass es die „Persönlichkeits-Erziehung und --entwicklung“ ist, die pädagogisches Denken und Handeln zu bestimmen hat. Dabei entwickelt er keine neue, in sich geschlossene „Theorie der Erziehung“, sondern er zeigt Kategorien und Dimensionen auf, „mit deren Hilfe pädagogische Prozesse anhand prinzipiell offener Fragen durchdacht und im Diskurs erörtert werden“. Schlömerkempers „Theorie der Schule“ in antinomie-sensibler Deutung mündet in der Annahme, dass „Intentionen Prozesse und Wirkungen der Erziehung … unbewusst oder bewusst zueinander und in sich selbst in Spannungen stehen können“. Sie fordern auf, „diese in einem professionellen Diskurs offen zu erörtern und konstruktive Perspektiven für eine gelingende Praxis zu entwerfen“. Die Anker und Angelpunkte dafür sind die einverständlichen Grundlagen, die für eine individuelle und lokal- und globalgesellschaftliche Bildung und Erziehung gelten müssen: „Bildungsgerechtigkeit“ – „Selektionskritik“ – „Bildungspolitik“ – „Integrierte und inklusive Strukturen“.
Diskussion
Das Eintauchen in die pädagogischen, historischen und philosophischen Begründungs- und Wahrheits-Zusammenhänge erfordert immer auch eine kritische, erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den benutzten Begriffen. Wenn Schlömerkemper die Wahrheitssuche zwar nicht ersetzt, aber verbindet mit der Frage nach den Wirksamkeiten, ergeben sich dabei eine Reihe von Konsequenzen, z.B. soll das „Gegebenen“, das individuell und kollektiv vorhanden ist und entweder bestätigt, gefördert, verteidigt und bewahrt, oder verändert, erneuert oder abgeschafft werden; soll das „Gewordene“ sich als Praxis, Routine, Verhalten, Ordnung und Ritual ausdrückten; soll das „Gestaltete als Fakt und Tatsache“ wirksam werden; und schließlich: Wie zeigt sich und wirkt das „Verborgene und Verdrängte“, das nicht zur Sprache kommt oder sich in Privilegien und Verhaltensmustern zeigt. Wir werden dabei verwiesen auf die Verletzbarkeiten beim menschlichen Dasein (Angela Janssen, 2018), auf die Unverfügbarkeiten (Hartmut Rosa, 2019), auf den Zweifel (Wolfram Malte Fues, 2019), und auf das Rätsel der Erkenntnis (Lawrence LeShan, 2012), die eine „Antinomie-Sensibilität“ erfordern: „Als ‚antinomie-sensibel‘ soll eine Haltung verstanden werden, die grundsätzlich dafür offen und aufmerksam ist, dass in scheinbar unlöslichen Gegensätzen, aber auch in scheinbaren Eindeutigkeiten ‚Antinomien‘ wirksam sein können, die zunächst verstanden werden sollten, um flexibel und wirksam(er) mit ihnen umgehen zu können“. Dieser Anspruch freilich, das zeigen die „Kakophonien“, wie sie bei den Aktivitäten von „Querdenkern“, Populisten, Rassisten und Fake-Newsern deutlich werden, ist nicht leicht zu verwirklichen.
Fazit
Jörg Schlömerkemper will mit seiner Studie über eine (neue) „Pädagogische Diskurs-Kultur“ in Theorie und Praxis Denkanstöße und Beispiele über einen sensiblen Umgang mit Widersprüchen in Erziehung und Bildung geben. Er versteht seine wissenschaftliche Arbeit als Ratgeber und als Diskursbeitrag, wie es gelingen könne, in den lebenslangen Bildungs- und Erziehungsprozessen aussagekräftige, stimmige und (selbst-)tragende Leitbilder zu entwickeln, die zur Persönlichkeitsentwicklung und -erziehung beitragen und Anregungen und Hinweise für die erziehungswissenschaftliche und -praktische Arbeit anbieten!
Die Quellen- und Literaturhinweise zur Thematik werden in der eher essayistischen Form des Buches nicht, wie üblich, am Ende aufgeführt; vielmehr verweist Schlömerkemper auf seine Homepage www.jschloe.de, wo er Anregungen zur vertiefenden Beschäftigung nicht nur auflistet, sondern auch kommentiert. Das ist nicht nur ein ressourcenschonendes Verfahren, sondern lädt auch dazu ein, sich virtuell in die Diskurs-Kultur einzubringen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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