Martin Scherer, Helmwart Hierdeis et al. (Hrsg.): Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 29.01.2021

Martin Scherer, Helmwart Hierdeis, Josef Berghold (Hrsg.): Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck. Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2020. 364 Seiten. ISBN 978-3-525-40396-9. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Thema
Der Sammelband behandelt die Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen. Unter dem durch technologischen und sozialen Wandel bedingten wachsenden Zeitdruck wird die Gefahr der ökonomischen Fremdbestimmung und Marginalisierung der Arzt-Patienten-Beziehung gesehen. Vorrangig wird jedoch die allgemeine Beschleunigung des Lebenstempos behandelt, und zwar nicht nur in ihren individuellen Erscheinungsformen sondern auch in ihrer Auswirkung auf das ärztliche Handeln und die medizinische Forschung.
Herausgeber
Die Herausgeberschaft teilen sich der aktuelle Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin Prof. Dr. med. Martin Scherer, der Sozialpsychologe Privatdozent Dr. Josef Berghold und der Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker Prof. i.R. Dr. phil. Helmwart Hierdeis.
Entstehungshintergrund
Die Idee zur Bearbeitung des Themas ist am Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf entstanden. Der Sammelband wird daher wesentlich von Martin Scherer und Mitarbeitern seines Instituts (Josef Berghold, Hans-Hermann Dubben, Thomas Zimmermann) bestritten. Berghold hat aus seinem Kreis der Umweltaktivisten – er ist wissenschaftlicher Beirat von Attac – Christa Maria Bauermeister, Antje Buitkamp und Winfried Wolf dazu gewonnen. Hierdeis hat Till Bastian um Mitwirkung gebeten.
Bei dem Werk handelt es sich also um eine von den Herausgebern als Gesamtwerk konzipierte Sammlung von Einzelbeiträgen zum Thema Zeit in der medizinischen Versorgung.
Aufbau
Im Anschluss an ein ausführliches Vorwort der Herausgeber (7-20), in dem die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt und kontextual verbunden werden, gliedert sich der Band in fünf Abschnitte.
- Im ersten Abschnitt (23-121) wird der Begriff der „Zeit“ in den Beiträgen von Dubben, Berghold und Wolf durchdekliniert.
- Der zweite Abschnitt (125-190) firmiert unter der Überschrift „Forschung unter Zeitdruck“und das ist auch das Thema der beiden Beiträge von Dubben und des Beitrags von Zimmermann.
- Im dritten Abschnitt (193-253) beschreiben Scherer, Buitkamp und Bauermeister verschiedene Praxisbeispiele von medizinischer Versorgung unter Zeitdruck.
- Großen Raum nehmen im vierten Abschnitt (257-344) die Transkripte der Interviews ein, die Scherer mit acht Repräsentant*innen des Gesundheitssystems geführt hat.
- Abschließend folgt unter der Überschrift „Entschleunigung“ ein kurzer Beitrag (S. 347–358) von Bastian.
Inhalt
Was ist die Zielsetzung dieses Sammelbandes? Die Autoren wollen das Nachdenken darüber befördern, „wie die medizinische Versorgung…trotz des Zeitdrucks, von dem auch sie erfasst wird, eine neue Beziehungsqualität gewinnen kann“, so steht es im Vorwort der Herausgeber (8). Die zentrale These des Bandes ist, „dass die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse…nicht ohne weitreichende Folgen für das Gesundheitssystem im Allgemeinen und die medizinische Versorgung im Besonderen bleiben.“ (10f).
Die durch Zeitdruck und Beschleunigungsprozesse hervorgerufenen Folgen werden in den einzelnen Beiträgen in unterschiedlicher Intensität beschrieben und diskutiert.
zu Teil 1: Hermann Dubben (23-41) geht naturwissenschaftlich an die Frage: Was ist Zeit? heran. Er beschreibt die Entwicklung der Zeitmessung und die Diskussion über das Wesen der Zeit bei u.a. Newton, Leibnitz, Einstein, Hawking. Für Dubben besteht die Beschleunigung der Zeit in der Überfrachtung durch Zeitspannen. „Wer zögert, wird überrollt.“ (37).
Die naturwissenschaftlichen Zeitbestimmung wird von Josef Berghold (43-101) durch eine historisch-sozialwissenschaftliche Betrachtung ergänzt. Er verweist auf Ivan Illich's Erkenntnis des zunehmenden Lebenszeitverlustes durch zunehmende Geschwindigkeit, was bereits Sigmund Freud problematisiert hat. Als mächtigen blinden Fleck in der Diskussion der Zeit beschreibt Berghold das Paradoxon, dass die Zeitgewinne mithilfe der Technik nicht zu Entstressung und Muße führen. Dem Soziologen Hartmut Rosa ist die Unterscheidung der drei grundlegenden Sphären gesellschaftlicher Beschleunigung zu verdanken: die technologische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Berghold benutzt diese Unterscheidung als Schablone für seine weiteren umfänglichen Ausführungen.
Winfried Wolf hat bereits 2009 die Globalisierung des Tempowahns und ihre Auswirkung auf Verkehr, Umwelt und Klima beschrieben. In seinem Beitrag (103-121) behandelt er das Thema der vom globalen Tempowahn verursachten Millionen Todesopfer und gesundheitlichen Schäden. „Die Gewalt im Autoverkehr…ist Teil des Alltags der Autogesellschaft.“ (110). Er spricht auch die damit zusammenhängenden „gesellschaftlich-atmosphärischen“ Belastungen, die „religiös-ideologischen Verbrämungen“ des Tempowahns an.
zu Teil 2: Die Beiträge des zweiten Teils befassen sich mit Forschung unter Zeitdruck. Hans-Hermann Dubben (125-147) weist darauf hin, dass unter Zeitdruck Fehler in der Forschung zunehmen.„Eile führt zu schlechter Forschung“ (132). Er beschreibt verschiedene Studien-Designs, betont den Wert von systematischen Reviews und Meta-Analysen und kritisiert die Verwendung des Impact- Faktors. „Der Impact-Faktor leistet nicht das, was er soll.“ (131).
Thomas Zimmermann (149-168) befasst sich mit der Beschleunigung der wissenschaftlichen Kommunikation. „Forschungsergebnisse werden…in schnellem Rhythmus und mit hohem Durchsatz unter der informationshungrigen, neugierigen Kundschaft verteilt.“ (152). Zu diesem Zweck hat sich im Internet ein florierendes Open-Access-Angebot entwickelt. Für Zimmermann ein „Container, der von der Wissenschaft befüllt wird.“ (158). Er sieht die Ökonomisierung der Forschung als Gefahr, weil die rasche Verwertbarkeit der Ergebnisse einen Publikationsdruck erzeugt, der häufig mit dem Verzicht auf seriöse Begutachtung (Peer-Reviews) einhergeht.
Hans-Hermann Dubben (169-190) befasst sich mit Qualitätskriterien der Forschung und Indizien für schlechte Forschung und beschreibt detailliert den Forschungsdruck unter dem Wissenschaftler stehen.
zu Teil 3: Für Martin Scherer (193-207) gehört zu den Aufgaben der Medizin das Nötige ohne Zeitverzug zu tun. Bei der Beurteilung des notwendigen Zeitaufwands ergibt sich aus der Darstellung der Studienlage jedoch keine eindeutige Antwort.
Antje Buitkamp (209-230) beschreibt einen medizinischen Spezialfall. Endometriosepatientinnen sind vom Zeitdruck in der ärztlichen Versorgung besonders betroffen. Sie stellt die Problematik anhand von Interviews mit einer Patientin, zwei Gynäkologinnen und einer Psychologin dar.
Christa Maria Bauermeister (231-253)vergleicht deutsche und tansanische Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit der Verfügbarkeit und dem Sinn von Zeit am Beispiel des Aufbaus einer Krankenstation in Tansania.
zu Teil 4: Martin Scherer befragt acht Personen des Gesundheitssystems zum Thema „Zeitdruck und gesundheitliche Versorgung“ (257-344). Darunter sind die Hausarztvertreter Dr. Jonas Niemann, Prof. Dr. Erika Baum, Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, die Pflegeprofessorin Dr. Katrin Balzer, der Kassenarztvertreter Dr. Stephan Hofmeister, der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer Prof. Dr. Frank-Ulrich Montgomery, der Chef der Charité Prof. Dr. Heyo K. Kroemer und der Medizinethiker Prof. Dr. Urban Wiesing.
In diesen Interviews werden als Beschleunigungstrends u.a. genannt die Verdichtung der Aufeinanderfolge von Informationen und ihre ubiquitäre Verfügbarkeit, eine „Alles-und-Sofort“ Erwartung, eine Akzeleration aller Arbeitsvorgänge, Indikationsausweitung und Indikationsüberdehnung, die Zunahme von Stress, die Zunahme von Fehlern, Priorisierung in der Pflege, unterlassene Pflegemaßnahmen sowie der Verlust einer langfristigen Perspektive. Als generelle Hoffnung formulieren die Befragten, dass durch Digitalisierung das ärztliche und pflegerische Personal so weit entlastet werden kann, dass mehr Zeit für die Patienten bleibt.
zu Teil 5: Den Zeiten-Lauf der Welt beschreibt Till Bastian (347-358)pointiert:„Geduld ist Zeit-Distanz, und Gelassenheit ist Welt-Distanz.“ (350). Zeitmanagement ist für ihn immer nur Selbstmanagement. Für das Selbstmanagement benennt er vier Leitsätze: Reduktion von Außenanreizen, Vereinfachung der alltäglichen Lebenspraxis, „schöpferische Pausen“ und Respekt für die eigene innere Vielschichtigkeit.
Diskussion
Der Sammelband ist eine anregende Kompilation von Gedanken zur und Nutzung von Zeit mit weiter führenden Literaturangaben, die für das Selbststudium hilfreich sind. Wie in der Verlagsankündigung auf der Rückseite des Buchdeckels formuliert, werden in dem Band Einblicke geliefert. Im Teil 1 führen die Beiträge von Dubben und Bergholt, vor allem die Rezeption von Rosa, in sehr lesenswerter Weise in die gedankliche Welt von Zeittheorien ein. Die Beiträge von Teil 2 sind eher akademische Unterrichtsmaterialien zum Forschungsalltag und den Verwertungsprozessen. Die Beiträge des Teils 3 beschreiben zum Einen Studienergebnisse zur ärztlichen Zeitverwendung (Scherer), zum Anderen zwei sehr spezifische Falldarstellungen. Die Interviews des Teils 4 sind interessant und aufschlussreich, auch wenn sie verständlicherweise nur exemplarische Schlaglichter sein können. Sie stellen wieder den direkten Bezug zum Buchtitel her, indem sie die Beschleunigungsprozesse im ärztlichen Alltag anschaulich verdeutlichen. Leider erfolgt keine zusammenfassende Analyse der Interviewergebnisse im Hinblick auf das Buchthema. Nach der Lektüre von 344 Seiten mit einer immensen Informationsfülle ist der abschließende Beitrag von Till Bastian pure Entspannung und rundet den Sammelband ab.
Fazit
Das Buch richtet sich an Studierende der Medizin und an junge Ärztinnen und Ärzte (352). Es ist im ursprünglichen Sinne des Wortes ein Sammelband, der Beiträge zur historischen, naturwissenschaftlichen und soziologischen Perzeption von Zeit mit Berichten aus dem medizinischen Forschungsalltag und aus dem hausärztlichen Handeln unter Zeitdruck sowie dem Erfahrungswissen von relevanten Repräsentanten des Gesundheitssystems verknüpft. Die stattfindenden Beschleunigungsprozesse in der medizinischen Versorgung werden anhand von zahlreichen Beispielen dokumentiert. Das Buch ist von daher unbedingt lesenswert. Auch weil sich bei der Lektüre der Eindruck verfestigt, dass die „Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung als stärkste Antriebskraft hinter den Beschleunigungsprozessen in der Medizin nicht privat bestanden werden [kann].“ (20).
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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