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Karl F. Schumann: Experimente contra Kriminalität

Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Kury, 23.08.2021

Cover Karl F. Schumann: Experimente contra Kriminalität ISBN 978-3-7799-6375-2

Karl F. Schumann: Experimente contra Kriminalität. 14 wissenschaftliche Abenteuer. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 191 Seiten. ISBN 978-3-7799-6375-2. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thematische Einführung

Kriminalität und Kriminalprävention sind Dauerthemen in allen Zeiten und in allen Gesellschaften, sie gehören gewissermaßen zum Leben dazu. Was als Kriminalität definiert wird, hat sich im Laufe der Zeit und von Land zu Land immer wieder geändert, was auch heute noch gilt. War es in Deutschland beispielsweise vor einigen Jahrzehnten noch erlaubt, die eigenen Kinder und sogar seine Ehefrau zu schlagen, ist es inzwischen verboten und kann bei Anzeigenerstattung als Straftat verfolgt werden. Die strafrechtliche Beurteilung von Drogen unterscheidet sich international in den Ländern und verändert sich immer wieder [1]. Waren die Kriminalsanktionen etwa im Mittelalter ausgesprochen hart, wurden Straftäter teilweise gefoltert und zum Tode verurteilt [2], ist in Deutschland die Todesstrafe seit 1949 abgeschafft, können Straftäter aber etwa in der Mehrzahl der US-amerikanischen Bundesstaaten nach wie vor zum Tode verurteilt werden. Die Zahl der Hinrichtungen hat in den USA in den letzten Jahrzehnten zwar abgenommen, allerdings wird die Sanktion nach wie vor praktiziert, obwohl die kriminologische Forschung eindeutig zeigt, dass sie keinen substantiellen kriminalpräventiven Effekt hat. So betonen etwa Dölling u.a. (2011, S. 374) [3] in ihrer umfassenden Metaanalyse zur Abschreckungswirkung von Kriminalstrafen: „There are cases where deterrence can influence behaviour – the death penalty, however, does not seem to belong to these measures”. In den letzten Jahrzehnten hat die empirisch-kriminologische Forschung, etwa auch in Deutschland, zugenommen, gerade auch zur Frage der Wirksamkeit kriminalpräventiver Maßnahmen. Der Autor, selbst in seinem Berufsleben als Kriminologe tätig, diskutiert in seinem Band die Ergebnisse von Feldexperimenten mit ausgewählten Forschungsmethoden aus mehreren Ländern, neben Deutschland vor allem den USA, Australien, England und der Schweiz. Neben der Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen für Straftäter geht es vor allem auch um die kriminalpräventive Effektivität von Bewährungshilfemaßnahmen oder Diversionsstrategien [4]

Aufbau und Inhalt

Der Band enthält einen einleitenden Text („Worum geht es?“, S. 9–15), dann die Beschreibung von 14 ausgewählten bekannten Forschungsprogrammen, Feldexperimenten, aus verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Aspekten der Kriminalprognose mit einer Diskussion von deren wesentlichen Resultaten (S. 17–178). Ein kurzes Kapitel mit „Schlussfolgerungen“ (S. 179–190) mit einem „Dank“ (S. 191) schließen den Band ab.

Der „Goldstandard“ empirischer Evaluationsstudien zur Wirksamkeit kriminalpräventiver Maßnahmen seien Zufallsexperimente, bei denen per Los entschieden werde, wer in die Kontroll- und wer in die Experimentalgruppe kommt (S. 9). Entsprechende Forschung zur Beurteilung der Effizienz unterschiedlicher präventiver Maßnahmen werde seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA durchgeführt. Eine Steigerung der Qualität der Forschung habe vor allem ab Mitte der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der harten Kritik von Robert Martinson stattgefunden, der hinsichtlich Behandlungsmaßnahmen vor dem Hintergrund festgestellter methodischer Schwächen in den Evaluationsstudien zu dem vernichtenden und in der Folgezeit breit und kontrovers diskutierten Ergebnis kam: „Nothing Works!“ [5], Behandlungserfolge hätten in den Studien nicht nachgewiesen werden können. „Martinsons Bilanz erregte Aufruhr und Widerspruch. Die 1970er Jahre, in denen er diese Hiobsbotschaft verkündete, waren ja die Blütezeit des Resozialisierungsgedankens im Strafvollzug“ (S. 10).

Ab Ende der 1970er Jahre seien dann konsequent experimentelle Designs zur Überprüfung von Behandlungseffekten gefordert worden. Eine Zufallszuweisung von verurteilten Straftätern zu unterschiedlichen Maßnahmen sei allerdings teilweise und gerade auch in Deutschland auf rechtliche Kritik gestoßen. Ab Anfang der 1980er Jahre würden in den USA experimentelle Untersuchungen mit Zufallszuweisung der Probanden zur Praxis kriminologischer Forschung gehören (S. 10). „Das Zufallsexperiment wurde zum Goldstandard der Evaluationsforschung erklärt“ (S. 11), es habe in den USA mehr und mehr eine Hinwendung zu experimenteller Forschung stattgefunden. Zufallsexperimente in der kriminologischen Forschung würden überwiegend in den USA durchgeführt, in Deutschland etwa hätten sie „Seltenheitswert. Ethische und rechtliche Bedenken stehen hier im Wege“, das könnten allerdings auch vorgeschobene Argumente sein, möglicherweise sei man bei „Polizei, Justiz und Strafvollzug an einer exakten Evaluation ihrer Praxis gar nicht interessiert. Wenn schon Evaluation, dann bitte mit Methoden, deren Ergebnisse man leicht in Zweifel ziehen kann“ (S. 11).

Der Autor hat sich vorgenommen, 14 einflussreiche Feldexperimente zur Wirkung kriminalpräventiver Maßnahmen differenzierter darzustellen, hat dazu veröffentlichte und unveröffentlichte Forschungsberichte ausgewertet und Interviews mit den meisten Forschern geführt. Kurz geht Schumann auf die Frage ein, warum eine Zufallszuweisung in der Forschung methodisch wichtig sei. In der Kriminologie sei eine Randomisierung aus juristischen Gründen oft nicht möglich. In der amerikanischen Kriminologie hätten randomisierte Feldexperimente Tradition. Es wird ein kurzer Überblick über den Inhalt des Bandes gegeben (S. 14–15).

Im Folgenden werden zunächst vier „Klassiker“ experimenteller Untersuchungen diskutiert, die in der empirischen Kriminologie allgemein bekannt sind (S. 17–54). An erster Stelle geht Schumann dabei auf die „Cambridge-Somerville Youth Study“ ein (S. 17–30). Sheldon und Eleonor Glueck hätten in ihrer klassischen Studie gefunden, dass Erziehungsanstalten bei den betroffenen Fürsorgezöglingen keinen resozialisierenden Effekt bewirkt hätten. Mühsam sei von Robert C. Cabot erstmals ein Zufallsexperiment mit Sozialarbeit in Angriff genommen worden, bei welchem „Zwillingspaare“ in eine Experimental- und eine Kontrollgruppe aufgeteilt worden seien. Bereits hier habe sich deutlich die enorme Schwierigkeit gezeigt, ein Forschungsdesign über Jahre methodisch sauber aufrecht zu erhalten. Joan und William McCord hätten gut 10 Jahre nach Beendigung des Experiments den Erfolg der Behandlung überprüft und seien zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen (S. 27): „Wir müssen aus den Ergebnissen schließen, dass die Cambridge-Somerville Youth Study im Wesentlichen ein Fehlschlag war. Zwar haben einige Jungen von der Betreuung profitiert, aber die Gruppe als Ganzes nicht“. Die behandelten Jugendlichen hätten teilweise sogar schlechter als diejenigen in der nicht behandelten Gruppe abgeschnitten. Spätere Forscher hätten differenziert herausgearbeitet, dass etwa „mangelnde Theorie und fehlerhafte Umsetzung des Behandlungskonzepts“ Hintergrund für den fehlenden Erfolg der Maßnahmen gewesen sein könnten (S. 29).

Im zweiten, dem „Minneapolis Domestic Violence Experiment“, geht es im Kontext der Ende der 1970er Jahre aufkommenden Frauenbewegung und der Bekämpfung von Gewalt in der Familie, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, der Einrichtung von Frauenhäusern, um die Wirksamkeit polizeilicher Maßnahmen gegen die in der Regel männlichen Täter. Lawrence Sherman, einer der bekanntesten US-amerikanischen Kriminologen, sehe in einem harten polizeilichen Vorgehen gerade bei leichten und mittelschweren Fällen eine Möglichkeit der Abschreckung der Täter. Um das zu überprüfen habe er ein Zufallsexperiment in Minneapolis organisiert. Die Festnahme des Täters erweise sich als wirksamster Schutz. Hierbei liege die Rückfallquote bei 19 %, bei einer Mediation dagegen bei 37 % und bei einem Platzverweis bei 33 %. Die Ergebnisse würden „eine stärkere Beachtung des Problems der Gewalt gegen Frauen und eine stärkere Neigung zu punitiven statt zu rehabilitativen Mitteln“ bewirken (S. 38). Auch die Stellung der meist männlichen Polizei gegenüber der Problematik werde mehr und mehr in Frage gestellt.

Wieweit kriminalpräventive Maßnahmen weiterhelfen bzw. ob es besser sei, „nichts zu tun“, wird im dritten Experiment überprüft (S. 39 ff.). Malcolm W. Klein ginge es hierbei um eine Prüfung der Wirksamkeit polizeilicher Diversion bzw. der Gültigkeit der Labeling Theorie. 1974 habe das Experiment in ausgesuchten Polizeirevieren in Los Angeles begonnen. Es habe deutlich gezeigt werden können, dass bei steigender Härte der Intervention die Rückfallquote steige und nicht sinke. Nichtstun von polizeilicher Seite könne somit einen deutlicheren kriminalpräventiven Effekt haben, als ein konsequentes Durchgreifen. Die Ergebnisse würden gleichzeitig auf die Komplexität der Zusammenhänge hindeuten. Auch im vierten Experiment, dem Diversionsprogramm „Court Employment Project“, ginge es um einen wirksameren Umgang vor allem mit Erst- und Bagatelltätern, denen durch eine Verurteilung und Inhaftierung das Leben eher verbaut als ihnen geholfen werde. Die Untersuchung zeige, dass inzwischen die Staatsanwaltschaften vor dem Hintergrund der kriminalpolitischen Diskussion vermehrt auch mittelschwere Verfahren sanktionslos einstellen würden. „Der Grundgedanke der Diversionsbewegung, die Verurteilungsraten zu senken, ist bereits weitgehend von der Justiz akzeptiert“ (S. 53). Das zeigt, welche Effekte Forschungsergebnisse auf die Justizpraxis haben können.

Auf deutsche Experimente zur Wirkung von Sozialtherapie auf die Inhaftierten, vor allem die Ergebnisse des Experiments von Rüdiger Ortmann, geht das folgende Kapitel 5 ein (S. 55 ff.). Gerade in Deutschland sei es schwierig, ein Experiment mit Gefangenen mit Zufallszuweisung zu Kontroll- und Experimentalgruppe durchzuführen auch rechtlich schwer umzusetzen, was Ortmann allerdings durch seine überzeugende Argumentation und Konsequenz geschafft habe. Die Ergebnisse der methodisch gut durchgeführten und somit aussagekräftigen Untersuchung hätten gezeigt, dass sich die Persönlichkeitsvariablen zwischen Experimental- und Kontrollgruppe kaum verändert hätten, lediglich die Gelassenheit habe durch die Sozialtherapie zugenommen. Weiterhin sei die Wahrscheinlichkeit, nach einer Entlassung aus einer Sozialtherapie einen Arbeitsplatz zu finden höher, letztlich würden sich bei einer Inhaftierung in einer Behandlungseinrichtung geringere Prisonisierungseffekte zeigen. Hinsichtlich einer Rückfälligkeit nach Haftentlassung würden sich jedoch keine wesentlichen Unterschiede nachweisen lassen. Ortmann betone zurecht, der Schwerpunkt der Resozialisierungsbemühungen dürfe nicht auf einer Psychotherapie der Täter liegen, sondern auf einer Unterstützung und Hilfe für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach Haftentlassung.

Im sechsten ausgewählten Experiment geht es um die Wirkung polizeilicher Arbeit und Kriminalitätsbekämpfung an „Hot Spots“, wieweit polizeiliche Präsenz Täter abschrecken kann (S. 70 ff.). Bereits 1989 sei zu dieser Thematik das „Minneapolis Hot Spot Experiment“ durchgeführt worden. Verwahrlosungserscheinungen zu bekämpfen um dadurch auch Verbrechensängste und Unsicherheit im Stadtteil zu reduzieren seien Bestandteile des „Broken-Windows-Ansatzes“, der auch ein hartes Vorgehen gegen Kleinkriminelle fordere. 2005 habe die Polizei mit dem konsequenteren Vorgehen gegen Kriminalität begonnen, habe versucht, die Bürger mehr einzubinden und Kontakt zu ihnen herzustellen. Das Vorgehen an „Hot Spots“ habe sich durchgängig als effektiv erwiesen. „Allerdings zeigt sich auch, dass häufigeres Verhaften weniger Wirkung hat als ein auf räumliches und soziales Umfeld ausgerichtetes Anpacken der örtlichen Probleme. Vor allem fördert diese Strategie auch eine positive Haltung der dort lebenden Menschen gegenüber der Polizei“. Betont wird von Schumann auch als Ergebnis des Experiments: „Problemorientierte Polizeiarbeit … kann nur im Einvernehmen mit der Bevölkerung effektiv sein“ (S. 78).

Um den Nachweis der Effekte des von dem international bekannten und angesehenen australischen Kriminologen John Braithwaite 1989 vorgeschlagenen „Reintegrative Shaming“, das sich auf einen anderen Umgang mit straffälligem Verhalten in Japan bezieht, geht es in Kapitel sieben (S. 79 ff.). Japan habe unter den Industriestaaten die geringste Kriminalitätsbelastung. Das Konzept der Wiedergutmachung des Schadens werde von der aufkommenden Idee des Täter-Opfer-Ausgleichs unterstützt. Im Rahmen experimenteller Forschung sollte die Überlegenheit von Konferenzen, die auf Reintegrative Shaming basieren, in verschiedenen Untersuchungen ab 1995 nachgewiesen werden. Die Ergebnisse würden überzeugend zeigen, dass der neue Ansatz Gewalttaten reduzieren könne.

Als weiteres Experiment beschreibt Schumann die Überprüfung der Wirksamkeit von intensiv überwachter Bewährungsaussetzung als Alternative zu einer Inhaftierung. Der Ansatz sei vor allem auch vor dem Hintergrund der enorm hohen Gefangenenraten in den USA und der damit entstehenden immensen Kosten zu sehen. In Texas, dem wohl repressivsten Bundesstaat der USA, sei in den Jahren ab 1972 die Zahl der Häftlinge auf mehr als das Sechsfache gestiegen, was zu einer völligen Überbelegung der Vollzugsanstalten geführt habe. Das neue Vorgehen einer vorzeitigen Haftentlassung und einer „Intensive Supervision Probation“ sollte hier weiterhelfen. Die Ergebnisse seien allerdings ernüchternd ausgefallen, denn bei 12 der 14 einschlägigen Projekte habe kein Erfolg nachgewiesen werden können, die erwartete Entlastung der Gefängnisse sei nicht eingetreten. Offensichtlich bewirke die praktizierte intensivere Kontrolle auch, dass mehr Täter entdeckt werden, der erwartete Spareffekt sei nicht eingetreten, im Gegenteil, die durch kriminelles Verhalten entstandenen Kosten seien gestiegen.

Das „Minneapolis Domestic Violence Experiment“ (S. 31 ff.) von 1981, das in der Öffentlichkeit auf erhebliche Aufmerksamkeit gestoßen sei, habe zeigen können, dass eine Festnahme des Gewalttäters eine erneute Gewalt gegenüber dem Partner im Vergleich zu milderen Sanktionen um nahezu die Hälfte senken könne, habe in den USA vor diesem Hintergrund zu einer breiten Publizität und einer intensiven Diskussion hinsichtlich eines härteren Vorgehens gegen Straftäter geführt. Der Anteil der vorgeschriebenen Festnahmen von Tätern sei in den folgenden Jahren erheblich angestiegen, bis 1988 auf 90 %. Lawrence Sherman, dem Initiator des Experiments, sei von Fachleuten attestiert worden, er „habe mit seinem Experiment die einflussreichsten Forschungsergebnisse hervorgebracht, die jemals in den Sozialwissenschaften erzielt wurden“ (S. 111). Abschreckung als präventive Maßnahme sei politisch im Vordergrund gestanden, „Resozialisierung wird zunehmend obsolet, Härte soll Rückfall verhindern“ (S. 111), eine Entwicklung, die von wissenschaftlicher Seite auch auf Kritik gestoßen sei. Es seien in der Folgezeit mehrere neue Projekte zu der Thematik in Angriff genommen worden, so in Omaha, Charlotte oder Atlanta, die dann teilweise auch weniger ermutigende Resultate geliefert hätten, in einigen Regionen, so Omaha hätte ein hartes polizeiliches Vorgehen gegen die Täter die Probleme offensichtlich eher verschärft. In den 1990er Jahren habe in den USA eine „Kriminalpolitik des harten Durchgreifens“ vorgeherrscht (S. 124).

Im Gegensatz dazu sei Mitte der 1970er Jahre vor allem in der Jugendstrafrechtspflege Diversion immer noch sehr unterstützt worden. Dabei ginge es vor dem Hintergrund der Labeling-Theorie vor allem um eine Vermeidung von Stigmatisierung der Betroffenen durch Vorstrafen. Von Seite des U.S.-Justizministeriums sei 1977 eine landesweite Modellstudie zur Evaluierung der differentiellen Effekte in Angriff genommen worden. Per Losverfahren seien unterschiedliche Gruppen gebildet worden, die jeweils eine andere Behandlung erfahren hätten. In dem Forschungsvorhaben seien vor allem die Fragen zu klären gewesen: „Sind Jugendliche, die durch Diversion vom üblichen Jugendstrafverfahren verschont werden, weniger stigmatisiert? Und begehen sie später weniger Straftaten?“ (S. 137). Hinsichtlich der empfundenen Stigmatisierung hätten sich in dem Projekt keine Unterschiede gezeigt. Dasselbe sei auch hinsichtlich der selbstberichteten Delinquenz festgestellt worden. Auch hier hätten sich keinerlei Unterschiede ergeben, „weder nach Häufigkeit noch nach Schwere der in den zwölf Folgemonaten begangenen Delikte zwischen den Gruppen“ (S. 137). Diversionsmaßnahmen würden offensichtlich ähnlich stigmatisieren wie Justizverfahren. „Eine herbe Ernüchterung für die Anhänger der Labeling Theorie und die Befürworter von Diversion“ (S. 138).

Das „Minneapolis Domestic Violence Experiment“ von Larry Sherman habe bewirkt, dass in den 1980er Jahren viele U.S.-Bundesstaaten, bei Gewalt in der Familie auch in minderschweren Fällen eine Inhaftierung des Täters vorgeschrieben hätten, in der Annahme, das würde abschrecken. Auch Präventionsprojekte seien vermehrt entwickelt worden. Forschungsprojekte seien teilweise auch gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt worden. Eine Nachbefragung im Rahmen eines Zufallsexperiments von Behandelten und Unbehandelten habe ergeben, dass sich sowohl in der Experimental- wie auch Kontrollgruppe keinerlei geänderte Einstellungen hinsichtlich einer Rechtfertigung, Frauen zu schlagen, hinsichtlich der Mitverantwortung der Opfer bzw. zu den Pflichten von Frauen gegenüber Männern gezeigt hätten. Das Umerziehungsprogramm in Minnesota, das „Domestic Abuse Intervention Project“ von Ellen Pence, habe „jedenfalls hinsichtlich der Einstellungsänderungen versagt“ (S. 149).

Ein weiterer Ansatz zur Kriminalprävention, der auch in Deutschland teilweise diskutiert wurde, wurde 1975 von einer Gruppe lebenslänglich Inhaftierter im Hochsicherheitsgefängnis Rahway in New Jersey ins Leben gerufen, das „Juvenile Awarness Project“, bei welchem es vorwiegend um Abschreckung geht. „Ins Gefängnis eingeladenen Jugendlichen soll der harte Alltag vorgeführt werden: Gewalt, Vergewaltigung, Isolationszelle“ (S. 152). Jugendliche sollten in diesem Kontext mit inhaftierten Mördern und Räubern, Schwerkriminellen, zusammengebracht, von diesen abgeschreckt und so von eigenem straffälligem Verhalten abgehalten werden. Teilweise sei der Ansatz in den USA auch in der Presse gelobt worden, sei als „Modell für die ganze Nation“ dargestellt worden (S. 153). Von wissenschaftlicher Seite habe eher Skepsis gegenüber einer Abschreckung bestanden. Der renommierte Kriminologe James O. Finckenauer sei mit einer Evaluation der Maßnahmen beauftragt worden. Eine Meta-Analyse mehrerer einschlägiger Experimente habe schließlich festgestellt: „Bei keiner ‚Scared Straight‘-Variante sind die Jugendlichen der Experimentalgruppe später weniger straffällig als die aus der Kontrollgruppe. Im Gegenteil. Sie begehen meist mehr Straftaten“ (S. 157).

Im Weiteren diskutiert Schumann mit dem Zürcher Gewaltpräventionsprojekt wiederum ein europäisches Vorhaben. Kaum eines der vom Autor berichteten Experimente sei „so solide geplant, durchgeführt und auch finanziert wie zipps, das Zürcher Projekt zur sozialen Entwicklung von Kindern“ (S. 158). In mehreren Studien sei zunächst die Entwicklung von Gewalt bei Jugendlichen in Zürich erhoben worden, dann seien per Zufall zwei Präventionsprogramme in Schulen eingeführt worden, im dritten Teil seien dann die am Experiment teilnehmenden Schüler in den folgenden Jahren immer wieder befragt worden, um Effekte zu erfassen. Es habe sich gezeigt, dass schwere Gewalt unter den Schülern selten vorkomme, rund 15 % bis 20 % wurden hinsichtlich aggressivem Verhalten als gefährdet eingestuft. Je früher und deutlicher ein problematisches Verhalten bei den Schülern auftrete, umso größer sei die Gefahr, dass sich Aggressivität verfestige. Eine frühe Prävention bekomme dadurch einen besonderen Stellenwert. Das eingesetzte „Programm zur Förderung alternativer Denkstrategien – PFADE“ könne die „Sozialkompetenz der Kinder und damit Alternativen zu Aggressivität fördern, aber nur, wenn es in hoher Qualität vermittelt wird. Nur solche Lehrer, die vom Konzept überzeugt sind, können hiermit Erfolge verbuchen. Schreibt man es allen als Pflichtprogramm vor, so sind magere Resultate zu erwarten“ (S. 169).

Im letzten vom Autor geschilderten Experiment geht es um eine von U.S.-Richtern aus Utah angeregte Studie, die von dem bekannten Kriminologen Barry Krisberg eine Untersuchung zur Wirksamkeit der von ihnen verhängten Sanktionen bei Jugendlichen gewünscht hätten. Der beim National Institut of Justice – NIJ gestellte Forschungsantrag sei genehmigt worden, das Experiment mit Zufallszuteilung zu unterschiedlichen Formen von Bewährung habe so 1983 begonnen werden können. Die drei Bewährungsvarianten würden eine Unterstellung ohne Kontrolle und Überwachung, eine solche mit Treffen mit dem Bewährungshelfer je nach Bedarf und letztlich eine intensive Überwachung mit wöchentlichen Treffen und telefonischem Kontakt beinhalten. Die Durchführung des Projekts habe sich als schwierig erwiesen, als nur teilweise umsetzbar. Nach einem Jahr hätten sich hinsichtlich der Rückfallrate keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen gezeigt. „In der Realität sind die drei Varianten der Bewährungsunterstellung so ähnlich, dass unterschiedliche Effekte kaum erwartet werden können“ (S. 178).

Schumann betont in seinen „Schlussfolgerungen“ (S. 179 ff.), dass „Zufallsexperimente wissenschaftliche Abenteuer“ seien, selten gehe alles wie geplant. „Randomexperimente beweisen offenbar häufiger, dass etwas nicht wirkt“. Die Frage sei somit, ob man „nicht besser darauf verzichten“ sollte (S. 179). Der Autor betont allerdings gleichzeitig: „Grundsätzlich tragen Experimente, die eine ausgearbeitete theoretische Basis haben, zur Erkenntnis bei“ (S. 181). So geht etwa auch die Erkenntnis, dass „von den vielen Varianten der diversion … bloßes Nichtstun am wirksamsten“ erscheint, auf Forschungsergebnisse zurück (S. 181). Auch das von Ortmann zurecht betonte Ergebnis seiner experimentellen Untersuchung, dass es „nicht auf die Persönlichkeit zielende Therapien, sondern die Entlassvorbereitungen (sind), die vor Rückfall schützen“ basiert auf einer empirischen Studie (S. 183). Maßnahmen zu einer besseren Entlassungsvorbereitung lassen sich, wie Schumann zurecht betont, auch im Regelvollzug umsetzen. Gerade durch eine bessere Entlassungsvorbereitung und vor allem auch Nachbetreuung nach Entlassung ließen sich die Integration in die Gesellschaft verbessern und damit Rückfallquoten reduzieren. Hierbei muss es vor allem auch um eine Unterstützung der Familien von Inhaftierten gehen, insbesondere wenn Kinder vorhanden sind, um eine Weitergabe abweichenden Verhaltens an die nächste Generation möglichst zu vermeiden [6].

Selbst bei der Ermöglichung von Zufallsexperimenten, dem „Goldstandard“ empirischer Forschung, ist die „Verallgemeinerung der Ergebnisse, die externe Validität, … grundsätzlich bedroht. Vielleicht erreichen Zufallsexperimente also nur die Bronzemedaille? Berk tröstet: ‚But if the truth be told, there is no gold standard” [7] (S. 187). Autoren wie Sampson legen mehr Wert auf Längsschnittstudien als auf Experimente. Wie Schumann betont (S. 188) gebe es „keine Überlegenheit einer Methode per se“. In der deutschen Kriminologie würde man Experimente „mit extrem spitzen Fingern“ anfassen. Wissenschaftlicher Fortschritt hänge allerdings „in allen Fachgebieten davon ab, dass immer anspruchsvollere Methoden entwickelt und dann eingesetzt werden. Insofern muss man sich über die Zukunft von Randomexperimenten in der deutschen Wirkungsforschung, aber auch bei der Theorieprüfung, kaum Sorgen zu machen“ (S. 190).

Zielgruppen

Der Band gibt einen guten Überblick über wichtige experimentelle Forschung in der Kriminologie, führt einflussreiche Einzelbeispiele aus unterschiedlichen Bereichen mit ihren jeweils zentralen Ergebnissen an. Er ist gut verständlich geschrieben, somit auch für Nichtfachleute gut zu lesen. Er ist somit nicht nur für Experten aus Kriminologie und Sozialwissenschaft von Interesse, sondern auch für an kriminalpräventiver Forschung und deren Resultaten insgesamt Interessierte. Vor allem auch an empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschung, dem methodischen Vorgehen und auftretenden Problemen, sowie einem möglichen Umgang damit Interessierten, bietet der Band zahlreiche Anregungen. Er macht deutlich, mit welchen zahlreichen Problembereichen eine methodisch gute und differenzierte Forschung im Bereich Straffälligkeit konfrontiert werden kann. Hierbei ist zu beachten, dass Straffälligkeit insgesamt ein ausgesprochen komplexer Bereich darstellt. Die dargestellten Ergebnisse sind vor allem auch insofern von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung, als es sich bei der Thematik Kriminalprävention um einen ausgesprochenen wichtigen Bereich gesellschaftlicher Auseinandersetzung handelt. Kriminalität spielt in allen Gesellschaften in den Medien und der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle. Was somit getan werden kann, um eine größere innere Sicherheit zu erreichen, Ängste vor einer kriminellen Viktimisierung zu reduzieren, ist generell eine zentrale Frage, das vor allem auch deshalb, als es auch um den Einsatz erheblicher finanzieller Mittel geht. Zentral sind vor allem auch die Ergebnisse zur Wirkung bzw. Nichtwirkung von Strafen, dem Mittel, dass in der Regel von der Öffentlichkeit hinsichtlich einer Prävention von Kriminalität am ehesten gefordert wird. Kriminalstrafen sollten in einem Gesamtkontext gesehen werden, etwa auch hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf das Umfeld der Täter.

Diskussion

Beeindruckend ist die Breite der Darstellung in nicht weniger als 14 weltweit durchgeführten und weitgehend bekannten Experimenten zur Kriminalprävention. Der Autor hat nicht nur die umfangreiche Literatur zu den einzelnen Studien ausgewertet, auch nicht veröffentlichte Forschungsberichte eingesehen, sondern hat darüber hinaus, wie er betont (S. 11 f.) vor allem auch persönliche Interviews mit den meisten der Experimentatoren geführt, konnte so differenzierte Einzelaspekte eruieren, die in dem Band auch dargestellt werden. Er arbeitet auch überzeugende Schwächen experimenteller Forschung heraus, kommt letztlich zu einer differenzierten Gesamtbewertung der Bedeutung experimenteller kriminologischer Forschung. Gerade in Deutschland ist experimentelle Forschung in der Kriminologie, etwa im Gegensatz zu den USA, Großbritannien oder auch Australien, eher wenig genutzt, was auch damit zu tun hat, dass hier die Kriminologie in den Anfangsjahren weitgehend von der Rechtswissenschaft dominiert wurde, sich sozialwissenschaftliche Forschungsansätze erst allmählich durchsetzen konnten. Selbstständige, empirisch arbeitende Forschungsgruppen wurden erst in den 1960er Jahren mehr und mehr gegründet und mit Sozialwissenschaftlern, die Erfahrung in empirischer Forschung aufwiesen, besetzt. Eine Fortsetzung und Erweiterung experimenteller kriminologischer Forschung ist absolut wünschenswert, um so effizientere Möglichkeiten eines Umgangs mit Kriminalität, aber auch hinsichtlich Hilfe und Unterstützung für die Opfer zu schaffen.

Fazit

Wer an dem Thema empirisch kriminologische Forschung, insbesondere experimentelle Forschung, interessiert ist, findet in dem Band zentrale Beispiele aus dem Bereich. Die einzelnen Experimente werden gut dargestellt, ihre Ergebnisse kritisch diskutiert und eine Verallgemeinerung der Resultate geprüft. Der Band kann auch Anregung für eine Fortsetzung und Intensivierung experimenteller Forschung in der Kriminologie geben. Gerade experimentelle Forschung ist in der Regel besonders aussagekräftig, verdient somit eine besondere Förderung. Wie von dem Autor dargestellt ist dieser Forschungsansatz im Bereich Kriminologie auch von besonderen Hindernissen, einschließlich rechtlichen, bedroht. Dabei kann es auch darum gehen, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Es wäre wünschenswert, wenn der Band gerade auch in Deutschland die experimentelle Forschung in der Kriminologie anregen und fördern könnte. Hier eingesetzte finanzielle Mittel dürften sich langfristig hinsichtlich wirksamerer Kriminalprävention letztlich auszahlen.

Das Gesamturteil ist vor diesem Hintergrund: Sehr empfehlenswert.


[1] Vgl. etwa zur Situation in Portugal: Kury, H., Quintas, J. (2010). Zur Wirkung von Sanktionen bei Drogenabhängigen – Argumente für eine rationale Drogenpolitik. Polizei & Wissenschaft 1, 31–56; Kury, H., Kuhlmann, A., Quintas, J. (2019). On the Preventative Effect of Sanctions for Drug Crime: The United States, Germany and Portugal. Archiwum Kryminologii, Polska Akademia Nauk, Instytut Nauk Prawnych, 41, 261–295. http://ak.inp.pan.pl/index.php/ak/issue/view/20; http://ak.inp.pan.pl/index.php/ak/article/view/342

[2] Vgl. Ortner, H. (2017). Wenn der Staat tötet. Eine Geschichte der Todesstrafe. Darmstadt: Theiss; Kriminalmuseum Rothenburg ob der Tauber (1980). Strafjustiz in alter Zeit. Rothenburg ob der Tauber: Kriminalmuseum.

[3] Dölling, Dieter, Entorf, Horst, Hermann, Dieter, Rupp, Thomas (2011). Meta-analysis of empirical studies on deterrence. In: Kury, Helmut, Shea, Evelyn (Hrsg.), Punitivity. International Developments. Vol. 3: Punitiveness and Punishment. Bochum: Universitätsverlag Dr. Brockmeyer, 315–378.

[4] Vgl. etwa auch: Kury, H., Lerchenmüller, H. (Hrsg.)(1981). Diversion. Alternativen zu klassischen Sanktionen. Bochum: Studienverlag Dr. N. Brockmeyer, 2 Bände.

[5] Martinson, Robert (1974).What Works? Questions and Answers about Prison Reform. The Public Interest 35, 22–54.

[6] Vgl. Kury, H., Kuhlmann, A. (2020). Zu den Auswirkungen der Inhaftierung Straffälliger auf Familienangehörige. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 103, 285–299; Kury, H. (2020). The effects of prison sentences on the family members and the community. European and Asian Law Review 3 (2), 115–123; Kury, H. (2021). Effects of incarceration of offenders on their families – a German view. Urban Crime. An international Journal 2, 53–72.

[7] Richard A. Berk (2005). Randomized Experiments as the Bronze Standard. Journal of Experimental Criminology 1, 417–433.

Rezension von
Prof. Dr. Helmut Kury
Universität Freiburg, Max Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht (pens.)
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Es gibt 17 Rezensionen von Helmut Kury.

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Zitiervorschlag
Helmut Kury. Rezension vom 23.08.2021 zu: Karl F. Schumann: Experimente contra Kriminalität. 14 wissenschaftliche Abenteuer. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. ISBN 978-3-7799-6375-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27883.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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