Tiffany Jewell: Das Buch vom Antirassismus
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 11.03.2021
Tiffany Jewell: Das Buch vom Antirassismus. 20 Lektionen über Rassismus und was wir alle dagegen tun können. Zuckersüß Verlag Luna Ventures GmbH (Berlin) 2020. 164 Seiten. ISBN 978-3-9821379-3-3. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Thema
Was ist Rassismus? Woher kommt er und was kann jede und jeder Einzelne von uns dagegen tun? Das Buch stellt die Konzepte Rassismus, Ethnie und soziale Identität vor. Angesprochen werden insbesondere junge Erwachsene, die in 20 Kapiteln mit praktischen Übungen von der Autorin Tiffany Jewell und der Illustratorin Aurélia Durand durch das Thema Rassismus und Identität führt. Werkzeuge und praktische Beispiele dienen dazu, aktiv gegen Ausgrenzung und Hass vorzugehen.
Autorin
Die Autorin Tiffany Jewell ist Schriftstellerin und Montessori-Erzieherin und lebt in West-Massachusetts. Sie ist die Tochter eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter. Es ist ihr erstes Buch für Kinder und junge Erwachsene.
Illustratorin
Auréla Durand ist eine französische Illustratorin aus Paris. Ihre Arbeit ist der Repräsentation von People of Color in der Gesellschaft gewidmet, dabei nutzt sie Kunst als Mittel zur Demonstration. Ihre Arbeiten sind u.a. in Magazinen und Werbekampagnen erschienen.
Aufbau und Inhalt
Die rund 160-seitige Buch gliedert sich in vier Abschnitte mit insgesamt 20 Kapitel inklusive Übungen und richtet sich an junge Erwachsene.
Der erste Abschnitt „Aufwachen: Verstehen und in meine Identität hineinwachsen“ beginnt mit der Frage „Wer bin ich?“ (Kapitel 1). Die Leser*innen werden dazu animiert, sich mit ihrer Identität zu beschäftigen, d.h. all dem was eine Person ausmacht: die Vorfahren*innen, die Familie und Freunde, die Nachbarschaft und die Schule, aber auch die sozialen Medien und die Bücher die eine Person liest bzw. ansieht. Die Autorin führt aus, dass die eigene Identität wächst und sich verändert. Die Begriffe „dominante Kultur“, also Menschen, die die Macht haben und oft die Mehrheit einer Gesellschaft bilden (beschrieben u.a. als weiß, der Mittelschicht angehörend, gebildet körperlich gesund = die „normale Schublade“) und „untergeordnete Kultur“, so z.B. BIPoc (Abkürzung für Black, Indigenious, People of Color) trans und nichtbinäre Menschen sowie Muslim*innen und Menschen mit Handicaps (= außerhalb der „normalen Schublade“). Die Leser*innen werden aufgefordert, sich ein Notizbuch zu nehmen und eine Liste der eigenen Identität zu erstellen (Die Autorin beschreibt sich z.B. als: weiblich, schwarz, Tochter, US-Amerikanerin, Brotbäckerin, Schwester, Seitenschläferin, Leserin, Frostbeule, stur …).
Es folgt die Frage „Welche sozialen Identitäten habe ich?“ (Kapitel 2). Der Begriff der Identität wird hier vertieft. Teile der Identität werden von der Gesellschaft definiert. Als Kategorien sozialer Identität werden u.a. Ethnie, Sozialer Status, Alter, Sprache, Gender, Religion und Nationalität genannt. Das Buch konzentriert sich dann auf Bereiche, die Rassismus uns verschafft. Die Autorin konstatiert, dass einige soziale Identitäten mit Macht und Privilegien einhergehen bzw. nicht einhergehen. Als Beispiel wird hier die Sprache genommen: die Autorin lebt in einem englischsprachigen Land, sie kann als englisch sprechende Person die Straßenschilder lesen, sich verständigen, sie versteht alles und wird verstanden – damit ist sie der dominanten Kultur in diesem Punkt nahe. Die Leser*innen werden aufgefordert im Notizbuch weiterzuarbeiten, indem soziale Kategorien aufgeschrieben werden und in Bezug gesetzt werden zur eigenen Identität: Wo genießt man selbst Macht und Privilegien? Wo gibt es Teile der eigenen Identität, die außerhalb der dominanten Kultur existieren?
Kapitel 3 stellt die Fragen „Was ist ‚Rasse‘? Was ist ethnische Identität?“. Das Konzept der Rasse ist ein soziales Konstrukt und entbehrt einer wissenschaftlichen Grundlage. Die Kategorien für „Rasse“ wurden von weißen Menschen der dominanten Kultur geschaffen. Rassismus bedient sich dabei auch der Vorstellung „ethnischer Zugehörigkeit“. Ethnische Identität ist die kulturelle Erfahrung eines Menschen und ist ebenfalls ein gesellschaftliches Konstrukt. Im Gegensatz zum „Rasse“-Begriff, der insbesondere körperliche Merkmale umfasst, verweist Ethnie u.a. auf die kulturelle Herkunft einer Familie (z.B. Sprache und Traditionen). Die Leser*innen nehmen erneut ihr Notizbuch in die Hand und werden gebeten, über den Zusammenhang mit Rassismus und der kulturellen Herkunft ihrer Familie nachzudenken.
Mit der Frage „Was ist (persönlicher) Rassismus?“ befasst sich Kapitel 4. „Was ist (institutioneller) Rassismus?“ ist Thema von Kapitel 5. „Rassismus sind persönliche Vorurteile und Ressentiments UND systemischer Machtmissbrauch durch Institutionen“ (S. 12, Hervorhebungen durch Autorin). „Vorurteile haben wir alle. Wenn wir etwas aufgrund von Vorurteilen ablehnen, lehnen wir es ab, ohne es wirklich zu kennen. Einige Vorurteile sind uns bewusst, andere nicht. Wir haben sie quasi von unserem Lebensumfeld übernommen. Dazu gehören auch diskriminierende Stereotypen.“ (S. 13, Hervorhebungen durch Autorin). Struktureller und systematischer Rassismus werden besprochen. Dabei werden die Bereiche Wohnverhältnisse, Regierung/​Justiz, Bildung und Gesundheitsfürsorge aufgegriffen. Das Notizbuch füllt sich auch in diesen beiden Kapiteln weiter, so soll z.B. notiert werden: Wer ist Direktor*in an Deiner Schule? Wer leitet die größten Firmen? Welche Promis siehst Du oft?
Der zweite Abschnitt umfasst die Kapitel „Vorurteile sind persönlich“ (Kapitel 6), „Die Geschichte, die wir in uns tragen“ (Kapitel 7), „Unsere Geschichte kennen“ (Kapitel 8) sowie „Wir sind unsere Geschichte“ (Kapitel 9). Der Abschnitt beginnt mit persönlichen Eindrücken der Autorin über ihre Schulzeit und den rassistischen Vorurteilen ihrer Lehrerin. Die Begriffe Mikroaggression, internalisierter und persönlicher Rassismus werden erklärt. „Mikroaggressionen sind bewusste oder unbewusste Beleidigungen, unbedeutende oder feindselig negative Botschaften an Menschen, die nicht in die imaginäre Schublade der dominanten Kultur passen.“ (S. 51). Die Leser*innen werden sodann aufgefordert, auf Mikroaggression zu achten und im Notizbuch festzuhalten. Im Kapitel „Die Geschichte, die wir in uns tragen“ führt die Autorin über ihre eigene Familiengeschichte ein, die dann in Ausführungen zum Thema Kolonisation übergehen und resümiert: „Die Geschichte, die wir uns tragen, ist in unserer DNA und in den Geschichten, die uns nie erzählt wurden.“ (S. 61). Die Leser*innen werden aufgefordert, ihre Geschichte aufzuschreiben. „In den USA ist die Geschichte, die wir in uns tragen, die Internate, die ab 1860 gegründet wurden, um Indigenous Americans in die ‚US-amerikanische Kultur‘ zu assimilieren. (…) Die Geschichte, die wir in uns tragen, ist der Abwurf einer Sprengladung auf ein Haus der Schwarzen Befreiungsorganisation MOVE auf ein Wohnwirtel in West Philadelphia 1985. Es ist das in Frankreich, Dänemark. Österreich, Belgien, den Niederlanden und mehreren anderen Ländern Europas geltende Verbot, die Burka zu tragen. Hier überlagern sich antimuslimischer Rassismus und Sexismus (Intersektionalität).“ (S. 64 u. S. 71f; Hervorhebungen durch Autorin). Auch hier sollen die Leser*innen ihre Geschichte weiterschreiben und überlegen, welche Geschichte sie außerhalb ihrer Familie haben und was dies mit dem Land zu tun hat, in dem sie leben. Die Autorin fasst zusammen: „Die Geschichte, die wir in uns tragen, ist in jeder*m Einzelnen von uns. Du machst Deine Vorfahr*innen stolz, du bist Teil ihres Widerstands, du bringst uns voran.“ (S. 82). Das Notizbuch der eigenen Geschichte füllt sich weiter, notiert werden sollen Geschichten von Menschen in der eigenen Familie, die gegen Rassismus gekämpft haben.
Der dritte Abschnitt trägt den Titel „Meinen Weg wählen: In Aktion treten und auf Rassismus reagieren“. Kapitel 10 „Stören!“ fordert auf, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um Ungerechtigkeiten zu benennen. „Sprich mit deiner Familie, mit deinen Freund*innen, deinen Schulkamerad*innen, mit allem und jeder*m, die*der dir zuhört. Schreib und schreib und schreib und teile. Mach Kunst und zeig sie. Geh Risiken ein. Du kannst das.“ (S. 90). Den Leser*innen wird ein (fiktive) Situation beschrieben, dessen Ende sie mit mehreren Varianten – im Sinne von „tu was“ – aufschreiben sollen. Die Leser*innen werden aufgefordert „In Aktion zu treten“ (Kapitel 11). Das Notizbuch füllt sich mit „Tu was“. Die Leser*innen sollen überlegen, welche Aktionen sie sich vorstellen könnten, was sie tun könnten. Aber auch, was ihnen ein mulmiges Gefühl bereitet und welche Art von Unterstützung und von wem sie benötigen. Sodann sollen sie schriftlich ihren „antirassistischen Werkzeugkasten“ füllen. In dem Werkzeugkasten der Autorin finden sich z.B. Notizbuch und Stift, um Gedanken und Gefühle zu notieren, Schokolade für die Energiezufuhr, das Telefon, um andere schnell zu erreichen und ggf. Fotos zu machen. Kapitel 12 ist überschrieben mit „Unterbrechen!“. Zunächst werden hier die eigenen Superkräfte notiert. Die Autorin benennt eben dieses Unterbrechen als eine ihrer Superkräfte: „Ich trainiere diese Superkraft, wenn ich mit anderen Erwachsenen zusammen bin. Das ist gut, denn andere Erwachsene sagen oft Sachen, die denen es sinnvoll ist, sie zu unterbrechen. Wenn jemand rassistische Stereotype oder Mikroaggressionen von sich gibt, unterbreche ich sie*ihn.“ (S. 102). Kapitel 13 beschäftigt sich mit Solidarität, Kapitel 14 mit öffentlichem und persönlichem Konfrontieren.
Der abschließende vierte Abschnitt ist überschrieben mit „Die Tür aufhalten: Sich solidarisch gegen Rassismus einsetzen“. In Kapitel 15 „Privilegien“ werden die Leser*innen dazu angeregt, eigene Privilegien zu nutzen, um andere zu unterstützen. Gleichzeitig ist aber darauf zu achten, so die Autorin, nicht in die Falle des „White Saviourism“ und der „Wohltätigkeit“ zu tappen (S. 125). Kapitel 16 fordert auf, „Aktive Verbündete“ zu werden und gibt Beispiele, wie dies praktisch umgesetzt werden kann. Kapitel 17 beschäftigt sich mit dem Aufbau von Beziehungen. „Ich sage nicht, dass du dich mit allen anfreunden musst. Ich rate dir nur: Wenn du mit anderen in Verbindung trittst, dann bemühe dich darum, dass die Beziehungen auf Augenhöhe sind.“ (S. 138). Kapitel 18 beschreibt das Bekennen zur eigenen Person und ist überschrieben mit „Liebe dich selbst“. Die Leser*innen werden in Kapitel 19 „Wie wir wachsen“ dazu angehalten, sich nicht von den eigenen Fehlern definieren zu lassen. „Ich mache auch nicht alles richtig. Ich lerne dazu; ich lerne dauernd dazu.“ (S. 146). Das abschließende Kapitel 20 ist überschrieben mit „Unsere Freiheit“. Die Autorin zitiert hier Lilla Watson, Indigenious Australien, Künstlerin, Aktivistin und Wissenschaftlerin, mit den Worten: „Wenn Du hergekommen bist, um mir zu helfen, verschwendest Du Deine Zeit, aber wenn Du gekommen bist, weil Deine Befreiung eng verknüpft ist mit meiner, dann lass uns zusammenarbeiten.“ (S. 150). Die Leser*innen füllen (abschließend) ihr Notizbuch mit der eigenen Vision von Gerechtigkeit und der Aufforderung, ein Lied, Gedicht oder Kunstwerk zu finden, dass sie zum Weitermachen inspiriert, wenn sie einmal erschöpft sind.
Diskussion
Das Buch ist informativ und inspirierend zugleich. Die Illustrationen sind modern und leiten angenehm durch das Werk. Es wird ein Einblick in das Thema Rassismus und seine Ausprägungen gegeben. Beim Durcharbeiten und Reflektieren wird der Leserin bewusst, wie tief (Alltags-)Rassismus in unserem Leben verankert ist; so regt es zum Nachdenken an und Überlegungen, diesem Nachdenken aktives Tun folgen zu lassen. Das Buch ist sicherlich gut geeignet für junge Erwachsene (und auch für Ältere). Lesende werden aktiv aufgefordert, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Vermutlich gelingt dies aber auch nur dann wirklich gut, wenn das Buch eben als solch ein Arbeitsbuch verstanden respektive eingesetzt wird. Zum „einfach mal durchblättern“ und ein Kapitel mittendrin zu lesen, ist das Buch nicht geeignet aus meiner Sicht, denn so ist es schlicht nicht angelegt. Das Buch ist ein Bestseller in der USA – und macht gleichzeitig auf einen kleinen Wermutstropfen aufmerksam. Zwar ist das Buch vom Institut für Diskriminierungsfreie Bildung lektoriert worden und es findet sich der und andere Übertrag auf Deutschland bzw. Europa. Nichts desto trotz und verständlicher Weise fokussiert das Buch insbesondere auf BIPoc (Black, Indigenious, People of Color). Nicht alle Aussagen, Beispiele und Lebensbeschreibungen lassen sich dementsprechend auf den deutschsprachigen Raum übertragen. Die Leser*innen müssen hier einen doppelten Übertrag leisten – anders sicherlich als die Leser*innen in den USA – das schmälert vielleicht an der ein oder anderen Stelle die Motivation der Jugendlichen, die das Buch hier zur Hand nehmen. Andererseits zieht das Buch durch das Erstellen und Füllen des eigenen Notizbuches und die ansprechenden Grafiken aber so sehr in den Bann, dass der Übertrag auf die eigene, persönliche Geschichte und Haltung vermutlich doch gelingt.
Fazit
Das Buch kann einen wertvollen Beitrag leisten, sich mit dem Thema (Alltags-)Rassismus auseinanderzusetzen. Der Autorin und der Illustratorin gelingt es, anschaulich Rassismus und die Möglichkeiten jedes/​jeder Einzelnen von uns, etwas dagegenzusetzen aufzuzeigen. Dies geschieht durch Text, grafische Aufbereitung und dem Einsatz eines persönlichen Notizbuches, um die eigene Geschichte und Haltung und damit Überlegungen zum aktiven Tun zu reflektieren. Jungen Erwachsenen ist dieses Buch sehr zu empfehlen. Auch ein Einsatz im Rahmen der außerschulischen und schulischen Jugendarbeit ebenso wie im Kontext der studentischen Auseinandersetzung mit dem Thema (z.B. im Rahmen von Studiengängen der Sozialen Arbeit) ist sicherlich sehr gut möglich.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Bremen
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Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 11.03.2021 zu:
Tiffany Jewell: Das Buch vom Antirassismus. 20 Lektionen über Rassismus und was wir alle dagegen tun können. Zuckersüß Verlag Luna Ventures GmbH
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-9821379-3-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27888.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
Urheberrecht
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