Anke Grotlüschen, Henning Pätzold: Lerntheorien
Rezensiert von Dr. Jutta Pauschenwein, 12.05.2021

Anke Grotlüschen, Henning Pätzold: Lerntheorien. In der Erwachsenen- und Weiterbildung.
UTB
(Stuttgart) 2020.
142 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5622-7.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR,
CH: 26,90 sFr.
Reihe: Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer - 4.
Thema
Dieses Buch ist Teil der Lehrbuchreihe „Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer“ und setzt sich in einem breit und perspektivenreich mit Lerntheorien und Lernansätzen auseinander.
Autor:innen
- Anke Grotlüschen ist Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaften, Fachbereich Berufliche Weiterbildung und Lebenslanges Lernen.
- Henning Pätzold arbeitet als Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Forschung und Entwicklung von Organisationen an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Fachbereich Bildungswissenschaften.
Aufbau
Das Buch enthält einen Einblick in die Kapitel, eine Einleitung, zwölf Kapitel, ein Literaturverzeichnis und das Kapitel Lösungsvorschläge für die Fragen & Aufgaben aus den jeweiligen Themen.
- Kapitel 1: Klassische und kritische Theorien des Lernens
- Kapitel 2: Subjektwissenschaftliche Lerntheorie
- Kapitel 3: Eklektizistische Ansätze zum Verständnis von Lernen
- Kapitel 4: Vom vernachlässigten Gefühl: emotionales Lernen
- Kapitel 5: Individuelles und kollektives Interesse
- Kapitel 6: Subjekt, Leib, Widerfahrnis und Vulnerabilität
- Kapitel 7: Lernen als biografischer Prozess
- Kapitel 8: Transformation: Lernen, Bildung, gesellschaftliche Entwicklung
- Kapitel 9: Situiertes Lernen in Communities of Practice
- Kapitel 10: Lernen aus systemtheoretischer Sicht
- Kapitel 11: Lernen im Prozess der Arbeit
- Kapitel 12: Organisationales Lernen im Kontext des Lernens Erwachsener
Inhalt
In der Einleitung wird das Feld für die weiteren Inhalte aufbereitet. Insbesondere grenzt sich das Buch zur Didaktik, der Perspektive des Lehrens ab, und fokussiert auf das Lernen insgesamt, welches auch in alltäglichen Situationen passieren kann und in immer wieder in vorbereiteten Lehrsituationen nicht oder anders als geplant stattfindet.
Kapitel 1 bietet eine Gegenüberstellung von bekannten Theorien des Lernens (wie Behaviorismus und Kognitivismus) in ihrem historischen Kontext zu kritisch geltenden Theorien (die kulturhistorische Schule).
Die Darlegung der Subjektwissenschaftlichen Lerntheorie in Kapitel 2 hält fest, dass es kein allgemeines Lernprinzip gibt und die subjektwissenschaftliche Herangehensweise eine anti-autoritäres, erwachsenengerechtes Lehrlernverhältnisses abbildet. Im Mittelpunkt steht das mit Absicht handelnde Subjekt mit seinen oder ihren subjektiven Lernwiderständen, welches expansiv und defensiv lernen kann. Expansives Lernen zielt auf Erweiterung der eigenen Möglichkeiten ab. Defensives Lernen ist widersprüchlich, in sich gebrochen, halbherzig und ineffektiv. Bei Schwierigkeiten in Lernsituationen handelt es sich um eine Handlungsproblematik und nicht um eine Lernproblematik.
Eklektizistische Ansätze zum Verständnis von Lernen (Kapitel 3) versuchen Ansätze klassischer Lerntheorien miteinander zu verbinden, da in der Erwachsenenbildung einzelne Lerntheorien vermutlich nicht ausreichend sind. Auf diese Weise entstehen prozessorientierte Modelle, wie etwa die „Experiential Learning Theory“ von David Kolb, der „Lernkreis“ von Peter Jarvis oder das Lerndreieck von Knud Illeris.
Emotionen (Kapitel 4) beeinflussen das Lernen und können Gegenstand des Lernens selbst sein, wenn der Umgang mit ihnen reflektiert wird. Alle Lerntheorien enthalten implizit oder explizit Vorstellungen darüber, wie Motivation oder Widerstand entstehen, von Konditionierungen bis zu subjektiven Lernbegründungen. Nach Wiltrud Gieseke beruht Lernen auf Beziehungen, auch das soziale Geschlecht spielt eine Rolle. Erfahrungen sind mit Emotionen verbunden, also ist Beachtung von Emotionen wesentlich für erfahrungsorientierte Lernkonzepte.
In Kapitel 5 Individuelles und kollektives Interesse werden gesellschaftliche Aspekte und das Ermöglichen von Lernprozessen diskutiert. So gibt es etwa ein generelles Bildungsinteresse in der gesamten Bevölkerung, die Weiterbildungsangebote werden jedoch vorwiegend von Personen aus höheren sozialen Schichten wahrgenommen. Nach Horst Siebert trägt Erwachsenenbildung zur Demokratisierung bei. Auf das „Learning per doing“ Theorem von John Dewey wird hingewiesen und auf die soziökonomische Perspektive von Pierre Bourdieu, der den „Geschmack“, nach dem Menschen entscheiden, was sie interessiert, untersucht.
In Kapitel 6 Subjekt, Leib, Widerfahrnis und Vulnerabilität geht es um aktuelle, poststrukturalistische Theorien, die das Lernumfeld noch breiter fassen. Dabei wird der Subjektbegriff der Moderne kritisch beleuchtet. Käte Meyer-Drawe hinterfragt im „Phänomenologischen Ansatz“ kritisch die Reduktion des Lernens auf Ergebnisse und weist auf die Wichtigkeit des „Verlernens“ hin. Gefühle und Leidenschaften spielen eine Rolle beim Lernen. Judith Butler setzt sich mit Vulnerabilität auseinander; Lehrende und Trainer*innen sollten alle Lernenden berücksichtigen.
Lernen als biografischen Prozess zu begreifen, stellt die lernenden Individuen in den Mittelpunkt (Kapitel 7). Die eigene Biographie kann zu Lernen führen, Gelerntes kann die Biographie verändern, absichtsvolles Lernen kann die Reaktion auf ein biografisches Ereignis sein, und Biographie selbst kann Thema des Lernens sein, wenn Lernen das eigene Leben mitgestaltet.
In Kapitel 8 Transformation: Lernen, Bildung, gesellschaftliche Entwicklung wird das Verhältnis von Lernen und Transformation beleuchtet, auch in Bezug auf die Abgrenzung von Veränderung und Transformation. Jack Mezirow prägte den Begriff „transformative learning“, bei dem grundlegende Veränderungen stattfinden, die weit über den Lerngegenstand hinausgehen. Auch im Bereich der Bildung für Nachhaltige Entwicklung wird die Transformation der Lernenden im Umgang mit der Umwelt angestrebt.
Situiertes Lernen in Communities of Practice (Kapitel 9) hat einerseits Lernen in einer bestimmten Situation und andererseits Lernen in der Praxisgemeinschaft zum Thema. Nach Etienne Wenger braucht es gegenseitiges Engagement und ein gemeinsames Unterfangen, um die Auseinandersetzung mit gemeinsamen Routinen und die Entwicklung von Artefakten zu fördern. Die soziale Veranlagung des Menschen fördert die Teilhabe, welche peripher oder vollständig sein kann, sowie zeitlich veränderbar.
In Kapitel 10 geht es um Lernen aus systemtheoretischer Sicht. Lernprozesse geschehen in Wechselwirkungen mit der Umwelt. Aus systemtheoretischer Sicht wird gefragt, warum gleiche Aufgabenstellungen in unterschiedlichen Systemen zu unterschiedlichen Ergebnissen beim Lernen führen. Die Selbsterzeugung eines Systems nennt man Autopoiesis, damit ist gemeint, dass Systeme innere Strukturen bewahren und weiterentwickeln. Eine Lerngruppe etwa kann so ein System sein. Neuere Systemtheorien beschäftigen sich unter anderem mit Rationalität und Intuition.
In Kapitel 11 Lernen im Prozess der Arbeit wird über die Abgrenzung von Lernen im beruflichen Umfeld zum Lernen in Schulen oder Hochschulen diskutiert. Arbeitsbezogenes Lernen ermöglicht realitätsnahe, handlungsbezogene Lernprozesse. Ihre Wirksamkeit ist allerding schwer messbar.
Das letzte Kapitel 12: Organisationales Lernen im Kontext des Lernens Erwachsener rundet das Buch ab. Die Organisation wird über ihre Mitglieder hinaus als Akteur im Lernprozess betrachtet.
Diskussion
Um die Inhalte dieses recht umfassenden Buchs zu Lerntheorien gut erfassen zu können, ist es vermutlich nützlich sich bereits vorab längere Zeit mit Lerntheorien auseinandergesetzt zu haben. In diesem Fall ermöglicht das Buch ein Einordnen und zueinander in Beziehung Setzen der unterschiedlichen Theorien, es zeigt zusätzliche, andere, manchmal auch unvermutete Beziehungen auf und bietet einen breiten Fundus zur Vertiefung.
Setzt man sich das erste Mal mit Lerntheorien auseinander, empfiehlt es sich aus der Übersicht ein Kapitel auszuwählen und sich dann für die ca. 10 Seiten ausreichend Zeit zu nehmen zum Nachdenken und weiter Forschen.
Aufgrund der Vielfalt an Lernansätzen im Buch werden einzelne Theorien eher angerissen. Dies lässt die Leserin nicht in eine konsumierende Haltung verfallen, sondern fordert sie immer wieder heraus, selbst zu recherchieren, sich mit Kolleg*innen auszutauschen.
Fazit
Dieses Lehrbuch zeichnet sich durch gute Strukturierung und eine griffige Übersicht über die Inhalte der einzelnen Kapitel aus. Es motiviert zur tieferen Auseinandersetzung mit den Inhalten durch Lernziele, Fallbeispiele und Falldiskussionen, Informationen zum zeitlichen Umfeld der Theorieentwicklung, Merksätze, Zusammenfassungen, Fragen & Aufgaben sowie weiterführende Lese-Empfehlungen.
Die vielen lerntheoretische Beiträge fand ich überwältigend und das Lesen nahm wesentlich mehr Zeit in Anspruch als geplant. Die Auseinandersetzung mit dem Buch kann zu einer tieferen Einsicht zu den Themen Lernen von Erwachsenen und Lerntheorien führen und die Sicht auf Lernprozesse insgesamt ändern.
Rezension von
Dr. Jutta Pauschenwein
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Es gibt 19 Rezensionen von Jutta Pauschenwein.
Zitiervorschlag
Jutta Pauschenwein. Rezension vom 12.05.2021 zu:
Anke Grotlüschen, Henning Pätzold: Lerntheorien. In der Erwachsenen- und Weiterbildung. UTB
(Stuttgart) 2020.
ISBN 978-3-8252-5622-7.
Reihe: Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer - 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27889.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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