Klaus Piwernetz, Edmund Neugebauer: Strategiewechsel jetzt!
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 22.03.2022

Klaus Piwernetz, Edmund Neugebauer: Strategiewechsel jetzt! Corona-Pandemie als Chance für die Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems. Walter de Gruyter (Berlin) 2020. 363 Seiten. ISBN 978-3-11-070674-1. D: 79,95 EUR, A: 79,95 EUR.
Thema
Ausgehend von der Tatsache (und Fakten), dass das Gesundheitssystem sich als angebotsorientiertes System entwickelt hat, “diagnostizieren” es die Autoren als “krank”. In Folge entstand der Zielkonflikt zwischen der Versorgungsqualität und der Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Die Autoren weisen nach, wie sehr die Corona-Pandemie diese Problematik (das Gesundheitssystem blieb auch in der Pandemie kameralistisch und korporatistisch) verstärkt, was sich auch in der Ignoranz vorhandener Strukturen für den Umgang mit einer Pandemie zeigte. Eine Verbesserung dieser Situation erfordert eine entsprechende Neustrukturierung des Gesundheitssystems. Mit nur 15 Regeln konstruierten die Verfasser ein Modell für das Gesundheitswesen, salu.TOP. Salu.TOP ist wissenschaftlich fundiert, im Sinne der Systemtheorien, und basiert auf den Methoden der Systemtheorie.
Autor
Kl. Piwernitz (Physiker und Arzt) beschäftigt sich mit IT Systemen im Gesundheitswesen i.w.S. Nachdem er 10 Jahre für die WHO und die EU tätig war, konzentriert er sich nun vollständig auf sein Unternehmen CEO medimaxx health management Gmbh.
E. A. M. Neugebauer war bis 2021 Präsident der Medizinischen Hochschule Brandenburg. Er ist Gründungsmitglied und war Vorsitzender des DNVF sowie DNEBM.
Entstehungshintergrund
Mit diesem Buch wird das Ziel verfolgt aufzuzeigen, was auf der Seite des Systems notwendig wird, um eine patientenorientierte und auf das Gemeinwohl ausgerichtete Gesundheitsversorgung aufzubauen.
Aufbau
Nach Vorwort, Geleitworten, der Danksagung und dem Abkürzungsverzeichnis folgen Orientierungs-hilfen zur Arbeit mit dem Buch. Gemäß der Anforderung zum Mitdenken ist das Buch aufgebaut mit:
- Gedanken vorab
- Einmal vorausgesetzt
- Umdenken: Von Institutionen zu Funktionen
- Bottom-Up: Regeln gehen vom Patienten aus
- Top-down: Alles Gute kommt von oben
- Jetzt wird es Ernst!
- Gesetze, Gesetze, Gesetze, …
- Es ginge doch, wenn …
- Zusammenfassung
- Anhang
Mit der Literaturübersicht sowie dem Stichwortverzeichnis endet dieses Fachbuch.
Inhalt
Im Vorwort verweisen Piwernitz/​Neugebauer u.a. auf Forderungen diverser Ärztegruppen, die mit ihren Appellen eine am Wohl des Menschen orientierte Medizin fordern. Prof. Dr. G. Glaeske (ehem. Mitglied im Sachverständigenrat) und Dr. G. Jonitz (Präsident der Ärztekammer Berlin) betonen in ihren Geleitworten die Gesundheitsversorgung als Hauptaufgabe des Gesundheitssystems und heben den notwendigen Strategiewechsel hervor, wenn es um ein „humanes und hochwertiges Gesundheitswesen“ (S. XVI) als Ziel geht.
Inhaltlich starten die Autoren mit dem “Baum der Erkenntnis” (S. 9) anhand dessen die entsprechenden Themen des Gesundheitssystems eingeführt werden. Zu diesen gehören u.a. “Der Patient ist Zweck der Gesundheitsversorgung” und “Rettet die Gesundheitsberufe!” sowie “Gesundheitsversorgung vor Ökonomie” (S. 9). Aus der Systemanalyse leiten Piwernetz/​Neugebauer fünf Funktionsebenen innerhalb des Gesundheitssystems ab, wobei jede Ebene nach eigenen Regeln funktioniert. Das Zusammenwirken der Ebenen wiederum folgt Luhmanns Konzeption eines “Systems von Systemen” und: die Regeln werden von den Patientenbedarfen (Bottom-Up) hergeleitet. Die Implementierung dieser Regeln erfolgt dann von der Spitze her (Top-down). Als quasi operatives Clearing House empfehlen Piwernetz/​Neugebauer die Gründung eines Nationalen Institutes für Gesundheit (NIG), welches Entscheidungsgrundlagen für die Gesundheitspolitiker erarbeitet. Im 7. Kapitel findet sich ein Abgleich mit aktuellen Gesetzen etc. mit der Frage, welche durch salu.TOP überflüssig werden könnten. Dass bereits einzelne Initiativen auf das Referenzsystem salu:TOP zurückzuführen sind, ist im 8. Kapitel nachzulesen. Exemplarisch sei auf das Integrale Modell der Gesundheitskompetenz verwiesen, welches auch den Anforderungen an die Gesundheitsförderung gerecht wird. Zu guter Letzt gibt es Umsetzungshinweise. Salu.TOP als Referenzsystem wurde en detail vorgestellt und erläutert. Es gilt mit Hilfe einer Expertengruppe einen Masterplan auszuarbeiten, der alle Aufgaben und alle Verantwortlichen (die Gesundheitspolitik, das zu gründende Nationale Institut für Gesundheit, die regionale Gesundheitspolitik, die Einrichtungen, Behandlungsteams, Patienten, das das Medizinstudium) zusammenbringt. Piwernitz/​Neugebauer fordern abschließend alle Menschen auf im Sinne des Strategiewechsels aktiv zu werden, weil es sonst andere (mit anderen Interessen) tun.
Diskussion
Auch wenn der vordere Bucheinband sich auf die Corona-Pandemie als Anlass für den Strategiewechsel bezieht, so steht auf der Rückseite des Einbandes „So kann es nicht weitergehen“. Auch wenn die Autoren eher für eine wohldurchdachte und schrittweise Neuausrichtung des Gesundheitssystems plädieren, so sagen Piwernetz und Neugebauer dem an Gewinn orientierten Gesundheitssystem den Kampf an. Die Autoren bezeichnen die Pandemie als Stresstest für das Gesundheitssystem und begründen aus den aktuell sichtbaren Problemen heraus ein Referenzsystem für ein agiles Gesundheitssystem, salu.TOP. Wie Patientenbedürfnisse und –bedarfe mit den entsprechenden Ressourcen und Akteuren verbunden werden können, zeigen die Autoren an 15 Regeln sowie Konstruktionsprinzipien. Salu.Top ist das Ergebnis zahlreicher Analysen, dem theoretischen Durchdringen von Organisationsprinzipien und einer eindeutigen ethischen Grundhaltung für die Patientenzugewandtheit. Um Leser:innen auf diesem anspruchsvollen Weg mitzunehmen, bieten Piwernetz/ Neugebauer zahlreiche Orientierungshilfen an. Wichtige Aussagen werden hervorgehoben, Lesehinweise erörtern Inhalt sowie Vorgehen im Kapitel und Icons helfen bei der Orientierung im Text. Dank dieses Aufbaus wird das hochkomplexe Thema der Neuausrichtung des Gesundheitssystems nachvollziehbar aufbereitet und fachlich begründet. Und obwohl zum vollständigen Verständnis des Inhaltes ein gewisses Maß an Vorwissen notwendig ist, richtet sich dieses Fachbuch an alle Akteure im Gesundheitssystem, an alle Stakeholder. Denn nur, wenn alle Akteure die Notwendigkeit des Strategiewechsels als notwendig erachten, werden sie diese auch umsetzen.
Es bleibt zu wünschen, dass gerade Entscheidungsträger:innen im Gesundheitssystem dieses Buch lesen und die Erneuerung vorantreiben.
Fazit
Dieses Fachbuch ist nicht nur unwahrscheinlich inhaltsschwer, es ist DAS! Buch, welches schon längst überfällig ist. Es geht um nicht weniger, als das Referenzsystem salu.TOP für die Neuorientierung des deutschen Gesundheitssystems detailliert vorzustellen und den Blick aller Akteure im Gesundheitssystem wieder auf den Menschen, den Patienten zu richten. Und so gibt es zwei grundsätzliche Aussagen, die die Autoren den Rezipiet:innen mitgeben: „Die Ware Medizin ist das Problem und die wahre Medizin die Lösung (S. 10).“ Und mit einem optimistischen Ausblick auf die Reformierbarkeit des Gesundheitssystems schreiben sie: “Das jetzige System ist marode, nicht die Akteure (S. 133).“ Diese Grundhaltungen sind Voraussetzung für den notwendigen Innovationsschub im Gesundheitssystem. Als Buch, das zum Handeln auffordert, wendet es sich an eine ausgewählte Leserschaft. Doch wenn Akteure, Patientenvertreter:innen und Politiker:innen den Strategiewechsel initiieren, dann haben die Autoren ihr Ziel erreicht.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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