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Christian Philipp Nixdorf: Kompetentes Handeln im Jobcenter

Rezensiert von Dr. Jana Swiderski, 08.02.2021

Cover Christian Philipp Nixdorf: Kompetentes Handeln im Jobcenter ISBN 978-3-339-11854-7

Christian Philipp Nixdorf: Kompetentes Handeln im Jobcenter. Band I: Kompetenz aus Sicht der Grundsicherungsträger und Integrationsfachkräfte. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2021. 404 Seiten. ISBN 978-3-339-11854-7. D: 99,80 EUR, A: 102,60 EUR.
Reihe: Studien zur Berufs- und Professionsforschung - 40.

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Thema

Was zeichnet die Kompetenz von Integrationsfachkräften (IFK) im Jobcenter aus? Das ist die zentrale Frage dieses Bandes. Integrationsfachkräfte müssen selbst kompetent sein, um die Kompetenz ihrer KundInnen erkennen zu können – so die Prämisse (S. 5). Worin diese Kompetenz besteht, wird einerseits durch die Analyse des Kompetenzprofils der Bundesagentur für Arbeit für Integrationsfachkräfte in gemeinsamen Einrichtungen (Jobcentern) herausgearbeitet. Andererseits wurden qualitative Interviews mit 33 IFK und 3 TeamleiterInnen aus 14 Jobcentern in 8 Bundesländern ausgewertet. Die Interviewten beschrieben fallübergreifend folgende Kompetenzen, welche die alltägliche Praxis ihrer Beratungs-, Vermittlungs- und Verwaltungsarbeit im Jobcenter erfordert: eine positive Grundhaltung, Ambiguitätstoleranz, Pragmatismus, die Fähigkeit, Abstand zu halten, Arbeitsmarkt- und Berufskunde, Artikulationsfähigkeit, Gesetzeskunde, emotionale Intelligenz und Ignoranz (S. 5). Was darunter verstanden wird, ist Gegenstand der Untersuchung. Der Autor beansprucht mit der Beschreibung dieser Kompetenzen keine Allgemeingültigkeit. Doch die Beispiele und Zitate der Interviewten erlauben eine konkrete Analyse kompetenten Handelns im Jobcenter.

Autor und Entstehungshintergrund

Christian Philipp Nixdorf legt einen Beitrag zur Kompetenzforschung mit spezifischem Bezug zum Jobcenter vor, veröffentlicht im Verlag Dr. Kovač, einem Fachverlag zur Publikation von Dissertationen, Habilitationsschriften, Festschriften und Tagungsbänden.

Aufbau

Die Einleitung umreißt den Geltungsanspruch der Untersuchung. Sie betont die zentrale Bedeutung der Meinungsäußerungen der Befragten für die Herausarbeitung von Kompetenz im Jobcenter und gibt eine erste Problematisierung des Kompetenzbegriffs. Als Ziel der Forschung wird eine Institutionenanalyse genannt, die auf den Darstellungen der Integrationsfachkräfte selbst beruht (S. 23). Kapitel 2 widmet sich dem Forschungsdesign. Kapitel 3 thematisiert den Kompetenzbegriff unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten. Die Bedeutung von Kompetenz aus Sicht der Grundsicherungsträger erläutert Kapitel 4. Kapitel 5 problematisiert anhand einer Analyse der Aussagen von Jobcenter-MitarbeiterInnen die Möglichkeit, einer objektiven, reliablen und validen Erfassung von Kompetenzen. Kapitel 6 analysiert Schilderungen dreier TeamleiterInnen zur Kompetenzeinschätzung ihrer MitarbeiterInnen. Kapitel 7 greift die Kritik von Integrationsfachkräften an dem für die Beurteilung ihrer Arbeit geltenden Tätigkeits- und Kompetenzprofil der Bundesagentur für Arbeit auf. Den inhaltlichen Schwerpunkt des Textes bildet Kapitel 8, das schildert, was die Integrationsfachkräfte selbst für kompetent halten und welche Kompetenzen sie für ihre Tätigkeit als erforderlich erachten. Kapitel 9 begründet die Notwendigkeit der wechselseitigen Abstimmung der beschriebenen Kompetenzen sowie ihrer situativen Abwägung und Gewichtung. Kapitel 10 fasst die Befunde zusammen. Kapitel 11 rekapituliert den Praxisbezug der Forschung, sensibilisiert für die Grenzen der eigenen Methode und gibt einen Ausblick auf offene Forschungsfragen, welche Gegenstand von Band II sein werden.

Inhalt

In der Beschreibung des Forschungsdesigns wird u.a. auf Auswahl und Ansprache der Befragten eingegangen, auf Struktur und Ablauf der Interviews, auf demografische sowie beschäftigungs- und qualifikationsbezogene Merkmale der Befragten sowie auf die Transkription und Codierung der Interviews. Unter den genannten vielfältigen Aspekten von Kompetenz erwiesen sich neun Codes als essentiell bedeutsam, die sich anhand des Akronyms PAPAAAGEI ausbuchstabieren lassen:

  • Positive Grundhaltung
  • Ambiguitätstoleranz
  • Pragmatismus
  • Artikulationsfähigkeit
  • Abstand
  • Arbeitsmarkt- und Berufskunde
  • Gesetzeskunde
  • Emotionale Intelligenz
  • Ignoranz

An diese Aufzählung schließt sich zunächst eine Erörterung des Kompetenzbegriffs mit Bezug auf den aktuellen Stand der Forschung an. Insbesondere der Zusammenhang von Können, Wissen, Wollen und Dürfen wird als grundlegend für das Verständnis von Kompetenz beschrieben (S. 47 ff.). Dafür ist auch die Unterscheidung von Wissen, Qualifikation, Kompetenz und Intelligenz wichtig. Ein weiterer Aspekt ist die Kommunikation über und die damit verbundene Wahrnehmung von Kompetenz. Auch die institutionelle Seite von Kompetenz sowie ein für die Kompetenzbeurteilung der Bundesagentur für Arbeit relevantes Kompetenzmodell werden erörtert. Im Folgenden erweist sich Kompetenz als Leitbegriff für die öffentliche Präsenz und das interne Selbstverständnis des Jobcenters, was mit Verweis auf Jobcenter-Homepages, Strategiepapiere, Handbücher für Führungskräfte u.a. belegt wird.

Maßgeblich für die Arbeit der Integrationsfachkräfte in den Jobcentern ist das ihnen zugeordnete Tätigkeits- und Kompetenzprofil (TuK). Differenzen, die es in der Kompetenzbeurteilung ihrer MitarbeiterInnen durch Teamleitungen zu deren subjektiven Einschätzungen der eigenen Leistungen gibt, werden ausführlich thematisiert. Zusätzlich zu den im TuK geforderten Kompetenzen beschreiben die Interviewten Fähigkeiten, die für die Bewältigung ihres Arbeitsalltags im Jobcenter notwendig und unerlässlich sind. „Fördern und Fordern“ wird im Sozialgesetzbuch II als handlungsleitender Grundsatz der Grundsicherung benannt. Dies beschreiben die Interviewten als zentrales Spannungsfeld ihrer täglichen Arbeit, insbesondere, wenn Sanktionen ausgesprochen werden müssen oder Anträge nicht bewilligt werden. Die Interviews zeigen, dass Gesetze und Weisungen die konkrete Praxis nicht immer abdecken. Eine gewisse Abweichung von Weisungen und Regeln wird daher von den Interviewten durchaus als kompetentes Handeln angesehen.

Den Alltag im Jobcenter zu bewältigen heißt, eine Balance zwischen Gesetzestreue, Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, Kundenfreundlichkeit und Selbstsorge zu finden. Dafür braucht es Kompetenzen, die im TuK nicht erwähnt werden. Die Untersuchung exploriert diese mit Bezug auf das bereits erwähnte Akronym PAPAAAGEI. Eine positive Grundhaltung wird als grundlegend für kompetentes Handeln im Jobcenter angesehen. Allgegenwärtige Zielkonflikte erfordern darüber hinaus Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten und Ausbalancieren von Widersprüchen. Am bedeutsamsten wird von den Interviewten die Fähigkeit zum Pragmatismus, also zum nüchternen und lösungsorientierten Handeln gesehen. Außerdem benötigen Integrationsfachkräfte eine adäquate Artikulationsfähigkeit zur adressatengerechten Übermittlung der Vorgaben des Jobcenters und zur Herstellung einer tragfähigen Beziehungsebene. Abstand – die notwendige Distanz – dient zum einen der Professionalität, zum anderen dem Schutz der eigenen Privatsphäre und der seelischen Gesundheit. Kenntnisse in Arbeitsmarkt- und Berufskunde sowie Gesetzes- und Weisungskunde werden als naheliegende Kompetenzen beschrieben, die die Fachlichkeit und Professionalität der Integrationsfachkräfte unterstreichen. Emotionale Intelligenz dient dazu, KundInnen Empathie entgegenzubringen, aber auch einen reflektierten Umgang mit Aggressionen zu ermöglichen. Ignoranz erlaubt, Belastendes und Überforderndes bei Bedarf auszublenden. – All die genannten Kompetenzen sind aufeinander zu beziehen, mit Augenmaß einzusetzen und in ihrer Wechselwirkung zu beachten. Die Untersuchung vergisst nicht, auf die Gefahren übersteigerter Kompetenzanwendung einzugehen und schließt mit einer Zusammenfassung dessen, was Integrationsfachkräfte alles können (sollen). Eine kritische Selbstvergewisserung und Methodenkritik sowie ein Ausblick auf Band II runden das Bild ab.

Diskussion

Die Zielgruppe des Textes, Integrationsfachkräfte, Führungskräfte, Wissenschaftler sowie Studierende sozialwissenschaftlicher Fächer, erhält mit dieser Untersuchung eine wissenschaftlich fundierte, dennoch gut lesbare und verständliche Darstellung kompetenten Handelns im Jobcenter. Der Autor unterzieht das Handeln der Integrationsfachkräfte einer differenzierten Analyse, die sowohl institutionelle Aspekte beachtet als auch individuelle Sichtweisen der MitarbeiterInnen einbezieht. Implizit entwickelt er damit einen Begriff von Kompetenz, der als Idealtypus im Sinne Max Webers aufgefasst werden kann. Der Autor greift wesentliche Aspekte der Realität auf und verdichtet sie zu einem Modell kompetenten Handelns im Jobcenter. Keinesfalls handelt es sich dabei um eine Widerspiegelung der Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität. Über den Begriff des Idealtypus hinausgehend beschreibt der Autor die Wirklichkeit aber auch, wie sie sein könnte oder sein sollte. Dabei wird deutlich, dass sich Kompetenzen von Integrationsfachkräften im Jobcenter stets im Spannungsfeld widersprüchlicher Erwartungen realisieren. Es wird verständlich, warum diese Tätigkeit keinesfalls trivial ist, sondern die Bewältigung komplexer Anforderungen beinhaltet. Diese Analyse steht im Kontrast zu den meist einseitig negativ gefärbten medialen Darstellungen der Jobcenter. Sie zeigt, dass die Arbeit der Integrationskräfte vielseitig, aber auch anspruchsvoll ist und dass ihr ein kritisches und kritikwürdiges Potenzial bereits aus ihrem gesetzlichen Auftrag heraus inhärent ist.

Fazit

Die Untersuchung entfaltet einen umfassenden Begriff kompetenten Handelns im Jobcenter. Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes zum Kompetenzbegriff wird sowohl auf die institutionelle Seite des Kompetenzverständnisses als auch auf individuelle Sichtweisen auf Kompetenz im Jobcenter eingegangen. Grundlage dafür ist die Auswertung von qualitativen Interviews mit 33 Integrationsfachkräften und 3 TeamleiterInnen aus 14 Jobcentern in 8 Bundesländern. Fallübergreifend wurden Kompetenzen herausgearbeitet, welche die alltägliche Praxis ihrer Beratungs-, Vermittlungs- und Verwaltungsarbeit im Jobcenter prägen: eine positive Grundhaltung, Ambiguitätstoleranz, Pragmatismus, die Fähigkeit, Abstand zu halten, Arbeitsmarkt- und Berufskunde, Artikulationsfähigkeit, Gesetzeskunde, emotionale Intelligenz und Ignoranz. Ausgeführt wird, welchen widersprüchlichen Anforderungen Integrationsfachkräfte gerecht werden müssen und wie sich diese Kompetenzen im Spannungsfeld von „Fördern und Fordern“ realisieren.

Rezension von
Dr. Jana Swiderski
Erziehungswissenschaftlerin, Arbeitsvermittlerin, Fallmanagerin und derzeit Berufsberaterin bei der Bundesagentur für Arbeit
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Es gibt 6 Rezensionen von Jana Swiderski.

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ISSN 2190-9245