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Umberto Eco: Der ewige Faschismus

Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 19.01.2021

Cover Umberto Eco: Der ewige Faschismus ISBN 978-3-446-26576-9

Umberto Eco: Der ewige Faschismus. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (München) 2020. 76 Seiten. ISBN 978-3-446-26576-9. D: 10,00 EUR, A: 10,30 EUR.

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Autor

Umberto Eco († 15. Feb. 2016) ist nicht nur als Schriftsteller bekannt, sondern wirkte insbesondere auch als Professor für Semiotik an der Universität von Bologna von 1975 bis 2007. Er wurde mit vielen literarischen und wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet.

Entstehungshintergrund

Die hier versammelten Schriften wurden für die deutsche Ausgabe zusammengestellt. Sie entstanden ursprünglich als Vorträge und Artikel zu aktuellen Ereignissen und sind in verschiedenen Bänden in Italien bereits 2018 und 2019 erschienen.

Aufbau des Buches

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Roberto Saviano, einem italienischen Journalisten, der aufgrund von Morddrohungen der Camorra seit 10 Jahren im Untergrund lebt. Daran schließen sich 5 Vorträge beziehungsweise Aufsätze an, die Eco zu verschiedenen Anlässen gehalten bzw. geschrieben hat und die hier publiziert wurden.

Inhalt

Das besondere dieses Buches wird bereits im Vorwort deutlich: „Umberto Eco beschreibt hier jedoch das, was er als den Ur-Faschismus bezeichnet, das heißt die Gesamtheit jener Handlungen, Verhaltensweisen, Haltungen und Instinkte. die zwar die Dynamik des Faschismus im frühen 20. Jahrhundert ausmachten, aber seine historische Ausprägung überlebt haben und heute lebendiger sind als jemals zuvor“ (S. 7). Und weiter heißt es: „Umberto Eco fehlt uns. Es fehlt sein Mut, diese Verschwörung von Hohlköpfen, die sich gerne als Populisten bezeichnen lassen, mit der Macht der Intelligenz zu demontieren. Es fehlt sein Mut, sich über das Internet lustig zu machen - nicht mit der Arroganz des weisen Alten, der das Neue verlacht, weil er es nicht versteht, sondern mit dem Scharfsinn eines Menschen, der das Fehlen von Regeln ebenso verachtet wie das Unvermögen der Plattformen, in Kultur zu investieren, anstatt immer nur in Zahlen, und der es nicht ertragen kann, wenn weit und breit jede Art von Ethik fehlt. Das Netz heißt alles willkommen, was es gibt: den rassistischen Aufschrei, das Wutgeheul und die Niederschrift eines Gedichts - solange du es auf meiner Plattform teilst, bist du willkommen, ich werde dich höchstens ein wenig zensieren, wenn du es übertreibst. Eco hatte begriffen, was für eine Gefahr in all dem steckt“ (s. 14). Saviano weist darauf hin, das ist ein entscheidender Fehler ist, Totalitarismus und Faschismus nur als geschichtliche Epoche zu betrachten.

Der 1. Aufsatz ist die Niederschrift des Vortrages „Der ewige Faschismus“, den Umberto Eco am 25. April 1995 in New York gehalten hat. Anlass war ein von der Columbia University veranstaltetes Symposium zum 50. Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus. Ausgehend von seinen subjektiven Erlebnissen als zehnjähriger Junge beschreibt Eco seine erste Faszination für den Mussolini-Faschismus, den er dann später verstanden hat als eine äußerst brüchige Ideologie. Im Vergleich ist der Mussolini-Faschismus „ein Bienenkorb voller Widersprüche“ (S. 24), während Stalinismus und Nationalsozialismus durchgehende Ideologien aufwiesen. Unabhängig von den jeweiligen Ausprägungen der verschiedenen faschistischen Regime lassen sich aber Merkmale herausstellen, die typisch für das sind, was man als Ur-Faschismus bezeichnen kann.

1.       Das erste Merkmal des Ur-Faschismus ist ein Kult der Überlieferung, wobei es da nicht auf Traditionalismus allein ankommt, sondern vielmehr werden verschiedene Stränge miteinander vermischt und als absolut hingestellt.

2.       Dazu gehört die Ablehnung der Moderne, wobei der eigentliche Fokus die Ablehnung von Aufklärung und Vernunft ist.

3.       Kultur ist verpönt, insofern sie kritische Haltung einnimmt.

4.       Kritik und Dissens ist im Sinne des Ur-Faschismus Verrat.

5.       Ur-Faschismus beruht auch auf der Angst vor dem Andersartigen.

6.       Gesellschaftliche beziehungsweise individuelle Frustration ist idealer Nährboden für Faschismus und darauf gründet sich auch der Ur-Faschismus.

7.       Der Verlust der gesellschaftlichen Identität verführt zu einer Obsession von Verschwörung, indem man sich auf den Nationalismus einschwört.

8.       In der Polarisierung der Feinde von gleichzeitig zu stark und zu schwach wird die Annahme impliziert, dass ein Sieg möglich ist.

9.       Der Ur-Faschismus ist kein Kampf ums Überleben, sondern vielmehr ein Leben für den Kampf.

10.   Elitedenken ist ein wichtiges Element einer reaktionären Ideologie.

11.   Dazu gehört auch die Perspektive auf ein Heldentum.

12.   Auch Sexualität ist von Macht geprägt, was eben auch bedeutet, dass alle diejenigen abgelehnt beziehungsweise verurteilt werden, die nicht zum Standard der postulierten Sexualgewohnheiten zählen.

13.   Kennzeichen eines Ur-Faschismus ist auch ein selektiver oder qualitativer Populismus, wo die Identifikation über eine Führerfigur erfolgt, an die die Bürger ihre Rechte abgetreten haben.

14.   Dazu gehört auch eine Sprache, die ein verarmtes, spezifisches Vokabular benutzt und eine versimpelte Syntax anwendet, „um das Instrumentarium für komplexes und kritisches Denken zu begrenzen“ (S. 38).

Der Aufsatz endet mit dem subjektiven Erlebnissen Ecos, indem er über das Radio entdeckt, das ist zum Beispiel viel mehr Parteien gibt als nur die faschistische Partei. Das Resümee von Eco ist: „Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe. Unser Motto muss heißen: nicht vergessen“ (S. 40).

Der zweite Aufsatz beschäftigt sich mit den Migrationen des dritten Jahrtausends. Darüber sprach Eco am 23. Januar 1997 in Valencia. Er trifft dabei eine Unterscheidung zwischen Immigration, die seinem Verständnis nach politisch kontrollierbar ist, während Migration zu verstehen ist wie eine Naturgewalt, was seiner Meinung nach das 21. Jahrhundert kennzeichnen wird.

Intoleranz ist das Thema des dritten verschriftlichten Vortrages, den Eco im März 1997 in Paris hielt. Er geht auf Fundamentalismus, Integralismus und pseudowissenschaftlichen Rassismus ein, die er als jeweils eine Doktrin voraussetzend beschreibt. Intoleranz ist nach seiner Auffassung viel gefährlicher, weil sie biologische Wurzeln hat und quasi wie triebgesteuert funktioniert. „Die gefährlichste Intoleranz ist genau diejenige, die ohne jede die Doktrin oder Theorie allein aufgrund elementarer Triebe entsteht“ (S 57f.). Deswegen liegt hier die besondere Herausforderung, weil „rohe Intoleranz an der Wurzel bekämpft werden (muss), durch eine permanente Entziehung, die im zarten Alter beginnt, bevor sie zu einer Doktrin gerinnt und eine zu dicke und harte Verhaltenskruste wird“ (S. 59).

Der vierte Vortrag unter der Überschrift „Ein neuer Vertrag von Nimwegen“ wurde von Eco 2012 an der Universität von Nimwegen gehalten. Er greift auf den Vertrag von Nimwegen zurück, wo sich 1678 und 1679 verschiedene Delegierte aus dutzenden europäischen Ländern und Stadtstaaten getroffen haben, um Friedensverträge zu schließen. Das hat bis heute Auswirkungen auf Europa, was zwar nicht gänzlich frei von Kriegen ist, aber immerhin dazu geführt hat, dass es ein weitgehend friedliches Europa ist. Eco nimmt das zum Anlass, um für einen neuen Vertrag von Nimwegen zu plädieren als einen neuen virtuellen Vertrag gegen Intoleranz. Das ist notwendig, weil die Freiheit durch Antisemitismus und Rassismus bedroht ist. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass der Kampf gegen Intoleranz auch dort an Grenzen stößt, wo es Essgewohnheiten, Vorstellungen und Verhaltensweisen gibt, die mit europäischen Werten nicht vereinbar sind. Im aristotelischen Sinne (Klugheit) muss dabei zwischen Tolerablem und Intolerablem unterschieden werden.

Der fünfte Aufsatz ist die Einleitung zu einem Buch. Darin geht es um Erkenntnisse aus dem von Eco mitbegründeten Forschungsnetzwerk Transcultura. Eco beschreibt, wie Menschen aus anderen Kulturen wie z.B. Wissenschaftler aus Afrika oder China zu Besuch kamen und wie auf einmal die Perspektive der Beobachtung des Anderen umgedreht wurde: Chinesen betrachteten Europäer auf ihre Art und Weise und bewerten Verhalten und Sitten wie auch die Afrikaner beispielsweise dieses aus ihrer Perspektive taten. Daraus ist etwas entstanden, was Eco als reziproke Ethnologie bezeichnet. „Nicht mehr nur die einen (die Aktiven) beobachten die anderen (die Passiven), sondern die einen wie die anderen tun es als Vertreter verschiedener Kulturen, die sich gegenseitig analysieren oder einander zeigen, wie unterschiedlich man auf gleiche Erfahrung reagieren kann“ (S. 73). Daraus entstand die Idee, ob man eine Art Enzyklopädie gemeinsamer Schlüsselbegriffe wie Friede, Krieg, das Schöne und andere beschreiben könnte. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese Begriffe (wie viele andere auch), sehr unterschiedlich semantisch besetzt sind. Daraus ist die Einsicht entstanden, dass es nicht relevant ist, Dinge zu vereinheitlichen, sondern die Andersartigkeit zu akzeptieren und zu verstehen, was trennt.

Diskussion

Das Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Frieden, Freiheit und Demokratie. Auch wenn die einzelnen Aufsätze aus verschiedenen Anlässen geschrieben wurden, so sind sie doch zeitlos, weil die Begründungen und Herleitungen weit über den jeweiligen Anlass hinaus reichen und die tatsächlichen Anlässe auch kaum thematisch aufgreifen. Stattdessen wird überzeugend historisch, philosophisch und semiotisch aufgezeigt, was notwendig ist, um Gesellschaften verschiedener Kulturen ein gutes Miteinander zu ermöglichen. Gleichzeitig ist das Buch ein leidenschaftlicher Aufruf gegen Rassismus jeglicher Art und gegen jede Form von Intoleranz. Eco weist (zu Recht) darauf hin, dass es nicht nur um die großen Ideologien geht, sondern sich schon in Sprache und Haltung Faschismus und Intoleranz zeigen. Das ist allgegenwärtig und durchzieht Alltag wie Politik schon (wieder) gleichermaßen. Insgesamt sind die Gedanken nicht neu, aber in der geballten Dichte regen sie zum Nachdenken auf jeden Fall an. Anstelle eines Fazits möchte ich ein Gedicht von Franco Fortini zitieren, mit dem Eco den ersten Aufsatz dieses Buches „Der ewige Faschismus“ beendet:

Auf dem Geländer der Brücke
Die Köpfe der Gehenkten
Im Wasser des Brunnens
Der Speichel der Gehenkten.
Auf dem Pflaster des Marktes
Die Nägel der Erschossenen
Im dürren Gras der Brache
Die Zähne der Erschossenen.
Zu beißen die Luft zu beißen die Steine
Unser Fleisch ist nicht mehr von Menschen
Zu beißen die Luft zu beißen die Steine
Unser Herz ist nicht mehr von Menschen.
Doch wir lasen in den Augen der Toten
Und werden Freiheit auf Erden schaffen
Umklammert halten die Fäuste der Toten
Die Gerechtigkeit, die dann herrscht.

Fazit

In dieser Zusammenstellung ein sehr lesenswertes Buch, weil es komprimiert wiedergibt, was derzeit wieder gesellschaftlich relevant ist und gleichzeitig Wege aufzeigt, wie der ewige Faschismus auch überwunden werden könnte. Insbesondere auf dem Hintergrund einer immer stärker migrierenden Welt und großen Wanderungsbewegungen gewinnt es noch einmal an Relevanz. Eco hat mit seinen Aufsätzen bzw. Vorträgen einen großen Weitblick bewiesen.

Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Es gibt 97 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.

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ISSN 2190-9245