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Pascal Rickert: Zwischen Fördern und Fordern

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 27.01.2021

Cover Pascal Rickert: Zwischen Fördern und Fordern ISBN 978-3-8405-0233-0

Pascal Rickert: Zwischen Fördern und Fordern. Professionalisierung von Beratungsdienstleistungen im Kontext des SGB II. readbox unipress (Dortmund) 2020. 147 Seiten. ISBN 978-3-8405-0233-0. D: 18,80 EUR, A: 19,40 EUR.
Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster / Reihe 8 - Band 6.

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Thema

Beim Text handelt es sich um eine Forschungsarbeit, in der Ansatzpunkte für die Entwicklung einer Beratungskonzeption und wirkungsorientierten Prozess-Steuerung im Jobcenter geliefert werden. Das Ziel des Autors ist es, „die Professionalisierung der Beratungsdienstleistungen im Kontext des SGB II in ihrem gesamten Spektrum durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu fördern“ (S. 3).

Entstehungshintergrund

Die „Hartz“-Reformen, die vor 16 Jahren mit Einführung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt abgeschlossen wurden, werden in der sozialwissenschaftlichen Forschung häufig als Zäsur bezeichnet. Von einem Umbau vom „Wellfare- zum Workfare-Staat“, in dem sich ein „Activation Turn“ vollzogen habe, ist die Rede (vgl. Spannagel et al. 2017). Postuliert wird, dass die Reformen die Vermarktlichung von Menschen befördert, den Niedriglohnsektor gestärkt und das gesellschaftliche Klima vergiftet hätten (umfassend dazu siehe Butterwegge 2014). Kritisiert wird auch, dass es im Jobcenter für Leistungsempfänger*innen häufig ein Ergebnis des Zufalls sei, ob ihr*e dortige persönliche*r Ansprechpartner*in über eine hinreichende Fachkompetenz verfügt. Als Grund dafür wird u.a. ausgemacht, dass kein einheitlicher Ausbildungsgang existiert, der auf die komplexe Arbeit vorbereitet, die Integrationsfachkräfte im Jobcenter zu leisten haben. Der Diplom-Psychologe Pascal Rickert ergänzt den Fachdiskurs zu dieser Thematik im Rahmen einer Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. phil.), die er am Fachbereich Psychologie und Sportwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht hat.

Aufbau und Inhalt

Der Text ist in 8 Kapitel unterteilt. Der Autor erläutert zunächst, was unter Professionalisierung zu verstehen ist. Er erklärt: „Grundsätzlich beschreibt Professionalität kompetentes berufliches Handeln (Nittel, 2000). Die Professionalisierung einer Tätigkeit beschreibt damit den Prozess der Kompetenzentwicklung im beruflichen Handeln“ (S. 1). Unter Professionalisierung versteht der Autor zudem „im Gegensatz zur einfachen Weiterentwicklung der Beratungspraxis die Ausbildung eines eigenständigen Berufsbildes Beratung im SGB II“ (S. XI). Im zweiten Kapitel setzt Rickert sich dann mit dem bestehenden Beratungssystem im Jobcenter auseinander und reflektiert dessen Entstehungsprozess. Konstitutiv für das Beratungssystem im Rechtskreis des SGB II seien Hilfe und Kontrolle, schildert er. Im Zentrum der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik stehe, „die eigene und selbstverantwortliche Integrationsleistung arbeitsloser Menschen, die durch das Dienstleistungs- und Förderangebot gestützt und abgesichert werden. Die angebotenen Dienstleistungen – von der Übernahme einer Zeitarbeit und der Teilnahme an einer Weiterqualifizierung bis hin zur Annahme einer Beschäftigung – sollen arbeitslose Menschen in die Lage versetzen, selbst im Sinne des Integrationsziels tätig zu werden“ (S. 6). Die Integrationsfachkräfte müssten gesetzliche Vorgaben erfüllen, aber eben auch die Wünsche der Arbeitslosen Menschen bedienen, was sich nicht immer in Einklang bringen lasse. Daher konstatiert der Forscher, dass die Beratung im Jobcenter in einem Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle erfolge, was den Integrationsfachkräften einiges abverlange. Dies führe, so schlussfolgert er, zu „Problemen in der Qualität der Beratungsdienstleistungen“ (S. 9). Rickert postuliert, dass die Professionalisierung von Beratungsdienstleistungen im Rechtskreis des SGB II erforderlich sei. Zwecks Untermauerung dieser Aussage greift er Befunde aus der Begleit- und Evaluationsforschung zum Handeln im Jobcenter auf. Diese reflektiert der Forscher vor dem Hintergrund der Frage, inwieweit sie für seine Forschungsarbeit relevant sind.

Im dritten Kapitel befasst sich Rickert mit Kompetenzen, derer Integrationsfachkräfte bedürfen, um professionell beraten zu können. Er schreibt, bisher gäbe es „nur wenig empirische Forschung zu notwendigen Beratungskompetenzen im Kontext des SGB II“ (S. 11). Konkludent ist es ihm ein Anliegen, einen Betrag zu leisten, das zu ändern. Rickert schildert, welche Defizite das Beratungshandeln im Jobcenter prägen. Er konstatiert einen Mangel an „Best-Practice Befunden“ und beleuchtet das „Doppelte Mandat“, das den Beratungsfachkräften im Jobcenter zukomme (S. 16). Zudem geht er auf den Prozess der „Sekundären Viktimisierung“ ein (S. 22), die Leistungsempfänger*innen im Jobcenter erfahren können. Rickert erklärt, die „Entwicklung von Best-Practice Modellen für die Beratung im SGB II setzt Messinstrumente voraus, die dazu geeignet sind, Unterschiede in der Umsetzung von Beratungsdienstleistungen mit der Wirkung der Beratung in Zusammenhang zu bringen“ (S. 24). Das Ziel des Forschers ist es, ein solches Messinstrument zu entwickeln, wobei er maßgeblich Bezug nimmt auf einen Katalog von Beratungskompetenzen aus dem systemischen Kontextmodell von Petersen et al. (2014, S. 9), das speziell für Beratende in Bildung, Beruf und Beschäftigung entwickelt wurde. Auf dieses Modell eingehend erklärt der Autor: „Zur Unterstützung der Professionalisierung von Beratungsdienstleistungen im SGB II wird in dieser Arbeit der Frage nachgegangen, inwiefern der beschriebene Kompetenzkatalog auf die Beratungsdienstleistungen im SGB II übertragbar ist“ (S. 15).

Wie er konkret vorgegangen ist, um herauszufinden, was die Professionalisierung im Rechtskreis des SGB II befördert und erschwert, beschreibt Rickert im vierten Kapitel (S. 43 ff.). Er bedient sich beim Eruieren besagter Frage selbst entwickelter Messinstrumente, die im Rahmen einer Datenerhebung unter Integrationsfachkräften in 15 gemeinsamen Einrichtungen und 11 zugelassenen kommunalen Träger in Nordrhein-Westfalen (NRW) zum Einsatz kamen. Der Forscher beziffert die Gesamtheit der Integrationsfachkräfte (Vollzeitäquivalente) im Bereich Markt & Integration in NRW auf etwa 8250 und schreibt, die „Stichprobengröße (n = 727) entsprach damit ca. 9 % der geschätzten Gesamtheit aller Fachkräfte im Bereich Markt & Integration in NRW“ (S. 45). Folglich konstatiert er: „Zusammenfassend war die Studie repräsentativ für NRW hinsichtlich der Verteilung von gemeinsamen Einrichtungen und zugelassenen kommunalen Trägern sowie hinsichtlich der Verteilung von SGB II-Typisierungen. Die Stichprobengröße erschien daher geeignet, um verallgemeinerbare Aussagen zu treffen.“ Rickert reklamiert für sich nicht, die einzig wahre „Best-Practice“ erfasst zu haben. Vielmehr legt er in Anbetracht der Komplexität des Forschungsgegenstandes wissenschaftliche Zurückhaltung an den Tag und betont, mit seiner Forschung „keinen Anspruch auf die ‚Definitionsmacht des richtigen Weges‘ (Kolbe, 2012a, S. 72) zum Reformbedarf des SGB II“ zu erheben. Stattdessen will der Psychologe die eigenen Ergebnisse kritisch zur Diskussion stellen und in den bestehenden Forschungshintergrund eingeordnet wissen (S. 3). Diese Einordnung nimmt er im fünften Kapitel vor, wo die Forschungsergebnisse reflektiert werden.

„Im Durchschnitt beurteilten mehr als 80 % der Fachkräfte die abgefragten Beratungskompetenzen als wichtig oder äußerst wichtig“, schreibt der Autor (S. 51). Die Kunden- und Kontrollorientierung konnte, so heißt es, „für alle drei Dimensionen beraterischen Denkens und Handelns (Beratungshandeln, Ziele und Themen) bestätigt werden“ (S. 52). Die „Überprüfung der konvergenten Validität offenbarte mittlere bis starke Korrelationen zwischen Kunden- und Kontrollorientierungen unterschiedlicher Dimensionen“ (S. 52). Im Hinblick auf die Sekundäre Viktimisierung lautet das Fazit des Forschers, dass der Glaube an eine gerechte Welt und internale Kontrollüberzeugungen „keinen signifikanten Vorhersagewert in Bezug auf Sekundäre Viktimisierung [besaß], die wiederum ebenfalls keinen signifikanten Vorhersagewert in Bezug auf die beraterische Orientierung der Fachkräfte besaß. Allerdings besaß der Glaube an eine gerechte Welt einen signifikanten Vorhersagewert auf die Kundenorientierung und die internale Kontrolle einen signifikanten Vorhersagewert auf die Kontrollorientierung“ (S. 54). Des Weiteren kommt Rickert zum Ergebnis, dass weibliche und männliche Fachkräfte des Jobcenters sich nicht in der Nutzung von Ermessensspielräumen unterschieden (S. 58). Was die Probleme der aktuellen dortigen Beratungspraxis anbelangt, konnte der Forscher folgendes in Erfahrung bringen: „Von den 727 befragten Fachkräften nannten 590 Fachkräfte mindestens einen hinderlichen Faktor für ihre Beratungstätigkeit“ (S. 59). Rickert konnte mittels Inhaltsanalyse 24 Kategorien hinderlicher Faktoren entwickeln. Als besonders relevant identifiziert er 10 Faktoren (S. 59 ff.), welche sich negativ auf die Möglichkeit auswirken, die Beratungsdienstleistung erfolgreich und professionell zu erbringen:

  • Unzureichend Zeit für Beratung
  • Ein unpassender Betreuungsschlüsse
  • Zu viel Dokumentation und zu viele Verwaltungsaufgaben
  • Die Komplexität der Gesetzgebung
  • Unzureichende Möglichkeiten individueller Förderung
  • Mangelnde Motivation der Leistungsberechtigten
  • Widersprüchliche interne Vorgaben und Weisungen
  • Unrealistische Zielvorgaben
  • Problematische Kommunikations- und Organisationsstruktur
  • Vermittlungshemmnisse der Kundschaft

Im sechsten Kapitel erfolgt eine Diskussion der Forschungsergebnisse. Der Forscher erläutert und kontextualisiert diese im Hinblick auf ihre Implikationen. Er schreib, dass der Kompetenzkatalog für die Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung (Petersen et al. 2014) „von den befragten Fachkräften in Münster und Warendorf überwiegend als wichtig oder äußerst wichtig für die Beratungsdienstleistungen im SGB II bewertet“ worden sei und dass sich die befragten Integrationsfachkräfte in Bezug auf „die Wichtigkeit bestimmter Beratungskompetenzen in hohem Maße einig sind, dass jedoch in Bezug auf ihre Umsetzung große Meinungsunterschiede existieren“ (S. 63).

Rickert schildert, dass die Analyse seiner Daten ergeben habe, dass das Doppelte Mandat der Beratung in der Tat einen strukturierenden Einfluss auf das beraterische Denken und Handeln der Fachkräfte habe (S. 64). Folglich kommt er zum Schluss, dass „die Anerkennung und konsequente Ausrichtung der Beratungspraxis auf das Doppelte Mandat umfangreiche Erleichterungen für die Belastung der Fachkräfte bewirken, da beispielsweise die genannten Vorschläge zu mehr Rollenklarheit im Handeln führen.“ Im Hinblick auf die Hypothese, dass die Sekundäre Viktimisierung „eine Gefahr für die Professionalisierung der Beratungsdienstleistungen im SGB II darstellt“ (S. 65) und dass diese „außerdem maßgeblich durch die Gerechtigkeits- und Kontrollüberzeugungen der Fachkräfte bedingt werden“, konstatiert der Autor indes, dass beide Annahmen nicht bestätigt werden konnten. Es sei „weitere Forschung notwendig, um den Einfluss Sekundärer Viktimisierung auf die Beratungsdienstleistungen im Kontext des SGB II zu verstehen“ (S. 66). Was die Methodenentwicklung für Best Practice anbelangt, schlussfolgert der Psychologe, dass sein Forschungsansatz „allgemein als Beispiel für die Exploration beraterischen Handelns und Denkens in Zwangskontexten dienen“ könne (S. 68). Warum das so ist, erklärt Rickert im siebten Kapitel (S. 77 ff.). Hier beschreibt er die Relevanz mehrere Schlüsselfaktoren im Hinblick auf die Professionalisierung. Das sind ihm zufolge:

  • Das Leitbild Beratung
  • Die Personalauswahl
  • Die Qualitätsentwicklung
  • Die Bewältigung von Zeitdruck
  • Der Betreuungsschlüssel und die Beratungskonzeption
  • Die Wirkorientierung

Es wird seitens des Forschers deutlich gemacht, was unter den jeweiligen Begriffen zu subsumieren ist und was seine Datenerhebung/-auswertung im Hinblick auf die Bedeutung dieser Faktoren für die Professionalisierung im Jobcenter zutage gefördert hat. Dabei nimmt der Autor auch Bezug auf andere Forschungsarbeiten und theoretische Abhandlungen, in denen die besagten Aspekte ebenfalls als relevant identifiziert wurden. Im achten Kapitel findet sich ein Fazit, in dem die Befunde nochmals zusammengefasst und ein Ausblick auf mögliche Schritte zur Weiterführung der Professionalisierungsbemühungen im Jobcenter getätigt werden. Dem folgen die Literaturangaben und der Anhang. Die gesamte Dissertation hat einen Umfang von 167 Seiten, wovon 15 Seiten Literaturangaben und 38 Seiten Anhang sind. In Letzterem können Leser*innen sich ein Bild davon machen, welche Instrumente (Vorbereitung, Leitfaden, Fragebogen etc.) forschungstechnisch zur Anwendung kamen. Für Qualitätsmanager*innen und Führungskräfte im Jobcenter, die dortige Prozesse zu optimieren gedenken, ist insbesondere der Anhang Nr. 7 interessant. Dort finden sich Erklärungen zu jenen Faktoren, die erschwerend auf die Professionalisierung im Jobcenter wirken.

Diskussion und Kontextualisierung

Rickert versteht seine Arbeit als einen Beitrag zur Professionalisierung der Beratungsdienstleistungen im SGB II. Dass er inhaltlich in der Tat einen solchen Beitrag leistet, kann der Rezensent bestätigen, da er selbst zu dem Thema forscht, das der Autor in seinem Text beleuchtet. Gut getan hätte es dem Text allerdings, wenn Rickert neben der selbstständigen Forschung noch mehr an aktueller Fachliteratur zur Thematik in seine Ausführungen hätte einfließen lassen, wenn er also umfangreicher auf den Forschungsstand und auf Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit eingegangen wäre. Wäre das erfolgt, hätte er berücksichtigen können, dass manches von dem, was er mit seiner Dissertation zu erreichen bezweckt, in der Praxis bereits angegangen wurde. Die Beratungskonzeption der Bundesagentur für Arbeit (auf die der Autor sogar selbst kurz eingeht), die Etablierung des Bachelorstudiengangs „Arbeitsmarktmanagement“ und des Masterstudiengangs „Arbeitsmarktorientierte Beratung“ an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) sowie die diversen regelmäßig von den Bildungsakademien der BA angebotenen Weiterbildungsmodule, an denen Mitarbeiter*innen aus gemeinsamen Einrichtungen teilnehmen können, sind immerhin bereits auf den Weg gebrachte Schritte, die Professionalisierung im Rechtskreis des SGB II zu befördern.

Zu fragen ist auch, warum Rickert meint, für „den komplexen Tätigkeitsbereich der Fachkräfte [im Jobcenter] existieren bis heute weder eine Berufsbeschreibung noch ein einheitliches Kompetenzprofil“ (S. 11). Es stimmt, dass der Zugang zur Tätigkeit als Integrationsfachkraft im Jobcenter nicht einheitlich geregelt ist. Die Bundesagentur für Arbeit benennt als Zugangsvoraussetzung einen Hochschulabschluss (egal, in welchem Fach) oder eine vergleichbare Qualifikation. Dass keine Berufsbeschreibung für die Tätigkeit existiert, stimmt aber nicht. Eine solche findet sich für die Bezeichnungen „Arbeitsvermittler*in“ und „Arbeitsmarktmanager*in“ auf der Homepage der Bundesagentur für Arbeit (BERUFENET). Eine umfassende Beschreibung dessen, was Integrationsfachkräfte tun, findet sich zudem bei Rainer Göckler (2014), der maßgeblich an der Entwicklung des Beratungskonzeptes mitgewirkt hat, das im Rahmen des Fallmanagements im Jobcenter zur Anwendung kommt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass der Autor sich „konkret der Entwicklung eines Kompetenzprofils [widmet], um das notwendige beratungsspezifische Fachwissen und die professionellen Überzeugungen der beratenden Fachkräfte zu definieren und damit die Entwicklung eines einheitlichen Ausbildungsweges zu ermöglichen“ (S. 3). Es ist zweifellos legitim, ein eigenes Kompetenzprofil zu entwickeln. Es stellt sich allerdings die Frage, warum Rickert unberücksichtigt lässt, dass in den über 300 Jobcentern, die in gemeinsamer Trägerschaft von BA und Kommune geführt werden, bereits ein einheitliches Kompetenzprofil für Integrationsfachkräfte existiert. Dieses wurde von der Bundesagentur für Arbeit entwickelt und lehnt sich – was die Kompetenzausprägungsgrade anbelangt – an das „Five-Stage Model of the Mental Activities Involved in Directed Skill Acquisition“ von Dreyfus & Dreyfus (1980) an (umfassend dazu siehe Nixdorf 2021, S. 100 ff.). Warum dieses BA-Kompetenzmodell von Rickert gar nicht erwähnt und z.B. im Hinblick auf seine Stärken/Schwächen reflektiert wird, ist unverständlich, zumal der Autor ja durchaus Bezug nimmt auf das Kompetenzprofil von Petersen et al. (2014).

Wünschenswert gewesen wäre es aus Sicht des Rezensenten auch, wenn seitens des Autors eine umfassendere Auseinandersetzung mit dem herausfordernden Aspekt des „Doppelten Mandates“ erfolgt wäre, weil Befunde aus der Professions- und Sozialarbeitsforschung zeigen, dass es sich bei dem Spannungsverhältnis, in dem Integrationsfachkräfte im Jobcenter agieren, keineswegs nur um ein doppeltes, sondern – je nach Selbstbild der Integrationsfachkräfte – sogar um ein dreifaches oder gar vierfaches Mandat handeln kann (vgl. Staub-Bernasconi 2018, S. 113 ff.; Nixdorf 2019, S. 138). Diskutabel ist darüber hinaus die Aussage des Autors, dass es plausibel erscheine, „dass die Anforderungen an die Arbeitsvermittlung die Mitarbeiter/innen des Jobcenters überfordern“ (Hartmann, 2014, S. 13, zit. nach Rickert 2020, S. 9). Noch bis vor 6 bis 10 Jahren mag das vielfach so gewesen sein (siehe dazu vor allem die Darlegungen von Olejniczak et al. 2014). Hervorzuheben ist allerdings, dass sich in den letzten Jahren im Hinblick auf Weiterbildungsangebote wie auch bzgl. des Schutzes der Mitarbeiter*innen in den Jobcentern (zumindest in gemeinsamen Einrichtungen) einiges getan hat, was Integrationsfachkräfte als entlastend erleben. Andere Forschungsarbeiten zeigen denn auch, dass viele Mitarbeiter*innen der Jobcenter sich trotz dessen, dass Zielkonflikte und teils widersprüchliche Erwartungshaltungen nach wie vor bestehen, keineswegs (mehr) grundsätzlich überfordert fühlen (vgl. Nixdorf 2021).

Ein letzter Punkt, den zu diskutieren relevant erscheint, ist die Frage nach der Zielgruppe, die der Autor ansprechen will. Er selbst erklärt, dass die zeitnahe Dissemination der durch seine Forschung gewonnenen Erkenntnisse „erheblich zur weiteren wissenschaftlich fundierten Professionalisierung der Beratungsdienstleistungen der Jobcenter bei[tragen]“ (S. XI). Wäre es sein alleiniger Anspruch, Messmethoden zu entwickeln, mit denen sich der Professionalisierungsgrad von Beratungsdienstleistungen im Jobcenter messen lassen kann, und wäre ihm nur daran gelegen, anderen Wissenschaftler*innen diese Methoden bekannt zu machen, müsste man zweifellos konstatieren, dass die Forschungsarbeit ein voller Erfolg ist. Der Autor erklärt allerdings, dass er sich nicht nur an Wissenschaftler*innen richten wolle, sondern ebenfalls an Fach- und Führungskräfte aus der Praxis. Er schreibt, die entwickelten Messinstrumente „ermöglichen sowohl umfangreiche Anwendungen in Supervision und Weiterbildung als auch in der zukünftigen Forschung zu Best-Practice Ansätzen in der Beratung“ (S. XI). Es ist ihm ein Anliegen, „den Wissensaustausch zwischen Jobcentern und Universitäten [zu] fördern“ (S. 3). Ob seine Erkenntnisse in der Praxis ankommen, in die Konzeption von Weiterbildungen einfließen und in Supervisionen aufgegriffen werden, ist allerdings nicht eindeutig zu beantworten. Das liegt keineswegs am Inhalt des vom Autor Dargelegten, sondern am fachwissenschaftlichen Duktus, dessen er sich in den Kapiteln 4 und 5 bedient. Die vielen forschungstechnischen Erklärungen befördern die Nachvollziehbarkeit der Befunde (und sind einer wissenschaftlichen Ausarbeitung auch angemessen), sie können aber leider dazu führen, dass Leser*innen ohne Kenntnisse in quantitativer Forschung schlichtweg nicht verstehen, was der Autor schreibt. Ein Beispiel dafür findet sich auf Seite 47, wo es heißt, die „Anpassungsgüte des statistischen Modells wurde mittels CFI, RMSEA, SRMR, Gamma Hat und dem Verhältnis von χ² zu Freiheitsgeraden bewertet (χ²/df; West, Taylor & Wu, 2012). Der CFI sollte über.95 liegen, RMSEA niedriger als.06 und SRMS niedriger als.8 sein (Hu & Bentler, 1999).“ Auf Seite 67 ist zu lesen: „Alle Maße der Anpassungsgüte (RMSEA, SRMR, CFI, Gamma hat, χ²/df) zeigten exzellente Ergebnisse, mit Ausnahme des CFI, der niedriger ausfiel als empfohlen. Zusätzliche Analysen zeigten allerdings, dass die RMSEAs aller Baseline-Modelle ebenfalls sehr niedrig ausfielen (Range:.113 bis.120). Dadurch ist die Höhe des CFI technisch gesehen begrenzt.“ Diese Fachsprache ist für Nicht-Wissenschaftler*innen kaum verständlich.

Fazit

Wenn Integrationsfachkräfte professionell agieren, trägt das zur Sicherung des sozialen Friedens bei. Nicht weniger als das ist es, was auf dem Spiel steht, wenn im Jobcenter keine professionelle Dienstleistung erbracht wird. Aus diesem Grund ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was es braucht, um dort professionell handeln zu können, bedeutsam. Dadurch, dass er dieser Frage nachgeht und Antworten anbietet, leistet Pascal Rickert einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Dienstleistungserbringung im Jobcenter. Die von Rickert geschilderten Herausforderungen, mit denen sich Integrationsfachkräfte konfrontiert sehen, sind nicht wirklich neu. Zu der Thematik liegen, wenngleich mit anderen Schwerpunkten, bereits diverse Forschungsarbeiten vor (Nixdorf 2019; Freier 2016; Kratz 2013; Behrend & Ludwig-Mayerhofer 2008; Baethge-Kinsky et al. 2007; Sell 2006). Nichtsdestotrotz – oder besser: gerade deswegen – bereichert die Arbeit von Rickert den Fachdiskurs. Er kann mit ihr belegen, dass diverse Aspekte, die die Professionalisierung im Jobcenter herausfordernd machen und seit Jahren bekannt sind, noch immer existieren. Für Forscher*innen im Rechtskreis des SGB II wie auch für Studierende, die quantitative Forschung zu verstehen lernen sollen, ist die Lektüre daher zu empfehlen. Dies auch, weil zwar diverse qualitative Forschungsarbeiten zur Beratung im Jobcenter existieren (relativ aktuell Malla Mirza 2019 und Grimmer 2018), es an repräsentativen Arbeiten aber noch immer mangelt. Hier füllt der Autor eine Lücke.

Dem selbst gesteckten Anspruch, den Wissensaustausch zwischen Jobcentern und Universitäten zu fördern, wird Rickert nur teilweise gerecht. Nicht-Wissenschaftler*innen profitieren von einfacher lesbaren Texten zur Professionalisierung im Jobcenter mehr (gut zu lesen sind Heidig et al. 2015; Ludwig-Mayerhofer et al. 2009 und Ames 2008). Summa summarum gilt, dass im Hinblick auf die Professionalisierung im Jobcenter noch immer einiges angegangen werden muss. Der Autor selbst betont denn auch, dass sein Text „nicht als Endpunkt, sondern vielmehr als Zwischenschritt auf dem Weg zur Entwicklung professioneller Beratungsdienstleistungen im SGB II zu verstehen“ sei (S. 89). Wer das Buch unter dieser Prämisse liest und nicht als Leitfaden im Sinne einer abzuhakenden Checkliste für Kompetenzsystematiken im Jobcenter begreift, kann wertvolle Impulse aus ihm ziehen.

Literatur

Ames, A.: Arbeitssituation und Rollenverständnis der persönlichen Ansprechpartner/-innen nach § 14 SGB II. Abschlussbericht einer Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf 2008

Baethge-Kinsky, V. et al.: Neue soziale Dienstleistungen nach SGB II. IAB Forschungsbericht Nr. 15/2017. Nürnberg 2007. Abrufbar unter: http://doku.iab.de/forschungsbericht/2007/fb1507.pdf (12.01.2021)

Behrend, O.; Ludwig-Mayerhofer, W.: Sisyphos motivieren, oder: Der Umgang von Arbeitsvermittlern mit Chancenlosigkeit. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 1, 2008, S. 37–55

Butterwegge, C.: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik? Weinheim und Basel 2014

Dreyfus, H.; Dreyfus S.: A Five-Stage Model of the Mental Activities Involved in Directed Skill Acquisition. Berkeley 1980. Abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/235125013_A_Five-Stage_Model_of_the_Mental_Activities_Involved_in_Directed_Skill_Acquisition (12.01.2021)

Freier, C.: Soziale Aktivierung von Arbeitslosen? Praktiken und Deutungen eines neuen Arbeitsmarktinstruments. Bielefeld 2016

Göckler, R. et al.: Beschäftigungsorientiert beraten und vermitteln. Regensburg 2014

Grimmer, B.: Folgsamkeit herstellen. Eine Ethnographie der Arbeitsvermittlung im Jobcenter. Bielefeld 2018

Heidig, J. et al.: Gesprächsführung im Jobcenter: Die Kunst, wirksam zu beraten und gesund zu bleiben. Bergisch Gladbach 2015

Kratz, D.: Entfremdete Hilfe. Biographien Langzeitarbeitsloser zwischen entgrenzter Lebensbewältigung und professioneller Beschäftigungsförderung. Dissertation, Universität der Bundeswehr. München 2013. Abrufbar unter: https://athene-forschung.rz.unibw-muenchen.de/doc/90731/90731.pdf (12.01.2021)

Ludwig-Meyerhofer, W. et al.: Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit. Konstanz 2009

Malla Mirza, N.: Dialogische Ansätze in der Arbeitslosenberatung. Eine empirische Studie zu Grenzen und Perspektiven. Stuttgart 2020

Nixdorf, C. P.: (Bildungs-)Beratung im Jobcenter. Herausforderungen und Notwendigkeiten im Rechtskreis des SGB II. Hamburg 2019

Nixdorf, C. P.: Kompetentes Handeln im Jobcenter. Band I: Kompetenz aus Sicht der Grundsicherungsträger und Integrationsfachkräfte. Hamburg 2021

Olejniczak, M. et al.: Arbeitsbedingungen in Jobcentern – Gemeinsame Einrichtungen nach § 44b SGB II. Mitarbeiterbefragung zum Arbeitsumfeld, psychischer Belastung und Arbeitszufriedenheit. Berlin 2014. Abrufbar unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/40884 (12.01.2021)

Petersen, C. M. et al.: Professionell beraten: Kompetenzprofil für Beratende in Bildung, Beruf und Beschäftigung. Bielefeld 2014. Abrufbar unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/52664 (12.01.2021)

Sell, S.: Modernisierung und Professionalisierung der Arbeitsvermittlung. Gutachten der Friedrich Ebert Stiftung. Bonn 2006. Abrufbar unter: https://library.fes.de/pdf-files/stabsabteilung/03921.pdf (12.01.2021)

Spannagel, D. et al: Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut. WSI-Report Nr. 36. Juli 2017. Abrufbar unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_36_2017.pdf (12.01.2021)

Staub-Bernasconi, S.: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Auf dem Weg zu kritischer Professionalität. Stuttgart 2018

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 27.01.2021 zu: Pascal Rickert: Zwischen Fördern und Fordern. Professionalisierung von Beratungsdienstleistungen im Kontext des SGB II. readbox unipress (Dortmund) 2020. ISBN 978-3-8405-0233-0. Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster / Reihe 8 - Band 6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27948.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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