Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 15.02.2021
Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie.
UTB
(Stuttgart) 2020.
5., aktualisierte und erweiterte Auflage.
470 Seiten.
ISBN 978-3-8252-8769-6.
D: 50,00 EUR,
A: 51,40 EUR,
CH: 65,00 sFr.
Reihe: UTB - 8165.
Thema
Das Standardwerk der Psychotraumatologie befasst sich mit Fragen und Problemen von seelischen Verletzungen, deren Ursachen und Folgen.
Autoren
Die fünfte überarbeitete Auflage der zu besprechenden Publikation ist nach dem Tod der beiden Autoren auf Veranlassung von Monika Becker-Fischer und Adrian Georg Fischer erschienen.
Der 2013 verstorbene Gottfried Fischer gilt als Wegbereiter und Vordenker der Psychotraumatologie.
Peter Riedesser verstarb 2008.
Gottfried Fischer und Peter Riedesser gelten als die Väter der Psychotraumatologie
Entstehungshintergrund
„Die Grundgedanken des Buches sollten immer erhalten bleiben und nur bei Aktualisierungen Veränderungen vorgenommen werden“ (S. 9). Die Aktualisierung erfolgt durch Beiträge zu Flucht und Vertreibung, Kriegstrauma, Psychotraumatherapie des Körpers und Psychopharmakotherapie.
Aufbau
Teil I: Allgemeine Psychotraumatologie
- Einführung
- Situation, Reaktion, Prozess – ein Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung
- Differenzielle Psychotraumatologie: Erforschung von Traumafolgen nach dem Verlaufsmodell
- Traumatherapie
- Prävention
Teil II Spezielle Psychotraumatologie
- Holocaust
- Folter, Krieg und Vertreibung
- Kriegstraumata
- Kindheitstrauma
- Vergewaltigung
- Gewaltkriminalität
- Arbeitslosigkeit als psychisches Trauma
- Lebensbedrohliche Erkrankung als Faktor psychischer Traumatisierung
- Mobbing
- Ausblick: Die Zukunft der Psychotraumatologie und die Frage der Ausbildung
Inhalt
Bei der Psychotraumatologie handelt es sich um „eine interdisziplinär ausgerichtete Lehre von psychischen Verletzungen und ihren vielfältigen Folgen für die davon Betroffenen“ (S. 17). Zu unterscheiden ist die körperliche von der psychischen Traumatologie: Erstere kann man sehen und anfassen. Psychische Verletzungen sind unsichtbar. Um psychotraumatisierte Menschen zu verstehen ist es notwendig sich in ihre Situation hineinzuversetzen. Die Reaktion auf eine traumatische Erfahrung ist immer durch eine individuelle und historisch spezifische Situationserfahrung geprägt. Ein psychisches Trauma ist „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (S. 88; Herv. im Orig.).
Bei der differenziellen Psychotraumatologie, der sich die Autoren in Kapitel 3 widmen, geht es um die „Wechselbeziehung zwischen traumatischer Situation, individueller Situationserfahrung und hierauf beruhender Varianz in traumatischer Reaktion und traumatischem Prozessverlauf“ (S. 151). Für die Traumatherapie ist es wichtig, dass sich Traumatherapeuten, -helfende und -forschende mit der eigenen trauma-history auseinandersetzen.
Kurt und Reiner Mosetter haben einen Abschnitt zur Psychotraumatherapie des Körpers beigetragen Letztgenannte Autoren stellen die Myoreflextherapie vor. Die Merkmale einer sog. neuromuskulären Traumatherapie sind:
- das Eingebundensein des Körpergedächtnisses in das Therapiekonzept;
- das Erfassen der lebensgeschichtlichen Bedeutsamkeit von körperlichen Schmerzen, Einschränkungen oder Verletzungen;
- die Ermöglichung einer dialektischen Veränderung und Differenzierung durch die regulative Intervention einer neuromuskulären Übersteuerung.
Adrian Georg Fischer hat den Abschnitt zur Psychopharmakotherapie überarbeitet. Eine medikamentöse Monotherapie ersetzt keine Psychotherapie. „Einzelne Medikamente, die früher eingesetzt wurden, gelten mittlerweile als kontraindiziert“ (S. 270).
Die spezielle Psychotraumatologie – und eben diese spezielle Psychotraumatologie befasst sich mit speziellen traumatischen Situationen und Verläufen, in der die Erkenntnisse aus der Allgemeinen und Differenziellen Psychotraumatologie auf Situationstypen bezogen werden – beginnt mit dem Holocaust, dessen Vorgänge unfasslich sind. Hier können heutzutage immer noch typische Gegenübertragungsreaktionen beobachtet werden. Diese Gegenübertragungsreaktionen sind als Abwehr gegen dieses unfassbare Geschehen zu werten.
Der Beitrag zu Folter, Krieg und Vertreibung ist von Ferdinand Haenel überarbeitet worden. Mit Bezug auf die Datenlage von Amnesty international sind 2016 in über 150 Ländern Folterungen und Misshandlungen durch Angehörige staatlicher Stellen durchgeführt worden. Unter Folter versteht man „das vorsätzliche und gezielte Zufügen von psychischem oder physischem Leid an Menschen entweder direkt durch Vertreter staatlicher Organe oder anderer Personen in deren Einverständnis, um eine Aussage, ein Geständnis, einen Widerruf oder eine Information zu erhalten oder um den Willen und den Widerstand des Betroffenen zu brechen“ (S. 295). Eine psychische Traumafolgen bei Folter- und Bürgerkriegserfahrenen ist beispielsweise das Wiederkehren der traumatischen Ereignisse nachts in Träumen und tagsüber in Gedanken und Tagträumen.
Theo Gründler und Peter Zimmermann widmen sich in ihren Ausführungen dem Kriegstrauma. Psychische Traumatisierungen werden durch einen, stark belastende Situationsfaktoren beinhaltenden, gewaltsamen Massenkonflikt ausgelöst. Ratsam ist eine psychologische traumaspezifische Therapie nach einer neurologischen Gewalteinwirkung.
Das Kindheitstrauma befasst sich mit Traumatisierungen nach Trennungen im Säuglings- und Kleinkindalter, Kindesmisshandlungen und sexuellem Kindesmissbrauch.
Durch eine Vergewaltigung wird mittels der erzwungenen negativen Intimität die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers untergraben.
Unter Mitarbeit von C. Düchting wurde das Kapitel zur Gewaltkriminalität erstellt. Hierin wird auf die Forschungsergebnisse aus dem Kölner Opferhilfe Modellprojekt (KOM) eingegangen. Das KOM basiert auf den Konzepten, die in der vorliegenden Publikation erarbeitet werden. Es befasst sich mit Ausmaß, Verbreitung und Einflussfaktoren psychotraumatischer Folgeerscheinungen bei Gewaltopfern.
Neu ist, Fischer/Riedesser zufolge, das Thema Arbeitslosigkeit in der psychotraumatologischen Forschung. Die Folgen der Arbeitslosigkeit sind u.a. fortschreitende Depressivität, soziale Isolierung, sozialer Rückzug statt solidarischem Verhalten, ein Kampf gegen alle und alles.
Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen kann die Psychotraumatologie dazu beitragen, die Anzeichen von psychotraumatischen Symptomen und Syndromen rechtzeitig zu erkenn, ihnen entgegenzuwirken und unter Umständen frühzeitig vorzubeugen. Bei unheilbaren Krankheiten ist der traumatische Prozess durch Perioden der Intrusion in Abwechslung mit Verleugnungs- und Vermeidungsphasen charakterisiert.
Der letzte Beitrag aus der Speziellen Psychotraumatologie befasst sich mit dem Mobbing. Der pathogenetische Mechanismus von Mobbing ist eine kumulative Traumatisierung. Nach jeder einzelnen subtraumatischen Attacke wird der Erholungsprozess systematisch unterbrochen. Während eines halben Jahres sind die Betroffenen etwa 15 unterschiedlichen Aktionen ausgesetzt. „Diese laufen häufig verdeckt, zunächst hinter dem Rücken der Opfer ab, sodass es schwierig sein kann, den schleichenden Traumatisierungsprozess rechtzeitig zu erkennen“ (S. 406).
Diskussion
Fischer/Riedesser schreiben auf Seite 68: „Wer sich nicht in die ‚Situation‘ der Betroffenen hineinversetzt, kann eine traumatische Erfahrung nicht verstehen.“ Die beste Möglichkeit hierfür bietet das Peer Counseling bzw. Peer Support (Rensinghoff 2004), wie der Gesetzgeber es beispielsweise in § 32 Absatz 3 SGB IX fordert. In der Kommentierung zu Bundestagsdrucksache 18/9522 lesen wir zu § 32 Abs. 3 SGB IX auf Seite 248: „Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem sogenannten ‚Peer Counseling‘, der Beratung von Betroffenen für Betroffene.“
Erstaunlich ist die Feststellung, dass das Thema Arbeitslosigkeit in einer traumatologischen Perspektive in der Forschungsliteratur kaum untersucht wurde. Erstaunlich ist das, weil doch gerade bei Arbeitslosigkeit oder auch vorzeitiger Berentung u.a. die weiter oben genannten psychotraumatologischen Auffälligkeiten bekannt sind. In einer qualitativen Untersuchung konnte ich 2006 feststellen, dass auch Berufliches zu folgenreichen Psychotraumatisierungen bis hin zu Arbeitslosigkeit oder vorzeitiger Berentung führt, was hier dann allerdings in eine intensivmedizinisch zu behandelnde Hirntraumatisierung mündete (vgl. Rensinghoff 2006).
Fazit
Diese, von Monika Becker-Fischer und Adrian Georg Fischer, aktualisierte Auflage hält die Psychotraumatologie und deren psychodynamische Verständnisses der prozesshaften Abläufe nach seelischen Verletzungen wach. Ziel der Psychotraumatologie soll immer die Verhinderung einer Chronifizierung von Traumafolgestörungen sein.
Die Psychotraumatologie hat Eingang gefunden in Pädagogik, Psychologie und Medizin. „Mit ihrer breiten Ausrichtung an sozialwissenschaftlichen, natur- und geisteswissenschaftlichen Themen und über die Ziele von psychosozialer Hilfe und psychotherapeutischer Behandlung sind Psychotraumatologie und Psychotherapiewissenschaft natürliche Partner“ (S. 415).
Literatur
Bundestagsdrucksache 18/9522: Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG).
Rensinghoff, Carsten: Peer Support in der beruflichen Habilitation schwer hirnverletzter Jugendlicher und junger Erwachsener. Butzbach Griedel 2004.
Rensinghoff, Carsten: Zu den psychotraumatischen Ursachen schwerer hirntraumatischer Ereignisse – eine (auto-)biographische Studie. In: Sonderpädagogik 36(2006)16-25.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 15.02.2021 zu:
Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB
(Stuttgart) 2020. 5., aktualisierte und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-8252-8769-6.
Reihe: UTB - 8165.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27953.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.
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