Inge Kamp-Becker, Sven Bölte: Autismus
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 08.11.2021

Inge Kamp-Becker, Sven Bölte: Autismus.
UTB
(Stuttgart) 2021.
3. aktual. Auflage.
112 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5624-1.
D: 16,90 EUR,
A: 17,40 EUR.
Reihe: utb Profile.
Thema
Die Veröffentlichung befasst sich mit der Geschichte, „Symptomatik und Heterogenität des Phänomens Autismus“ (S. 11).
Autorin und Autor
Professorin Dr. Inge Kamp-Becker ist Diplompsychologin und arbeitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Philipps-Universität Marburg.
Professor Dr. Sven Bölte ist Diplompsychologe und Direktor des Karolinska Institutet Center of Neurodevelopment Disorders in Stockholm.
Entstehungshintergrund
Schon ein Blick in die Datenbank PubMed zum Stichwort autism zeigte der Autorin und dem Autor die herausragende Aktualität, die sich in der steigenden Anzahl von Publikationen und den Abrufen im Internet zeigen. Dieser Datenbankrecherche ist u.a. die Entstehung dieser Publikation geschuldet.
Aufbau
- Was ist Autismus? – Symptomatik und diagnostische Kriterien
- Gibt es typische Begleiterkrankungen? – Komorbiditäten
- Kommt Autismus häufig vor? – Epidemiologie der autistischen Störung
- Heterogenität des Autismus
- Wodurch wird Autismus verursacht? – Ätiologie und Störungskonzept
- Wie erkennt man Autismus? – Diagnose und Differenzialdiagnose
- Kann Autismus behandelt werden? – Therapie
- Was ändert sich mit zunehmendem Alter? – Der Verlauf autistischer Störungen
- Welche Förderung brauchen Menschen mit Autismus? – Soziale, schulische und berufliche Integration
Inhalt
Anhaltende Defizite in der sozialen Interaktion, Kommunikation und repetitive Verhaltensweise sind die Hauptsymptome des Autismus‘.
Da es sich beim Autismus nicht um ein einheitliches Behinderungs- oder Krankheitsbild handelt, wird von einer Autismus-Spektrum-Störung gesprochen, worunter der frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom, die desintegrative Störung und der atypische Autismus zusammengefasst sind.
Für den Verlauf eines Autismus‘ spielen Umweltfaktoren eine wesentliche Rolle. „Dabei geht es insbesondere um pädagogische Förderung […] und Interventionen, die die Anpassungsfähigkeit und Lebensführung entscheidend beeinflussen können“ (S. 37).
Die soziale Entwicklung von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung ist u.a. beeinträchtigt durch:
- eine reduzierte soziale Motivation. Objekten wird eine höhere Aufmerksamkeit geschenkt als Menschen;
- eine eingeschränkte geteilte Aufmerksamkeit;
- eine beeinträchtigte Imitationsfähigkeit;
- Empathiedefizite;
- ein beeinträchtigtes Spielverhalten.
Bei der Autismusdiagnostik ist ein multidisziplinäres Vorgehen erforderlich. Hier ist auf die Expertise aus den Bereichen Neuropädiatrie, Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, klinische Psychologie, Sprachtherapie und Ergotherapie zurückzugreifen.
Zur Behandlungsmöglichkeit des Autismus‘ führen Kamp-Becker/Bölte aus, dass Autismus nicht geheilt, „jedoch mit verhaltenstherapeutischen, entwicklungsorientierten therapeutischen/pädagogischen Interventionen“ (S. 74) beeinflusst werden kann. Aktuell gibt es keine Medikamente für die Autismustherapie.
Diskussion
Als bedenklich stufen die Autorin und der Autor die Anwendung der gestützten Kommunikation ein. Dies ist verwunderlich, da die gestützte Kommunikation doch als ein Mittel zur effektiven Kommunikation gilt (Vgl. URL: http://www.autismus-muelheim.de/atz/?p=416 [Download: 29.10.2021]). “Die Gefahr (unbewusster) Beeinflussung der Inhalte durch die ‚stützende‘ Person ist erheblich. Daher sollte gestützte Kommunikation bei Menschen mit Autismus nicht angewendet werden. Diese Form der Kommunikation trägt ein deutliches Risiko in sich, dass dem ‚gestützten‘ Menschen Fähigkeiten zugeschrieben werden, die durch andere Methoden bzw. im Alltag nicht nachgewiesen werden können“ (S. 89). Letztgenanntes trifft im Übrigen auch auf die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) zu, die aufgrund der Behinderungsunerfahrenheit für die pflegebedürftige Person oftmals negativ ausfällt. Aus diesem Grund ist hierfür dann wohl eher die gestützte Kommunikation durch Peers, als gleichartig Betroffene, zu gewährleisten.
Am Ende des Buches wird auf die Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets hingewiesen. Aus eigener Erfahrung in der Beratungsarbeit weiß ich, dass die Entscheidungs- und Leistungsträger sich hier – u.U. weil sie das Instrument gar nicht kennen und nicht daran interessiert sind sich hier fortzubilden – schwertun und entsprechende Anträge negativ bescheiden.
Fazit
Offenbar und durchaus berechtigt erfreut sich die besprochene Publikation einer wachsenden Beliebtheit, die eine dritte Auflage notwendig macht. Eine wachsende Beliebtheit liegt aber auch dem Thema Autismus zugrunde, die scheinbar immer häufiger diagnostiziert wird.
Eine andere Begründung für eine neue Auflage ist in den diagnostischen Kriterien zu finden, die ab Januar 2022 gültig sind. Hierbei handelt es sich um das DSM-5 und das ICD-11. Und der Unterschied zwischen ICD-11 und DSM-5 „besteht darin, dass im ICD-11 die Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen kein Kriterium darstellt, im DSM-5 jedoch als neues Kriterium eingeführt wird“ (S. 20). Kritisch betrachten die Autorin und der Autor die unzureichende Spezifizierung der Diagnosekriterien: Es wird nicht, wie es beim DSM-5 der Fall ist, eine „Anzahl an Symptomen bzw. Symptombereichen genannt […], die mindestens erfüllt sein muss, um die Diagnose zu vergeben. Auch wird die fehlende konkrete Beschreibung der Symptomatik als problematisch angesehen“ (S. 21). Anstelle des ICD-11 sollen sich die Diagnostzierenden des DSM-5 bedienen.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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