Silvia Cramerotti-Landgraf: Wohin mit der Mütterlichkeit?
Rezensiert von HS-Prof. Dr. Doris Lindner, 25.02.2021
Silvia Cramerotti-Landgraf: Wohin mit der Mütterlichkeit? Das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Forderungen, den kindlichen Bedürfnissen und den Wünschen der Frau - Überlegungen aus psychoanalytischer Sicht. Logos Verlag (Berlin) 2020. 112 Seiten. ISBN 978-3-8325-5191-9. D: 35,50 EUR, A: 36,50 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Die vorliegende Studie widmet sich dem Thema der (institutionellen) Frühförderung im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen. Wie der Titel ausdrückt, geht es hierbei vor allem um die komplexe Verwobenheit zwischen der (doppelten) Vergesellschaftung der Frau, ihrer Rolle als Mutter, ihren Wünschen, Ängsten und Sorgen sowie den Bedürfnissen von Kleinkindern und ihrem anthropologischen Angewiesensein. Während auf der einen Seite besonders politische und ökonomische Argumente und Kosten-Nutzen-Überlegungen ins Spiel gebracht werden, um den Ausbau von Krippenplätzen zu rechtfertigen und weiter zu forcieren, wird der individuellen Seite, der Privatsphäre der Frau und ihren mütterlichen Bedürfnissen z.B. nach Bindung und Fürsorge, wenig Rechnung getragen. So entsteht ein einseitiges Bild, das die Gesamtsituation der vielfältigen Perspektiven nicht adäquat abzubilden scheint und im Gegenzug jene Frauen, deren Meinung nicht anschlussfähig ist an gesellschaftlich etablierte Argumentationsmuster, in eine Rechtfertigungsposition drängt. Jene Aspekte, die bislang wenig beleuchtet wurden und Konfliktfelder, die einer gezielten Reflexion bedürfen, werden in dieser Studie aus Sicht der Psychoanalyse und ihrer Erklärungsansätze erörtert und diskutiert. Es handelt sich dabei um eine Qualifikationsarbeit, die an der International Psychoanalytic University Berlin veröffentlicht wurde.
Autorin
Silvia Cramerotti-Langfraf, geboren 1986, absolvierte das Studium der Sprachwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowe das Studium der Psychologie an der International Psychoanalytic University in Berlin. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin (Psychoanalyse und Tiefenpsychologie) in Ausbildung der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München.
Aufbau und Inhalt
Die Studie entspricht dem Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit, die im Groben aus theoretischer Einbettung, den aktuellen Forschungsstand zur Thematik, der Beschreibung der methodischen Umsetzung besteht und mit zentralen Erkenntnissen sowie Gestaltungsvorschlägen zur Bewältigung der Phase der frühen Kindheit schließt. Ein Vorwort von Prof. Dr. Bernd Ahrbeck, eine Vorbemerkung, die das persönliche Interesse der Autorin an der Arbeit offenlegt und eine Kurzzusammenfassung eröffnen erste Einblicke in die Thematik und ihre gesellschaftliche Relevanz.
In der Einleitung wird das Thema auf die zentralen Erkenntnisstränge fokussiert und die Ziele der Arbeit vorgestellt. Ausgehend von der Vereinbarkeit von Beruf und dem Mutterdasein wird die geltende Rechtslage (Anspruch auf Betreuungsplatz in einer Kita) thematisiert. Dabei ist die Frage leitend, ob das Idealbild der berufstätigen Mutter und der frühen Fremdbetreuung mit den Bedürfnissen der Kinder und jenen der Frauen in Einklang steht. Eines der zentralen Anliegen der Arbeit ist die Verdeutlichung des komplexen Geflechts zwischen gesellschaftlichen (An-)Forderungen, propagierten Rollenbildern und Bedürfnissen der Frau.
Kapitel zwei widmet sich der Offenlegung zentraler Begrifflichkeiten (frühe außerfamiliäre Betreuung), Hintergrundaspekten und historischen Entwicklungen, die für das Verstehen der Arbeit grundlegend sind. Das methodische Vorgehen (wissenschaftliche Literaturrecherche und -analyse) wird ebenso beschreiben wie die Grenzen der Arbeit aufgezeigt.
In Kapitel drei („Gesellschaftliche Diskussion und wissenschaftliche Erkenntnisse zum frühen Kita-Eintritt“) erfolgt die theoretische Einbettung der Studie durch relevante Theorien und Konzepte zum Thema Kita, die überblicksmäßig zentrale Positionen referieren. Die Autorin beschreibt politische Forderungen (Stichwort: familienpolitische Wende) und analysiert exemplarisch wirtschaftliche Bestrebungen (Positionen wirtschaftsnaher Institutionen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf), die mit Stellungnahmen zum Krippenausbau aus Sicht der Medizin, (der psychoanalytisch orientierten) Psychologie und weiterer gesellschaftlicher Akteure ergänzt werden. Das Kapitel schließt mit der Darlegung häufig rezitierter wissenschaftlicher Studien zum frühen Kita-Eintritt und zur Krippenbetreuung.
Im vierten Kapitel („ Frühkindliche Bedürfnisse“) wendet sich die Autorin der entwicklungstheoretischen Frage nach den frühkindlichen Bedürfnissen zu, die aus der Sicht der Psychoanalyse und den Theorien von Donald W. Winnicott, Daniel N. Stern, J. Bowlby und M. Ainsworth erörtert werden. Dabei interessiert vor allem, ob die in den Theorien dargelegten Bedürfnisse mit den in Krippeneinrichtungen und in der Kindertagespflege vorliegenden Rahmenbedingungen und Konzepten in Einklang gebracht werden können.
Anschließend widmet sich die Autorin in Kapitel fünf umfassend dem „Bedürfnis der Frau nach Mütterlichkeit“ in seinen vielen Facetten und Widersprüchlichkeiten. Ausgehend von einem historischen Rückblick auf die Fremdbetreuung von jungen Kindern wird in einem weiteren Schritt das Augenmerk auf die psychischen Strukturen der Frau gelegt. Dabei werden klassische Theorien zur Weiblichkeit ergänzt durch ein weiteres Konzept von Alcira Miriam Alizade (2006), das einen differenzierten Blick auf das Innenleben ermöglicht. Mithilfe dieses Konzeptes wird dann die gesellschaftliche Position – frühe Krippenbetreuung und rascher beruflicher Wiedereinstieg der Frau – auf ihre Gültigkeit hin untersucht. Es folgen eine Auseinandersetzung zur Thematik aus Sicht der feministischen Gesellschaftstheorie und der „konflikthaften Seite von Mutterschaft“ mit einer Darlegung unterschiedlicher Spannungsfelder. Das Kapitel schließt mit der Frage: „Wohin mit der Lust am Muttersein?“. Es wird erörtert, wie und warum es Frauen (nicht) gelingt, den Wunsch nach Mütterlichkeit innerhalb des gesellschaftlich gesteckten Rahmens zu verwirklichen und welche Gründe dafür ausschlaggebend sind.
Der Darlegung unterschiedlicher Erwartungshaltungen, die im Begriff der Mütterlichkeit kollidieren, folgen im sechsten Kapitel schließlich Vorschläge zur Gestaltung der frühen Kindheit, respektive der ersten drei Lebensjahre, wobei auf Empfehlungen aus der NICHD-Studie zum frühen Krippeneintritt zurückgegriffen wird. Danach werden Maßnahmen zur Verbesserung der Kita-Qualität vorgestellt. Das Unterkapitel 6.4 wirft sodann einen Blick auf „Elternschaft als Lebensphase“. Die Autorin tritt dafür ein, die Vielfalt von Vorstellungen über Elternschaft im öffentlichen Diskurs abzubilden.
Im abschließenden siebten Kapitel werden die wichtigsten Erkenntnisse und Diskursstränge der Arbeit zusammengefasst und mit einem Plädoyer beendet, nämlich „die Entscheidung für oder wider eine außerfamiliäre Betreuung der Kleinsten nicht ausschließlich anhand arbeitsmarktpolitischer und wirtschaftlicher Argumente zu fällen“ (S. 100).
Diskussion
Fragt man nach den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen und die ihren kindlichen Grundbedürfnissen Rechnungen tragen (sollen), sind Forderungen an die soziale Umwelt nicht weit. Auch wenn diese kontrovers diskutiert werden, stehen zumeist die Qualität der Begleitung und die Frühforderung im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatten und damit auch diejenigen Personengruppen, die Kinder auf ihren Weg zum Erwachsensein begleiten. Was dabei häufig zu beobachten ist, ist das Phänomen, dass zwar über Familie, Elternschaft und Muttersein in all seinen Nuancierungen debattiert wird, selten tatsächlich diejenigen zu Wort kommen, die unmittelbar betroffen sind. Das Thema ‚Mutter‘ spielt zwar im Kontext von ‚Vereinbarkeit von Beruf und Familie‘ eine wesentliche Rolle oder wenn es darum geht, Frauen nach der Geburt schnellstmöglich wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die individuelle Seite des Mutterseins wird hingegen weniger deutlich Gegenstand umfassender Diskurse. Das Aufzeigen dieser Einseitigkeit, mit der diese Debatten über den Kopf von Frauen hinweg (selbstverständlich) geführt werden, ist ein großer Verdienst dieser Arbeit.
Die titelgebende Frage „Wohin mit der Mütterlichkeit?“ bringt diese Problematik zugspitzt auf den Punkt. Sie zeigt auf, wie Fragen des Politischen und Ökonomischen weit in private Bereiche hineinreichen und gesellschaftliche Erwartungen eine Norm propagieren, die weder allen Lebensentwürfen von Frauen gerecht wird noch die Bandbreite an unterschiedlichen Sichtweisen adäquat abzubilden vermag. Das Buch schließt diese Lücke und bietet einen respektablen Überblick unterschiedlicher Theoriestränge zum Themenkomplex ‚Mutter‘ und ‚Mütterlichkeit‘, legt aber deutlich einen Schwerpunkt auf psychoanalytische Sichtweisen, was der Arbeit auch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal verleiht.
Der Autorin war es ein besonderes Anliegen, dem Bedürfnis der Frau nach Mütterlichkeit ein eigenes Kapitel zu widmen. Dies ist auch richtig, denn die Frauen sind keine homogene Gruppe, sondern Positionen und Haltungen zum Thema auch innerhalb dieser äußerst divers. Diese Unterschiedlichkeit wird unter Rückgriff auf bestehende (psychoanalytische) Konzepte zu verdeutlichen versucht; Frauen kommen aber nicht dezidiert zu Wort, sie werden stellvertretend durch die Position der Autorin und ihrer Erfahrungswerte mitgedacht, ohne jedoch den Anspruch erheben zu wollen, für alle zu sprechen. Was der Autorin gelungen ist, ist das Aufzeigen von Dilemmata, Ambivalenzen und Unabwägbarkeiten, die mit dem Thema vor allem konflikthaft verbunden sind. Genauso schafft sie es, ‚Mütterlichkeit‘ als Qualitätsprinzip auszuweisen, das zwar einen gewissen Zeitgeist unterliegt, mitunter ideologisch überfrachtet ist, jedoch im Kern eine soziale Ressource ist, in deren Mittelpunkt ein existentielles Bedürfnis von Kindern und ein generelles Angewiesensein stehen. Eine einseitige Vereinnahmung dieser Ressource berücksichtigt die Komplexität dieser Thematik nicht, worauf in der Studie auch mehrmals hingewiesen wird. Ihr Plädoyer ist dann auch als „Ermutigung“ zu lesen, „beide Sphären [Anm.: Mutterschaft und weibliche Erwerbsarbeit] gleichermaßen als Quelle von Selbstverwirklichung zu betrachten und […] Frauen darin zu bestärken, je nach Lebensphase und individuellen Bedürfnissen konsequent Prioritäten zu setzen, und dies ohne jeglichen gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck“ (S. 101). Wie das in realis funktionieren soll, ist ein Wagnis mit offenem Ausgang, es lohnt sich aber, sich zumindest gedanklich damit auseinanderzusetzen.
Fazit
Insgesamt liegt mit dieser Arbeit eine Studie vor, deren Wert vor allem darin besteht, die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Komplexität des Themas abzubilden und zu würdigen. Das Buch wird seinem Anspruch gerecht, wenn man sich auf die Intention, die innere Dynamik der Beteiligten und ihrer Beziehungen zueinander hervorheben, besinnt. Gleichzeitig verdeutlicht sie die ideologische Überfrachtung des Begriffs ‚Mütterlichkeit‘ und das Fehlen empirischer Fakten. Aufgrund der Originalität des Unterfangens und der Eröffnung unterschiedlicher Blickwinkel auf die Thematik ist das Buch auch für eine breite Leserschaft empfehlenswert.
Rezension von
HS-Prof. Dr. Doris Lindner
Institut Qualitätsmanagement und Hochschulentwicklung
Private Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems
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Zitiervorschlag
Doris Lindner. Rezension vom 25.02.2021 zu:
Silvia Cramerotti-Landgraf: Wohin mit der Mütterlichkeit? Das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Forderungen, den kindlichen Bedürfnissen und den Wünschen der Frau - Überlegungen aus psychoanalytischer Sicht. Logos Verlag
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-8325-5191-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27961.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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