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Stefan Schmalz, Sarah Hinz et al.: Abgehängt im Aufschwung

Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 21.03.2022

Cover Stefan Schmalz, Sarah Hinz et al.: Abgehängt im Aufschwung ISBN 978-3-593-51008-8

Stefan Schmalz, Sarah Hinz, Ingo Singe, Anne Hasenohr: Abgehängt im Aufschwung. Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. 220 Seiten. ISBN 978-3-593-51008-8. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Reihe: Labour Studies - 24.

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Thema

Das Buch behandelt die Situation der abgehängten Regionen in Ostdeutschland.

AutorInnen

Leander F. Badura arbeitet am Lateinamerika-Institut der FU Berlin.

Anne Hasenohr war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena.

Sarah Hinz promoviert an demselben Lehrstuhl.

Daniel Meyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Köln und Doktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Stefan Schmalz ist Nachwuchsgruppenleiter am Sonderforschungsbereich 294 an der Universität Erfurt.

Ingo Singe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen.

Entstehungshintergrund

Das Buch wurde in der von Klaus Dörre und Stephan Lessenich herausgegebenen Schriftenreihe „International Labour Studies – Internationale Arbeitsstudien“ als Band 24 publiziert. Es repräsentiert Ergebnisse eines BMBF-geförderten Forschungsprojekt.

Aufbau

Das Buch wird durch ein Vorwort von Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena, eingeleitet. Danach folgt eine Einleitung, die die grundlegende These des Buches und die empirische und methodische Basis vorstellt. Es folgen sechs weitere Kapitel, die sich mit der räumlichen Ungleichheit und demographische Differenzierung (Kap. 2), die „Peripherisierung in Ostthüringen“ (Kap. 3), „Die Thüringer Arbeitsgesellschaft im Umbruch“ (Kap. 4), „Demographischer Wandel als game changer im Betrieb“ (Kap. 5), „Thüringen: Das Ende der politischen Stabilität“ (Kap 6.) und „Die Krise des „Modells Ostdeutschland“ (Kap. 7).

Inhalt

Der langanhaltende Boom der deutschen Wirtschaft vor der Corona-Epidemie hat davon abgelenkt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland nicht überall gleich verlaufen ist. Die räumliche Ungleichheit der deutschen Wirtschaftsgeographie ist aber weder Zufall noch Ausdruck von besserer oder schlechterer Kommunalpolitik. Vielmehr hat sich eine neue Logik der räumlichen Ordnung und Hierarchie durchgesetzt, die das Prinzip von Zentrum und Peripherie, wie es im globalen Maßstab bislang nur zu gelten schien, auf die industrielle Landschaft Deutschlands anwendet. Mit dem vorliegenden Buch wird dieser Prozess vom unteren Ende her betrachtet – also nicht von den glitzernden und kulturell aufgewerteten Metropolen, sondern von jenen Gebieten aus, die am unteren Ende stehen, die als „abgehängt“ gelten und in einer Position sozi-ökonomischer Peripherie verharren, aus der sie kaum allein herausfinden können. Der Prozess der Peripherisierung vollzieht sich quasi überall, aber Regionen wie das Ruhrgebiet oder Ostdeutschland sind besonders davon betroffen. Die neue Wirtschaftsgeographie lässt sich aber nicht so grob beschreiben. Vielmehr zeichnet sich seit den 2000er Jahren eine räumlich weiter ausdifferenzierende Entwicklung auch in diesen Regionen ab, bei der wenige Leuchttürme wie etwa Jena in Thüringen unverbunden neben Abstiegsstädten wie Gera liegen.

Die Beobachtung dieser peripheren Räume kann aber nicht nur auf die Folgen der Re-Industrialisierung – nach einem rapiden Prozess der De-Industrialisierung und einem auf Niedriglohn, dem Verlust von gewerkschaftlicher Organisation und Facharbeiterschaft – reduziert werden. Der Aufstieg der AFD, rechter Protest und Gewalt und ein vielerorts vorfindbare rassistische Alltagskultur breiten sich in diesen peripheren Gebieten aus und produzieren das „Migrationsparadox“, d.h. die Ankunft von Migrant*innen wird als weiterer Nachweis für die gesellschaftliche Abwertung erfahren. Wie am Beispiel von Gera, der ehemaligen Bergbau-Stadt, verdeutlicht wird, ist die ostdeutsche Peripherie von einer gesellschaftlichen Dynamik gekennzeichnet, in dem die demographischen, politischen, kulturellen und ökonomischen Prozesse eng miteinander verzahnt sind. Das nüchterne Fazit der Autor*innen ist, dass es für eine Intervention in diese an einer Gesamtstrategie fehlt und stattdessen sektorale Ansätze, zumeist ohne Bezug auf die anderen Lebensbereiche, vorherrschen und somit die Abwärtsspirale nicht aufgehalten werden kann.

Diskussion

Das Buch liefert eine differenzierte Erklärung für die zu beobachtenden gesellschaftlichen Abstiegsprozesse der ostdeutschen Peripherie, in dem ein konzeptionell anspruchsvolles Ursachengeflecht beleuchtet wird. Grundlegende These ist die Erschöpfung des „Modells Ostdeutschland“, mit dem es zeitweise gelang, um die hohe Arbeitslosigkeit zu verringern und den Strukturbruch der Nachwende-Jahre durch eine Degradierung der ostdeutschen Industrie vom Status des Produzenten zu einer Art „verlängerten Werkbank“ aufzufangen. Niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten garantierten prekäre Arbeits- und Lebensperspektiven, die nicht durch gewerkschaftlich verhandelte Tarifverträge sozial aufgefangen werden konnten. Durch einen hohen Anteil an Fachkräfte konnten Wettbewerbsvorteile sichergestellt werden. Doch heute ist dieses Modell in die Krise geraten und kommen andere Faktoren zum Tragen, die die erfahrene oder wahrgenommene kollektive Abwertung wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung zurückbringt. Die massive Abwanderung in den letzten 30 Jahren hat darüber hinaus dazu geführt, dass nun auch das Personal für eine neue Strategie der Aufwertung der Peripherie fehlt. Die politische Lethargie und die rechte Alltagskultur wird von den Autor*innen zugleich als Ursache und Folge dieser Entwicklung gesehen.

„Abgehängt im Aufschwung“ ist ein sehr überzeugendes Buch, dass einfache Erklärungsangebote für die vielfältigen Phänomene des Abstiegs vermeidet und stattdessen durch eine umfangreiche Empirie, bei der über zweitausend Menschen an einer Befragung zu Themen wie Arbeit, Gesellschaft und Region und Migration teilgenommen haben und wodurch die subjektiven Einstellungen von Beschäftigen als Basis für die Analyse und Schlussfolgerungen der Studie genommen werden konnten.

Es ist das große Verdienst dieser Studie, dass es die Zusammenhänge zwischen räumlicher Entwicklung, Demographie, veränderte Arbeitsverhältnisse und subjektiven Anspruchs- und Ungerechtigkeitsempfinden aufzeigt. Auf diese Weise gelingt es den Autor*innen überzeugend, das Entstehen des „gesellschaftlichen Unwohlseins“ (S. 24) greifbar zu machen.

Fazit

Insbesondere die Betriebsfallstudie zeigt auf, wie die Demokratie und soziale Deprivation sowie rechte und migrationsfeindliche Einstellungsmuster Städte wie Gera zu Treibhäuser rechter Stimmungen geworden sind. Das bedenkliche Fazit der Studie weist auf, dass sich diese Stimmungen inzwischen verfestigt haben und rechte Deutungsmuster dominieren. Die AutorInnen stellen dem ihre arbeitspolitische Agenda „Aufwertung Ost“ entgegen, die zwar über den engen Rahmen der Betriebe hinaus angelegt werden (etwa mit Bezug auf eine Willkommenskultur), der aber sicherlich auch eine weitergehende politische Agenda folgen sollte. Es wird deutlich, dass ohne eine veränderte Arbeitspolitik – das ist sicherlich das große Verdienst dieses Buches auch für Leser*innen, die sich mit diesem Politikfeld noch nicht intensiv beschäftigt haben –, kann es aber strukturell und langfristig keine Antwort auf die Abwärtsdynamik von Städten wie Gera und der ostdeutschen Peripherie geben.

Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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Es gibt 11 Rezensionen von Frank Eckardt.

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Zitiervorschlag
Frank Eckardt. Rezension vom 21.03.2022 zu: Stefan Schmalz, Sarah Hinz, Ingo Singe, Anne Hasenohr: Abgehängt im Aufschwung. Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. ISBN 978-3-593-51008-8. Reihe: Labour Studies - 24. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27978.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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