Steffen Großkopf, Michael Winkler (Hrsg.): Reform als Produktion
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 03.12.2021
Steffen Großkopf, Michael Winkler (Hrsg.): Reform als Produktion. Ideologiekritische Blicke auf die Pädagogik. Ergon Verlag (Würzburg) 2020. 117 Seiten. ISBN 978-3-95650-668-0. D: 48,00 EUR, A: 49,40 EUR.
Thematischer Hintergrund
Kritisch, auch ideologiekritisch, untersucht werden neuere pädagogische Konzepte in der schüler- und schülerinnenorientierten Didaktik am Beispiel des Philosophieunterrichtes, der frühpädagogischen Praxis, der Inklusion sowie am Konzept der Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Leitend für die Autorin und die Autoren ist die Auffassung, dass Ideologien die gesellschaftliche Ordnung stabilisieren und dahinterstehende Machtstrukturen verschleiern.
Autorin und Autoren
Louisa E Frintert ist Doktorandin in Jena/Halle und Lehrbeauftragte an der Sorbonne, Paris.
Prof. Dr. Steffen Großkopf ist Inhaber der Verwaltungsprofessur Soziale Arbeit und Ethik an der Universität Vechta.
Dr. Michael Knoll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Ulf Sauerbrey ist Inhaber der Professur Kindheitspädagogik im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg und
Prof. i.R. Dr. Michael Winkler war tätig an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Im Folgenden wird auf die fünf Beiträge im vorgelegten Band eingegangen.
Inhalt
Der Beitrag „Über Entmündigung und Ideologie der schüler- und schülerinnenorientierten Didaktik“ von Frintert untersucht die konkrete Methode der Philosophiedidaktik von Ekkehard Martens. Es wird festgestellt, dass die wichtige Schüler*innenorientierung in ihr Gegenteil umschlagen kann. Die Autorin analysiert dazu das Konzept des Philosophieunterrichts nach Martens, in dessen Mittelpunkt das freie und autonome Denken und Handeln bezüglich der eigenen Lebenswelt steht. Dabei werden einzubringende Inhalte und Fakten aber unbedeutend – so der Vorwurf der Autorin. Sie stellen nur bloßen Anlass zur Einübung von Methoden dar (z.B. das philosophische Gespräch). Damit „wird Bestehendes zementiert und es besteht die Gefahr dass sich auch Ideologien verschiedener Art reproduzieren, wenn Inhalte nicht wirklich von der neuen Generation in Frage gestellt werden dürfen […]“ (S. 17).
Die Kritik von Frintert konzentriert sich insbesondere auf die auf Sokrates zurück zuführende „Methodenschlange“, von Martens als elementare Kulturtechnik bezeichnet und Grundlage seiner Philosophiedidaktik. Diesbezüglich verweist die Autorin auf die enge Verbundenheit von Inhalten und Methoden und sie fürchtet, dass Schüler*innen weder Philosophie noch Philosophieren lernen – mehr noch: sie finden nicht den Ausgang aus ihrer Unmündigkeit. Schüler*innen bleiben letztlich im Modus ihres alltäglichen Denkens und Sprechens. Darin kann aber nicht das befreiende Element des Philosophieunterrichts liegen: „Gerade darin liegt der Fehlschluss“ (S. 26). Methoden sind streng gemeinsam mit den Lernenden, am Inhalt zu entwickeln.
Der Folgebeitrag „Normativität als Problem frühpädagogischer Theorien. Ein dokumentationsanalytischer Ordnungsversuch“ von Ulf Sauerbrey untersucht wissenschaftliche Formen der Produktion zu Themen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung. In einem ersten Schritt wird die Normativität in den Erziehungswissenschaften am Beispiel von F.D.E. Schleiermacher aufgezeigt. Sodann werden unterschiedliche Ansprüche frühpädagogischer Theorien mittels der Dokumentenanalyse untersucht. Das Untersuchungsmaterial besteht aus sieben einschlägigen pädagogischen Texten wie z.B. das „Lehrbuch Elementarpädagogik. Theorien, Methoden und Arbeitsfelder“ (Bamler/Schönberger und Wustmann 2010). Geordnet wird die Auswertung nach vier Kategorien, die jeweils nach Theorieansprüchen an die Pädagogik der frühen Kindheit differenziert werden:
- Programmatiken Theorien: Hierzu gehören z.B. handlungsleitende Konzepte (Fröbel, Montessori, Freinet). Diese wie auch weitere Theorien haben keinen Bezug zu wissenschaftlichen Wissen.
- Theorien der phänomenologischen Beschreibungen: Hierzu gehört etwa die Beschreibung des Vollzugsgeschehens in der frühkindlichen Erziehung (Üben und Lernen, Einführung in bedeutsame Lebensbereiche).
- Kritisch motivierte Instituetik-Theorien: Bezug genommen wird auf Honig (2013; 2015), der einen instituetischen Zugang zur nicht-familialen Betreuung, Erziehung und Bildung formuliert (z.B. institutionelle Akteure).
- Sein und Sollen zugleich-Theorien.
Als Beispiel wird hervorgehoben das Buch „Was ist frühkindliche Bildung?“ (Schäfer 2011). Hier mischen sich kognitionswissenschaftliche Befunde mit Handlungsempfehlungen und Sollens-Konzepten. An Liegle (2008; 2013) wird gezeigt, wie aus analytischen Einsichten zugleich Ideen für eine gute Pädagogik abgeleitet werden.
Der Autor kommt aufgrund seiner Analysen zu dem Ergebnis, analytisch-distanzierte von reformorientierten-normativen Arbeiten zu trennen. Bezugnehmend auf Sauerbrey formuliert er: „Hier liegt m.E. eine Erkenntnishürde, die in der Verstricktheit zahlreicher theoretischer Ansätze mit der elementarpädagogischen Praxis liegt“ (S. 42).
Der dritte Beitrag „Inklusion als Ideologie betrachtet“ von Michael Winkler beginnt mit einer Kritik an dem unbestimmten Begriff Inklusion. Er stellt fest: „[…] es gibt keine klare Bestimmung, nicht einmal in der Differenz zur Exklusion“ (S. 50). Gleichwohl, so Winkler, hat sich im alltäglichen Leben etwas verbessert (z.B. Entstigmatisierung). Die Inklusion bedarf aber der dialektischen Aufschlüsselung im Zusammenhang mit sich verändernden Verhältnissen in der Gesellschaft. Reformen können auch zu Ideologien werden. Für die Inklusion gilt, sie ist eine „[…] gute Idee, die nun eine Gesellschaft ziert, welche ihrerseits auf eigentümliche Weise falsch geworden ist.“ (S. 56). Ein Beispiel hierfür wäre der ökonomisch verwertbare Autismus. In diesen und anderen Zusammenhängen nimmt der Autor immer wieder Bezug zur Kritischen Theorie (Adorno, Heydorn). Inklusion wird sozusagen zur Ware im Gesellschaftssystem und damit verspielt sie die Möglichkeit zu einer weiteren Zivilisierung.
Bei der vertiefenden Erörterung von Inklusion/​Integration wird als Gewährsmann Adorno hinzugezogen, für den Integration ein äußerst riskanter Prozess ist, weil die Überbau-Unterbau-Relation an Schärfe verliert. Winkler: „Mit der Forderung nach Integration aber droht, dass die Subjekte sich dieser Massengesellschaft noch unterwerfen, […]“ (S. 65). Auf diesem Hintergrund wird soziale und kulturelle Teilhabe offeriert, der aber die Erfahrung der „Wirkmächtigkeit“ fehlt. So besteht in der Gesellschaft einerseits Ausgrenzung und andererseits progressive und marktgängige Individualisierung (z.B. durch Leistungsorientierung). Inklusion dient in einer solchen Gesellschaft der Aufrechterhaltung von Selbststeuerung und Selbstbeschleunigung. Die versprochene Reform wird dementsprechend von ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen überrannt. Gleichwohl, so Winkler, gibt es als Trost die Hoffnung auf Menschen die Anderes im Sinn haben – sie also eine Widerstandskraft entwickeln. Auch kann die beschriebene Dynamik an ihre Verfügungsgrenzen stoßen.
„Erziehungs- und Bildungspartnerschaft – die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichen. Eine systemtheoretische Kritik“ ist der vierte Beitrag von Michael Knoll. Dieser Begriff bzw. das Konzept hat, folgt man Knoll, seit längerer Zeit eine beachtliche Konjunktur. Obwohl die Kooperation zwischen den ungleichen Partnern (Familie, Kita, Schule) auch in der Fachliteratur kritisch gesehen wird, überwiegt deutlich eine harmonisierende Semantik. Nach einem Rückblick auf die geteilte Verantwortung im Erziehungs- und Bildungsbereich wird das Konstrukt Erziehungs- und Bildungspartnerschaft analysiert und auf das generelle Ziel der Chancenoptimierung verwiesen. Verwiesen wird auch auf Forschungsbefunde, die u.a. belegen, dass die jeweilige Schichtzugehörigkeit Einfluss auf das Kooperationsgeschehen nimmt und soziale Ungleichheit reproduziert werden kann.
Dann erfolgt eine systemtheoretisch orientierte Aufarbeitung des Problems anhand der Systemtheorie von Luhmann. Demnach entwickeln die beteiligten Systeme (Familie, Kita, Schule) eine Selbstreferenz, die Einflüsse weiterer Umfeldsysteme nicht, oder nur im Sinne einer Selbstbeobachtung, zulassen. Es handelt sich um geschlossene Systeme. Dies bedeutet für Familie, Kindertagesstätte und Schule, dass sie nicht die Innenperspektive der jeweils anderen Systeme übernehmen können. „Eine konsensuelle Verständigung auf gemeinsamer Basis wäre damit hoch unwahrscheinlich […]“ (S. 86). Knoll schlägt nun vor, auch an Luhmann angelehnt, Dynamiken wechselseitiger (Selbst-)Beobachtung ins Spiel zu bringen bzw. eine gelingende Verständigung zu erreichen. Perspektivisch wäre zu erforschen was passiert, wenn organisatorisch bedingte Interessen mit eigensinnigen Deutungsmustern ausgehandelt werden müssen. Dazu werden einige praktische Vorschläge gemacht:
- Aufmerksamkeit auf prinzipielle Unterschiedlichkeit richten.
- Unterschiede erkennen und anerkennen.
- Aushandlung von Kompromissen.
- Akzeptanz der unhintergehbaren Verschiedenheit.
Der letzte Beitrag von Steffen Großkopf „Pädagogische Begriffsproduktion und Ideologie: Das Beispiel Erziehungs- und Bildungspartnerschaften“ untersucht zunächst die Herkunft des Begriffes. Ziel der Untersuchung ist es, begriffliche Innovationen sowie den dahinter stehenden Entwicklungsprozess zu analysieren. Zwei Zugänge werden dazu bevorzugt. Einmal wird der Blick geschärft durch den Historischen Materialismus und zum Anderen durch Bezug auf Foucaults Diskurstheorie.
Der Begriff Erziehungs- und Bildungspartnerschaft findet sich u.a. im Bayrischen Bildungsplan (2006). Verwiesen wird auch auf weitere Quellen wie z.B. den Pädagogen M. Textor. Klarheit über die Herkunft und den Inhalt herrscht aber keineswegs. Eine ideologische Funktion der damit einhergehenden Themenkonjunktur des Konzeptes, die nunmehr den Begriff Elternarbeit ersetzt, könnte darin bestehen, die Unterschiede zwischen Professionellen und Eltern zu verschleiern. Generiert werden jedenfalls u.a. Weiterbildungs- und Transferaktivitäten mit dem Ziel, Geld zu verdienen. Es gibt sozusagen einen kapitalistischen Produktionszusammenhang in dem Wissensarbeiter (Unternehmer) handeln, um Vertrauen „aus einer überlegenen (Experten-)Position“ (S. 97) zu erschleichen. Reform als Produktion dient somit auch der Verkaufsförderung.
In der weiteren Analyse bezieht sich der Autor auf Foucault und dessen Annahme, dass für Begriffszirkulationen nicht Menschen sondern Diskurse verantwortlich sind. Der Diskurs zum Begriff der Erziehungs- und Bildungspartnerschaften wird nun anhand unterschiedlicher Texte rekonstruiert. Fixiert werden dabei die Zeitpunkte 1975 und 2014. Die letztgenannte Jahreszahl bezieht sich auf die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft. Ein umfänglicher Vergleich der jeweils vorherrschenden Erziehungsvorstellungen ergibt z.B. für 2014 eine Zunahme der beteiligten Akteure (erziehungsrelevante Netzwerke) oder die Auflösung einer Hierarchie, die 1975 noch von Allwissern über Wisser zu Halbwissern bis zu Unwissern (Eltern) führte. Der Begriff Erziehungs- und Bildungspartnerschaft verflüssigt diese Hierarchie, erzeugt aber neue Abhängigkeiten, die letztlich zu einem technizistischen Netzwerkmanagement führen. „Gleichzeitig erweist sich die Architektur der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft als Teil eines allumfassenden und autoritären Sozialstaats“ (S. 107). Ein weiterer hinzugezogener Text aus der DDR (1971) zur sozialistischen Familienerziehung zeigt hinsichtlich des Jahres 2014 interessante Übereinstimmungen und zeigt somit einen Fortschritt in die Vergangenheit. Damit wird die Diskursanalyse abgeschlossen und auf die Bedeutungsmacht von Begriffs- und Wissensproduktion verwiesen, die in diesem Fall die Umgarnung von Eltern und Fachkräften verschleiert.
Diskussion
Der vorgelegte Band beinhaltet eine Sammlung von kritisch-reflektierenden Beiträgen mit deutlichen ideologiekritischen Ausrichtungen. Diese anregenden Arbeiten gehören in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs, gerade weil sie nicht dem Mainstream folgen. Diskurse beantworten Fragen, verweisen auf Fehlentwicklungen sowie auf neue Forschungsbefunde und Interpretationen. Damit muss sich die Leserin und der Leser auseinandersetzen sofern sie/er am Diskurs partizipieren will. Zu Fragen und anderen Einschätzungen regt die Veröffentlichung an. So fordert z.B. Ulf Sauerbrey eine strikte Trennung von normativ geladenen praxisorientierten (Handlungs-)Konzepten und Forschungsbefunden, um verzerrenden Einflussnahmen zu begegnen und Vermischungen zu vermeiden. Als Frage bleibt aber wie u.a empirische Befunde in die Praxis vermittelt werden sollen, bzw. wie sich der Ort der Auseinandersetzung gestaltet. In dem Beitrag von Michael Winkler zur Inklusion als Ideologie hätte man eine Bezugnahme auch auf die zahlreichen internationalen und nationalen Forschungsbefunde und Evaluationen zum Thema Inklusion erwarten können.
Fazit
Der Band enthält fünf kritisch-reflektierende Beiträge zu folgenden Themen: Didaktik des Philosophieunterrichtes, Frühpädagogik, Inklusion sowie Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Diese Beiträge gehören in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs, gerade weil sie nicht dem wissenschaftlichen Mainstream unbedingt folgen bzw. dort deutliche ideologiekritische Akzente setzen.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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Zitiervorschlag
Erich Hollenstein. Rezension vom 03.12.2021 zu:
Steffen Großkopf, Michael Winkler (Hrsg.): Reform als Produktion. Ideologiekritische Blicke auf die Pädagogik. Ergon Verlag
(Würzburg) 2020.
ISBN 978-3-95650-668-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27981.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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