Thomas Gehlert: System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 25.05.2021
Thomas Gehlert: System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung. Grundlage für eine innovative Methode zur Entscheidungsfindung in der Unternehmensführung.
Springer Gabler
(Wiesbaden) 2020.
646 Seiten.
ISBN 978-3-658-29166-2.
D: 53,49 EUR,
A: 54,99 EUR,
CH: 66,61 sFr.
Reihe: Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Open. Research.
Thema
Systemische Aufstellungen haben sich seit den 1980er Jahren als ein Verfahren etabliert, das in unterschiedlichen Kontexten der Therapie, der Beratung, des Coachings und der Mediation sowie ferner auch des Führungs- und Entscheidungsalltags genutzt wird. Diese Nutzung dient sowohl der Reflexion als auch der Anregung von systemischen Dynamiken in psychischen und sozialen Systemen. Offenbar zeigen sich Aufstellungen in ihren Anwendungsfeldern als wirksam; sonst hätten sie sich nicht in dieser Weise nachhaltig verbreitet. Neben der praktisch wahrnehmbaren und empirisch nachweisbaren Wirksamkeit[1] von Systemaufstellungen ist jedoch das erstaunliche Phänomen, das Aufstellungen gleichermaßen umstritten wie bewundernswert macht, bisher nur unzureichend geklärt, nämlich die repräsentierende Wahrnehmung. Demnach können sich aufgestellte Repräsentierende von Systemaspekten, für solche körperlich und psychisch manifestierenden Wahrnehmungen öffnen und diese artikulieren, die von den Klienten bzw. Kunden regelmäßig als sehr passend bewertet werden. Obwohl die Repräsentanten in Systemaufstellungen oft gar kein oder nur sehr wenig Wissen über ein relevantes System besitzen, spüren sie sehr relevante Systemdynamiken und können über „Trial and Error“-Versuchen angeben, wie konstruktive Systementwicklungen gestaltet werden könnten und welche Effekte diese zeitigen.
Mit dem Buch von Thomas Gehlert liegt eine äußerst umfangreiche Arbeit vor, die sich speziell mit dem Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung befasst. Eingebunden in praktische Fragestellungen zur Entscheidungsfindung in der Unternehmensführung intendiert der Autor mit seinem Buch, eine „naturwissenschaftliche Begründung“ für die erstaunliche Wirksamkeit und Wahrnehmungsöffnung von Systemaufstellungen zu liefern.
Autor
Dr. rer. pol. Dipl.-Ing. Thomas Gehlert (geb. 1960 in Würzburg) wurde im Jahre 2019 mit der rezensierten Monographie an der Technischen Universität Chemnitz in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Nach Studien der Werkstoffwissenschaften und der Betriebswirtschaftslehre in Erlangen und Nürnberg und mehrjährigen Tätigkeiten in unterschiedlichen Branchen und Funktionen bekannter Unternehmen wie Audi oder 3M machte er sich als Organisationsberater für Change-Prozesse, Führungsfragen und als Trainer selbstständig. So ist er Lehrtrainer bei PROFESSIO und war Vorstandsmitglied bei infosyon e.V. (Internationales Forum für Systemaufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten) für die Bereiche Finanzen und Verwaltung/​Betreuung/​Mitglieder/​Geschäftsstelle. In den Jahren 2013 bis 2019 befasste sich Gehlert intensiv mit dem Studium der Quantenphysik, u.a. durch einen achtmonatigen Forschungs- und Studienaufenthalt an der Universität Auckland in Neuseeland. Schließlich ist er neben seiner selbstständigen Beratungs- und Dozierenden-Tätigkeit Lehrbeauftragter und assoziiertes Forschungsmitglied an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Bereich der Allgemeinen Psychologie.
Aufbau und Inhalt
Die gedruckte Ausgabe kommt als Hardcover-Werk und wird mit zwei Geleitworten eingeführt, und zwar zum einen von dem Physiker Prof. Dr. Ernst Peter Fischer und zum anderen dem Wirtschaftswissenschaftler und selbst Systemaufsteller Prof. Dr. Georg Müller-Christ. Müller-Christ ist zudem Herausgeber der Springer-Reihe „Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis“, in welcher das vorliegende Werk erschienen ist. Nach den Vorworten folgen Abbildungs-, Tabellen- und Abkürzungsverzeichnisse, bevor der Autor mit einem vorangestellten Glossar und einem Vorwort seinen Ausführungen einen passenden Rahmen gibt.
Die elf Buchkapitel sind in deduktiver Form miteinander verbunden:
Nach einem Einstieg und einer Orientierung zur Präsentation der Forschungsfragen, der Vorgehensweisen und des Aufbaus des Buches (1.), wird (2.) der methodologische Rahmen abgesteckt. Hier wählt der Autor eine qualitative Perspektive, die er bei der Grounded Theory sieht. Er fächert seine Erkenntnisquellen in sehr breiter Weise auf und zeigt, dass er sich hinsichtlich der Datenerhebung bei einer Vielzahl von durchgeführten Systemaufstellungen unterschiedlicher Prozesse bedient, die in der klassischen Forschung selten genutzt werden, u.a. der Intuition oder des Bauchgefühls. Da er seine Arbeit in einen wirtschaftswissenschaftlichen Kontext der Unternehmensführung setzt, erfolgt (3.) die Veranschaulichung dieses Zugangs, die er mit dem bekannten Akronym „VUCA“ fokussiert.
Demnach macht er deutlich, dass gerade in einer Welt, die zunehmend von Volatilität (Flüchtigkeit bzw. Unbeständigkeit), Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität gekennzeichnet ist, alternative Quellen der Erkenntnis und Hilfen zur Entscheidungsfindung notwendig sind, die diese Phänomene nicht wegrationalisieren wollen, sondern annehmen und mit ihnen arbeiten. Dazu zählt auch die Systemaufstellung, weil diese gerade bei Problemen, die mit begrenzten Informationen, zahlreichen Einflussfaktoren und hoher Dynamisierung einhergehen, ein äußerst passender Zugang ist, um Entscheidungsmöglichkeiten zu reflektieren und letztlich das Treffen von Entscheidungen vorzubereiten.
Aber die Wirtschaftswissenschaft reicht freilich nicht aus, um die Wirksamkeit von Systemaufstellungen zu erklären. Daher kommt Gehlert (4.) zu einer seiner Ansicht nach „[n]otwendige[n] „interdisziplinäre[n] Erweiterung“, indem er insbesondere die Intuitionsforschung bemüht sowie jene Wissenschaften, welche sich mit Informationszugängen befassen, z.B. quantenphysikalische Untersuchungen.
Um die Erklärungsansätze für die Möglichkeiten von Systemaufstellungen weiter zu differenzieren, kommt er (5.) zu unterschiedlichen Interpretationsrahmen, die er (6.) in einem separaten Kapitel nochmals zusammenfasst. Dort werden in einer transdisziplinären Weise geistes-, sozial- und naturwissenschaftliche Konzepte aufgezählt, die letztlich in einer quantenphysikalischen Perspektive der Informationsrezeption münden, welche als ein Paradigma für das Verständnis von Systemaufstellungen gefasst werden könnte. Wie diese neue theoretische Perspektive modelliert werden kann, wird (7.) veranschaulicht, um (8.) noch einmal vertiefter und sehr ausführlich auf die quantenphysikalische Modellierung unserer gesamten Welt einzugehen.
In den drei letzten Kapiteln wird zunächst (9.) eine Übereinstimmung von Quantenphysik sowie Systemtheorie und Systemaufstellung diskutiert, um (10.) die Ergebnisse der Arbeit abschließend zusammenzufassen sowie einen Ausblick auf einen zukünftigen Forschungsbedarf zu geben. Die Arbeit endet (11.) mit einem Fazit sowie einem Nachwort. Ein knapp 50 Seiten langes Literaturverzeichnis rundet das Werk ab und zeigt dessen breite transdisziplinäre Fundierung.
Diskussion
Dem umfangreichen Buch von Thomas Gehlert in einer Besprechung gerecht zu werden, ist nicht einfach, ja kaum möglich. Denn der Autor schafft etwas, was zunächst größte Bewunderung abverlangt: Als Diplom-Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler hat er sich in einer profunden transdisziplinären Weise in Wissenschaftsgebiete vorgearbeitet, die gemeinhin nur eng fokussierten Fachwissenschaftlern zugänglich erscheinen. Die Quantenphysik, die den Kern seiner Untersuchung ausmacht, ist ein Wissenschaftsgebiet, das sich mit Phänomenen befasst, die dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich werden und die darüber hinaus mit theoretischen Modellen betrachtet werden, die sich schwer erschließen, die also eine tiefergehende Spezialbeschäftigung erfordern. Von alldem hat sich Gehlert nicht abschrecken lassen – im Gegenteil: Er hat erkannt, dass die schwer erklärbare Wirksamkeit und Erkenntniskraft von Systemaufstellungen gerade mit dem quantenphysikalischen Instrumentarium an Hypothesen, Modellen und Beobachtungen besonders gut erklärt werden können. Denn diese relativ neue physikalische Sicht auf die Welt, die die klassische Physik überschreitet, lässt die Behauptung zu, dass unsere Welt in ihren einzelnen physikalischen, chemischen, biologischen, psychischen und sozialen Ausprägungen so miteinander vernetzt ist, dass Informationsresonanzen zwischen diesen Bereichen eigentlich selbstverständlich sein müssen – das Gegenteil wäre erklärungsbedürftig: die Abschottungen der genannten Realitätsbereiche voneinander.
Somit hat Thomas Gehlert mit seinem Werk etwas aufgedeckt, was wir im Alltag eigentlich kennen, nutzen und immer mal wieder staunend, aber dennoch achselzuckend registrieren: dass wir alle sowie die materiellen und organischen Kontextfaktoren um uns herum äußerst eng aufeinander bezogen, miteinander „verschränkt“ sind, dass wir mithin mehr Wissen voneinander haben als wir gemeinhin glauben. Eine sensible Introspektion, eine intuitive Selbstwahrnehmung kann daher etwas hervorbringen, was paradox erscheinen mag: Informationen über Äußeres, über Andere und Anderes. Genau das ist ein Kernphänomen von Systemaufstellungen.
Was das Buch von Gehlert so anspruchsvoll macht und seine Lektüre erschweren mag, ist in erster Linie nicht der transdisziplinäre Zugang, sondern eher, dass es drei Forschungsthemen verschränkt, die auch als eigenständige Bücher Sinn gemacht hätten: Erstens geht es um Systemaufstellungen und um ihre transdisziplinäre, insbesondere quantenphysikalische Erklärung. Hieraus hätte sicherlich eine ca. 200 Seiten starke eigenständige Monographie entstehen können. Zweitens wird die Erkenntniskraft der Intuition behandelt, mit der Systemaufstellungen arbeiten und die ebenfalls mit quantenphysikalischen Konzepten der Verschränkung materieller, organischer, psychischer und sozialer Phänomene erklärbar ist. Hierzu wäre ein eigeneständiges Buch aus dem Werk auskoppelbar. Und drittens bezieht sich das Werk auf wirtschaftswissenschaftliche Fragen der Unternehmensführung und Entscheidungsfindung, die sich mit Systemaufstellungen unterstützen lassen. Auch dazu wäre ein ca. 200 Seiten langes Buch als Ausschnitt aus der Forschungsarbeit von Thomas Gehlert denkbar gewesen.
Der Autor hat es jedoch anders entschieden: Er hat ein monumentales Werk geschaffen, in dem er selbst das macht, was er untersucht: die Verschränkung der unterschiedlichen Welten unseres Lebens.
Fazit
„System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung“ ist ein anspruchsvolles Buch, das es den Leserinnen und Lesern nicht leicht macht. Denn es ist in seinen thematischen Ausrichtungen und vielfältigen Bezügen beeindruckend breit angelegt. Der Umfang und die Tiefe der Ausführungen schaffen jedoch das, was der Autor intendiert: eine naturwissenschaftliche Erklärung zu formulieren für die Erkenntnis- und Gestaltungskraft von Systemaufstellungen. Damit ist Gehlerts Arbeit die wohl bisher überzeugendste Theorie zur wissenschaftlichen Begründung von systemischen Aufstellungen und ihrer Wirkungsweise.
[1] Vgl. dazu etwa Jochen Schweitzer u.a. (2014): Dreierlei Wirksamkeit. Die Heidelberger Studie zu Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl Auer.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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Es gibt 21 Rezensionen von Heiko Kleve.
Zitiervorschlag
Heiko Kleve. Rezension vom 25.05.2021 zu:
Thomas Gehlert: System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung. Grundlage für eine innovative Methode zur Entscheidungsfindung in der Unternehmensführung. Springer Gabler
(Wiesbaden) 2020.
ISBN 978-3-658-29166-2.
Reihe: Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Open. Research.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27983.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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