Armin Castello, Gunnar Brodersen: Unterricht und Förderung bei Depressionen
Rezensiert von Prof. Dr. Roland Stein, 21.09.2021

Armin Castello, Gunnar Brodersen: Unterricht und Förderung bei Depressionen. Psychologisches Wissen für Lehrkräfte. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2021. 120 Seiten. ISBN 978-3-8017-2980-6. 22,95 EUR. CH: 29,90 sFr.
Thema
Depressivität bei Kindern und Jugendlichen stellt – was lange Zeit angezweifelt wurde – epidemiologisch eine der verbreitetsten psychischen Problematiken in dieser Altersklasse dar. Gerade in pädagogischer Hinsicht wurde dieses Feld bisher nur sehr wenig aufgearbeitet. Gerade für Lehrkräfte und im Hinblick auf die Bemühungen um stärker inklusive Strukturen und Angebote repräsentiert das Spektrum vorübergehender und überdauernder depressiver Verstimmungen und Störungen eine erhebliche Herausforderung für schulische und unterrichtliche Arbeit. Zudem drohen internalisierende Problematiken wie Depressivität oder auch Angststörungen leicht übersehen oder nicht erkannt zu werden – und auch in der Fachliteratur finden sich, dem entsprechend, externalisierende Problematiken wie Aggressivität und Gewalt oder auch ADHS deutlich häufiger thematisiert und bearbeitet. Es besteht daher ein enormer Bedarf an Aufarbeitung, an Grundlagenwissen für pädagogische Fachkräfte sowie an Hinweisen für Unterstützung, Förderung sowie Hilfen. Damit stößt das von Armin Castello und Gunnar Brodersen hier in eine wesentliche Lücke und bereichert die vorangehenden Arbeiten des Erstautoren zu psychischen Auffälligkeiten mit der vertieften Beleuchtung eines zentralen Phänomens.
Autoren
Beide Autoren sind Psychologen und arbeiten in der Sonderpädagogik der Europa-Universität Flensburg. Prof. Dr. Amin Castello hat hier die Professur für Sonderpädagogik, Psychologie und Diagnostik inne; Dr. Gunnar Brodersen ist in dieser Abteilung als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.
Entstehungshintergrund
Das Buch, so schreiben die Verfasser in ihrer Einleitung, ist aus der Erkenntnis des „Versorgung- und Wissensmangels“ zu Depressionen im Kindes- und Jugendalter für Lehrkräfte an Schulen entstanden – mit dem Ziel, „Lehrkräfte in der alltäglichen Arbeit im Schulumfeld zu unterstützen“ (ebd., S. 9).
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in Kooperation der Autoren und unterschiedlicher Zuständigkeit in zehn Kapitel untergliedert:
- „Grundlagen: Depressivität bei Kindern und Jugendlichen“ – hier erörtert Armin Castello Formen, Symptomatologie, Prävalenz, Verläufe sowie unterschiedliche Entstehungsbedingungen.
- „Beeinträchtigungen im schulischen Alltag“ betrachtet Gunnar Brodersen – hier werden Kognition und Denkmuster, Motivation, Fähigkeitsselbstkonzept, Emotion und Lernen sowie Sozialverhalten berücksichtigt.
- „Programme zur schulischen Prävention von depressiven Episoden“ wurde ebenfalls von Gunnar Brodersen geschrieben. Hier werden zum einen einschlägige universale, zum anderen auch selektive Präventionsprogramme vorgestellt, einschließlich der Frage ihrer evaluierten Wirksamkeit.
- „Schulische Förderung bei motivationsbedingten Symptomen von Depression“, in Autorenschaft von Gunnar Brodersen, beinhaltet die Diskussion von intrinsischer und/versus extrinsischer Motivation, Attributionstrainings, Ansätze der Verhaltensaktivierung sowie weitere auf Motivation abhebende Ansätze.
- „Förderung bei kognitiven Beeinträchtigungen in Zusammenhang mit Depressionen“ wird wiederum von Armin Castello verantwortet. Hier geht es um die verbreiteten negativen Folgen für kognitive Kompetenz und Performanz im konkreten Hinblick auf Denken, Konzentration und Aufmerksamkeit sowie Merkfähigkeit und Gedächtnis.
- „Förderung realistischen Denkens im schulischen Alltag“, wiederum geschrieben von Armin Castello, geht die mit Depressivität oft verbundenen negativen bzw. dysfunktionalen Bewertungs- und Denkprozesse an und fokussiert eine schulische Förderung realistischen Denkens.
- „Self-Compassion bei Kindern und Jugendlichen mit Depressionen“, wiederum mit Armin Castello als Verfasser, beleuchtet deren Bedeutung und bezieht dies auf pädagogisches und konkreter unterrichtliches Handeln sowie ergänzend auch Möglichkeiten der psychotherapeutischen Unterstützung.
- „Schulische Förderung bei emotionsbezogenen Symptomen“, in Autorenschaft von Gunnar Brodersen, stellt verschiedene Ansatzpunkte einer entsprechenden Förderung sowie auch des Trainings vor.
- „Suizidalität bei Depressionen“ (Armin Castello), ein eng mit Depressivität verbundenes Phänomen und ernstzunehmendes Problem, wird in einem eigenen Kapitel diskutiert, zum einen bezogen auf möglichst frühzeitiges Erkennen und zum anderen im Hinblick auf schulische Suizidprävention sowie außerschulische Unterstützungsmöglichkeiten.
- „Kooperation und Kommunikation innerhalb und außerhalb des Schulumfelds“, das abschließende, von beiden Autoren gemeinsam geschriebene Kapitel, betrachtet die fünf Aspekte Kommunikation, Eltern und Familien, Kooperation innerhalb von Schule sowie mit externen Partnern – und den Umgang mit Stigmatisierung.
Die Kapitel werden jeweils mit einer knappen Zusammenfassung abgeschlossen.
Ein sehr ausführliches Verzeichnis der verarbeiteten Literatur ermöglicht weitere Recherchen, insbesondere zu den thematisierten Grundlagenarbeiten, Studien und Programmen.
Diskussion
Die Verfasser dieses Buches haben eine entscheidende Lücke pädagogischer Fachliteratur erkannt – und füllen sie ausgesprochen kompetent. Dazu bieten sie wesentliches Grundlagenwissen zu Depressivität bei Kindern und Jugendlichen, das insbesondere dem Erkennen, aber auch der differenzierteren Einschätzung entsprechender Probleme dienen kann – und damit hilft, entsprechende internalisierende Beeinträchtigungen möglichst früh zu erkennen, mit ihnen umzugehen und gezielte Maßnahmen zu ergreifen.
Über dieses Grundlagenwissen hinaus leistet das Buch dreierlei:
Erstens wird eine Fülle von potenziell hilfreichen Maßnahmen der Unterstützung und Förderung vorgestellt. Hier fokussieren die beiden Verfasser auf solche Maßnahmen, die evaluiert worden sind und als evidenzbasierte Ansätze bestimmt werden können. Dabei reicht das Spektrum von universalpräventiven bis zu selektiven Konzepten; gestreift werden auch Maßnahmen der indizierten Prävention. Eine Fülle von Programmen wird vorgestellt und im Hinblick auf ihre potenzielle Wirksamkeit hin beurteilt.
Zweitens wird das Phänomen Depressivität im Hinblick auf seine wesentlichen Komponenten und Aspekte ausdifferenziert, und es werden auch bezogen auf diese spezifischen Aspekte – Motivation, kognitive Beeinträchtigungen, dysfunktionales Denken, Self-Compassion, Emotionalität sowie Suizidalität – gezielt die damit verbundenen Probleme, aber insbesondere Maßnahmen und Programme vorgestellt und diskutiert.
Drittens und zusätzlich bereichernd ist das zehnte Hauptkapitel, in dem der Blick nochmals geweitet wird auf Möglichkeiten der Kooperation und Kommunikation im schulischen Binnensystem, aber auch unter Heranziehung außerschulischer Ressourcen und Partner.
Ergänzend zu diesen drei zentralen Leistungen sei das Kapitel zu Suizidalität hervorgehoben, welches auch zusätzlich zu und jenseits von Depressivität zu diesem gleichfalls in der pädagogischen Literatur zu wenig beleuchteten Thema Hinweise und Hilfen zu liefern vermag.
Anzumerken ist jenseits dieser systematischen, wissenschaftlich fundierten und aktuellen Aufarbeitung des gesamten Themas viererlei:
- Der Fokus auf Depressivität ist stark auf die Verankerung des Phänomens im Individuum gerichtet, wenn auch Umwelteinflüsse und auslösende Ereignisse thematisiert werden. Hier hätte das Spektrum möglicherweise noch weiter geöffnet werden können, indem auch depressive Episoden jenseits klar zu diagnostizierender Störungen noch stärker hätten thematisiert werden können, auch solcher Problematiken, die sich durch aktuelle Belastungen von Kindern und Jugendlichen (zunächst) vorübergehend ergeben. Allerdings wird dies seitens der Autoren aufgewogen durch die starke Berücksichtigung universeller und frühpräventiver Maßnahmen.
- Im Vordergrund der Betrachtung stehen recht stark kognitive und dann verhaltensbezogene Problematiken – sowie Ansätze einer gezielten Lernförderung. Emotionalität wird allerdings auch in zwei Kapiteln berücksichtig: unter 8. sowie ergänzt in den Ausführungen zu Self-Compassion in Kap. 7. Die dennoch deutlich stärkere Dominanz des Blicks auf Kognition, Verhalten und schulisches Lernen ist bezogen auf das Thema insofern bemerkenswert, als es sich ja bei Depressivität um ein Phänomen handelt, bei dem und für welches emotionale Aspekte eine zentrale Rolle spielen – schon ausgehend von der „gedrückten“ Stimmung, die hiermit häufig eng verbunden ist. Insofern hätte Gefühlen und Stimmungen ein verstärkter Blick zugewendet werden können – und des Umganges mit diesen. Dies dürfte allerdings auch der Evaluationsforschung zuzuschreiben sein, welche sich leichter damit tut, kognitive und verhaltensbezogene Aspekte zu untersuchen als emotionale – und entsprechend auch eher evidenzbasierte Programme zutage fördert, welche diese Aspekte angehen. Ketzerisch könnte man feststellen: es wird das belegt, was am leichtesten zu untersuchen ist – und genau hierauf werden dann wiederum die evaluierbaren Maßnahmen bezogen. Außen vor droht dann das zu bleiben, was eben nicht zu leicht zu evaluieren wäre und forschungsbezogen die größere Herausforderung darstellt.
- Das Ziel, evidenzbasierte Maßnahmen darzustellen, führt hier wie in anderen Publikationen zu einer Dominanz strukturierter Programme und Trainings. Jenseits davon droht die Bedeutung des pädagogischen und erzieherischen Alltags in den Hintergrund zu geraten, dem gerade in seiner Alltäglichkeit – aber auch bezogen auf den Transfer der Effekte von Trainings – eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Allerdings bieten die Verfasser auch für Fragestellungen des Alltags, jenseits der Dominanz von Trainings, durchaus eine Fülle von Hinweisen und Hilfen – besonders hervorzuheben sind hier die Kapitel zu Self-Compassion und zu Emotionalität.
- Schließlich adressiert das Buch allgemein Pädagogen und Lehrkräfte. Dies ist sinnvoll, aber es ist zu berücksichtigen, dass ein Spektrum unterschiedlicher Subexpertisen innerhalb dieser Gruppe zu bedenken wäre – von (allgemeinen) Lehrkräften über Sonderpädagogen bis hin zu solchen Sonderpädagogen, die, wenn es die Ausbildungsstruktur der Hochschulen eines Landes zulässt und vorsieht, schon eine spezifische Expertise im Feld Verhaltensstörungen bzw. dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung mitbringen. Von dieser Differenzierung ausgehend wäre auch zu fragen, welche dieser Gruppen Professioneller welche Maßnahmen im Hinblick auf ihre Grundexpertise nutzen könnte, ab wann die Unterstützungsbedarfe beginnen – und wo die Grenzen verantwortungsvollen pädagogischen Handelns im Hinblick auf den Umgang mit Depressivität jeweils liegen.
Im Hinblick auf verschiedene der vorangehenden Überlegungen ist grundsätzlich das den Blick weitende zehnte Kapitel hervorzuheben – dessen fünf Aspekte zugleich recht knapp bleiben. Hier wären zum einen eine stärkere Vertiefung (gerade im Hinblick auf inner- wie außerschulische Kooperation und Unterstützungssysteme) sowie zum anderen auch die zusätzliche Aufnahme des einen oder anderen Aspekts, etwa Fragen der problematischen wie konstruktiven Bedeutung der Peers und der Schulklasse, vorstellbar gewesen.
Fazit
Dieses Buch stellt einen ausgesprochen wesentlichen Baustein dar, um eine Lücke pädagogisch und schulisch relevanter Literatur im Hinblick auf bedeutsame psychische Störungen und Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen zu schließen. Es adressiert durchaus zu Recht die gesamte Breite von Pädagog*innen und Lehrkräften in der Praxis – und eignet sich zugleich für die Lehre an Hochschulen, in der zweiten Phase der Lehrerbildung sowie in der Fort- und Weiterbildung. Es ist systematisch aufgebaut und vermittelt wesentliche Grundlagenkenntnisse. Die thematisierten Ansatzpunkte, Konzepte und Maßnahmen vermögen mehr Fachexpertise zu Depressivität bei Kindern und Jugendlichen in die Schulen zu bringen, wenn sie mit Augenmaß eingesetzt werden – wenn Trainings gut mit Bildungs- und Erziehungsarbeit im schulischen Alltag verbunden werden und wenn Möglichkeiten entsprechender pädagogischer und unterrichtlicher Arbeit in diesem Sinne genutzt werden, bei gleichzeitigem verantwortungsvollem Augenmaß für Grenzen pädagogischer Arbeit und für eine gute und gezielte Vernetzung mit anderen Professionen sowie entsprechenden Unterstützungssystemen: Psychologie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie.
In diesem Sinne sei es für pädagogische Handlungsfelder in Praxis und Wissenschaft sehr empfohlen.
Rezension von
Prof. Dr. Roland Stein
Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik - Pädagogik bei Verhaltensstörungen
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