Carmen Birkholz, Yvonne Knedlik (Hrsg.): Teilhabe bis zum Lebensende
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 27.04.2021

Carmen Birkholz, Yvonne Knedlik (Hrsg.): Teilhabe bis zum Lebensende. Palliative Care gestalten mit Menschen mit geistiger Behinderung. Lebenshilfe-Verlag (Marburg) 2020. 310 Seiten. ISBN 978-3-88617-325-9. D: 19,50 EUR, A: 20,10 EUR, CH: 24,00 sFr.
Thema
Alter, schwere Erkrankungen und Sterben gehören mittlerweile auch für Menschen mit Behinderungen in selbstverständlicher Weise zum Leben. Diesen wichtigen Themen müssen sich die Palliative Care und Begleitung in Hospizen stellen. Der Fokus richtet sich dabei auf die Betroffenen selber, auf die Angehörigen, aber auch auf haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende. Dies muss in besonderer Aufmerksamkeit geschehen, gut 70 Jahre nach den „Euthanasie“-Morden im Faschismus.
Einen möglichen Weg beschritt ein von der Robert Bosch Stiftung gefördertes Projekt der Lebenshilfe Oberhausen mit dem Titel „Palliative Praxis gestalten mit Menschen mit geistiger Behinderung“. Lebendig wurde in einem gemeinschaftlichen Prozess eine palliative Kultur entwickelt. Beachtet wurde, dass Sterbebegleitung organisiert werden muss und den Aufbau vernetzter Strukturen braucht. Sie kann die mehr werdenden professionalisierten Angebote des Gesundheitswesens nutzen, „lebt aber auch zugleich von Nähe und Freundschaft, dem Blick des Herzens“ (Klappentext).
AutorIn oder HerausgeberIn
Herausgebende sind Carmen Birkholz und Yvonne Knedlik, sie und viele weitere Protagonisten haben an dem Buch mitgewirkt (Liste S. 283–290).
Carmen B. Birkholz arbeitet und forscht in ihrem Institut für Lebensbegleitung in Essen. Ihre fachlichen Schwerpunkte sind Spiritualität, Spiritual Care, Trauer, Palliative Care und Sorgekultur. Seit 2004 ist sie als freiberufliche Theologin, als Palliative-Care Trainerin und Trauerbegleiterin tätig.
Yvonne Knedlik ist Sozialpädagogin und Leiterin einer Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung der Lebenshilfe gGmbH in Oberhausen und schult zudem Mitarbeitende zu den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Behinderung am Lebensende.
Entstehungshintergrund
Die Lebenshilfe Oberhausen hat das Projekt durch Fördermittel der Robert Bosch Stiftung durchgeführt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist im Lebenshilfe Verlag erschienen und hat einen Umfang von 310 Seiten, die sich in acht Kapitel und zahlreiche Unterkapitel gliedern. Unter den Kapitelüberschriften finden sich einzelne Artikel von verschiedene Autorinnen und Autoren, die am Ende des Buches im Autor*innen-Verzeichnis vorgestellt werden. An den oberen Rändern sind die jeweiligen Abschnittsüberschriften abgedruckt. Fallbeispiele heben sich farblich vom Fließtext ab. Zahlreiche Abbildungen und Farbfotos lockern auf, leider sind sie nicht fortlaufend durchnummeriert. Im Anhang finden sich ein Flyer zum Palliativfachtag und ein Plakat sowie eine Erklärung zu Ausdrucksmöglichkeiten für schwere und auch leichte Gefühle und eine dazu passende Liste. Vorhanden sind auch ein Fragebogen für Angehörige, ein Fragebogen für Bewohner*innen sowie ein Fragebogen für Mitarbeitende. Jedes Unterkapitel beginnt mit Erläuterungen in Leichter Sprache, daran schließen sich Ausführungen in schwerer Sprache an.
Inhalt
Eine ausführliche Einleitung, Gleitworte und Danksagungen bilden den Auftakt des Buches.
Daran anschließend wird eine Verbindung der Geschichte der Behindertenhilfe und der Hospiz- und Palliativbewegung hergestellt. Grundlage ist das Beispiel von Herr B, der Mitglied im Steuerungskreis des Projektes war und vieles von dem, was dort geredet wurde, nicht verstanden hat. Neben ihm werden noch weitere Fallbeispiele aufgenommen. Das Kapitel endet mit einem Blick in die Geschichte und der Darstellung der jüngsten Entwicklungen in Palliative Care für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Kontext der Geschichte der Hospizbewegung.
Um die palliative Praxis mit Menschen mit geistiger Behinderung zu gestalten braucht es Antworten auf die Frage, was Menschen am Ende ihres Lebens möchten, denn es darf nicht bei einer Sterbebegleitung ‚aus Versehen‘ bleiben. Einstieg bilden ein Fragebogen und daraus abgeleitete Schwerpunkte (S. 63–68) an die Teilnehmenden des Projektes (Bewohner*innen, Angehörige und Mitarbeitende), um Erfahrungen, Bedürfnisse und Ziele in Bezug auf das Projekt zu ermitteln. Vertiefend wird an dieser Stelle das Alter(n) und Sterben von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung aus der Forschung betrachtet. Im Abschnitt „Hospiz bewegt“ wird es praktischer: Vorgestellt wird die „hospiz-initiative Kiel e.V.“, die den Schwerpunkt ihrer ambulanten Arbeit in der Sterbe-und Trauerbegleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen legt. Am Beispiel von Herrn M. und Frau P. werden diese erläutert. Das Kapitel schließt mit Gedanken zum Leben, Sterben, Tod und Trauer im Wohnheim auf der Grundlage von Erfahrungen aus dem Forscher*innenteam PiCarDi-U (2017-2020). Die Abkürzung steht für „Palliative Care und hospizliche Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung“ (S. 97).
Kapitel vier Trauer und Begleitung am Lebensende befasst sich mit der Trauer von Menschen mit geistiger Behinderung als Herausforderung für die Trauerforschung. Es gilt herauszufinden, was die Person erlebt hat und welche Erfahrungen sie der Welt mitteilen möchte. Der Umgang mit geteilter Trauer zeigt Mitarbeitenden auf, das diese beruflichen Routinen aufbricht, mit Wirkung auf die eigene Person.
Eine gesundheitliche Versorgungsplanung ist Teil des neuen Hospiz- und Palliativgesetzes (Kapitel fünf), dabei geht es im Besonderen um Verfügungen für das Lebens(-ende). Erläutert wird der Prozess der sog. „Sorgeverfügung“ (S. 146), mit der Selbstbestimmung ein Leben lang gelingen kann. Die Sorgeverfügung sollte möglichst anschaulich sein, denn anschauliches kann leichter entschieden werden. Bewährt hat sich ein Methodenkoffer mit anschaulichen und sinnlichen Materialien. Durch visuelle Methoden können so Inhalte be-greifbar gemacht werden. Mit einem Koffer verbindet man Reise und Neugierde, er nimmt die Angst. Der Prozess dahin bedarf der Vorbereitung und Gespräche über das Leben und den Tod, hier spielen z.B. die Hausärzt*innen eine wichtige Rolle. Gesundheitliche Sorge ist ein Prozess, der fortlaufend zu dokumentieren ist. Auf den Seiten 161 und 162 findet sich eine Zusammenfassung der „Aspekte einer prozesshaften Sorgeverfügung als dokumentierter aktueller Wille“. Das Kapitel schließt mit ersten Erfahrungen einer Beraterin für die Gesundheitliche Versorgungsplanung in der Eingliederungshilfe Anika Hülff. Zu einzelnen Erklärungen sind in Textboxen O-Töne von Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer letzten Lebensphase zitiert wie z.B. „Meine Bibel soll mit in den Sarg gelegt werden. Und meine Puppe“ oder „Ich habe Angst vor Maschinen. Und Operationen“ (S. 177–179).
Die lebensweltliche Perspektiven und Perspektiven des Lebens in Bezug auf den Aspekt der ärztlichen Behandlung von Menschen mit geistigen Behinderungen am Ende des Lebens steht im Mittelpunkt dieses Kapitels, auch hier bedarf es der Selbstbestimmung und Teilhabe. Ein weiterer Aspekt ist die Übernahme von Verantwortung. Besprochen werden auch lebensweltliche Aspekte von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz. Auch die Perspektive der Geschwister hat ihren Platz. Das Kapitel endet mit der spirituellen Sorge als Gestaltung von Teilhabe an den Grenzen des Lebens.
Das siebte Kapitel stellt die Teilhabe in palliativer Praxis in seinen Mittelpunkt. Konkret wird über Erfahrungen aus einem Vernetzungsworkshops berichtet. Dabei blicken Expert*innen zurück und auch in die Zukunft. Zum Beispiel berichtet eine Mutter davon, dass sie nun weiß, dass ihre Tochter „bis zum Schluss“ gut aufgehoben ist oder ein Geschwister weiß, dass der Bruder gut begleitet wird.
Diskussion
Sterbebegleitung von Menschen, die unter den Bedingungen einer geistigen Beeinträchtigung leben, braucht den Aufbau von vernetzten Strukturen mit dem Ziel, auch zunehmend professionale Angebote des Gesundheitswesens zu nutzen.
Das vorliegende Buch dokumentiert den Prozess im Projekt „Palliative Praxis gestalten mit Menschen mit geistiger Behinderung“, teilt Erfahrungen, Reflexionen und kritische Impulse und will zur Diskussion und Vernetzung einladen. Neben den Akteur*innen im Projekt wurden auch Autor*innen gewonnen, die als Expertinnen und Experten der eigenen Erfahrung im Leben mit geistiger Behinderung – als Angehörige, als Mitarbeitende und Wissenschaftler*innen in Forschung und Lehre das Buch auf sehr vielfältige Weise bereicherten.
Grundlage aller einzelner Artikel ist die Leitfrage: „Wie kann Teilhabe für und mit Menschen mit Behinderungen gelingen – auch am Lebensende?“(S. 18). Maßgeblich ist die Haltung, dass die Lebenswelt des individuellen Menschen Ausgangspunkt für seine Begleitung ist, das gilt natürlich auch für Menschen mit Behinderung. Diese wird nicht als individuell-persönliche Eigenschaft begriffen, sondern als Resultat einer Wechselwirkung zwischen Umwelt- und Kontextfaktoren und Gesundheitsbedingungen von Menschen (wie im sechsten Kapitel thematisiert).
Menschen mit Beeinträchtigungen benötigen nichts wesentlich anderes als alle anderen Menschen, allerdings müssen die „Erfahrung- und Vermittlungswege“ (S. 19) ihnen entsprechend sein. Das Beispiel mit dem Methodenkoffer gibt Einblicke.
Das Projekt der Robert Bosch Stiftung ist nicht das einzige, das im Buch beschrieben wird. Kurz vorgestellt wird auch die „hospiz-initiative Kiel e.V.“, die den Schwerpunkt ihrer ambulanten Arbeit in der Sterbe-und Trauerbegleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen legt. Auf S. 91 findet sich eine Übersicht über Umfang und Tiefe des Projektes hospizINKLUSIV aus den Jahren 2016–2019, die einen guten Überblick über das Ziel, die einzelnen Arbeitsfelder sowie einen Ausblick in Bezug auf drei Schwerpunkte gibt: Qualifizierung, Umsetzung und Inklusive Trauerberatung. Einen eigenen Artikel gibt es zudem zum Forschungsprojekt PiCarDi-U aus den Jahren 2017–2020, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde.
Seit 2015 gilt das neue Hospiz- und Palliativgesetz, das die gesundheitliche Versorgungsplanung regelt. Es vermittelt einen hohen Anspruch, allerdings werden nur geringe Ressourcen vom Gesetzgeber und Krankenkassen bereitgestellt. Für die gesetzliche Beratungsleistung wird ein Stellenanteil von 1:400 (gesetzlich) Versicherten gefördert, Privatversicherte müssen sich selber mit ihrer Krankenkasse abstimmen. Auf das untersuchte Wohnhaus umgerechnet bedeutet dieser Schlüssel 2,9 Wochenstunden bei einer 39 Stunden Vollzeitstelle, zugegeben eine Verkürzung der Komplexität der Prozesse, aber die Rechnung macht deutlich, dass diese Kostenerstattung keine angemessene Grundlage für diese vielschichtigen Prozesse sind. Dazu kommt die Dokumentation, die eine gute Grundlage für schriftliche Verfügungen darstellt. Auch der Prozess dahin bedarf der Vorbereitung und Gesprächen über das Leben und den Tod. Materialien zur barrierefreien Kommunikation liegen derzeit kaum vor, sie müssen häufig von den Einrichtungen individuell entwickelt werden. Hier wird auf die „Zukunftsplanung am Lebensende“ verwiesen, die 2015 beim lighthouse e.V. in Bonn entwickelt wurde. Neben den Materialien braucht es ein Gesamtkonzept der Einrichtung hin zu einer Hospiz- und Palliativkultur innerhalb dieser und natürlich auch die Zusammenarbeit mit regionalen Leistungserbringern wie Rettungskräften, Notärzt*innen und Krankenhäusern (externe Vernetzung) (S. 150).
Im Buch wurde durchgehend gendergerechte Sprache benutzt. Ziel ist, alle Menschen anzusprechen, dies wird auf der Seite 97 in leichter Sprache erklärt.
Fazit
Alter, schwere Erkrankungen und Sterben gehören mittlerweile auch für Menschen mit Behinderungen in selbstverständlicher Weise zum Leben. Diesem wichtigen Thema müssen sich die Palliative Care und Begleitung in Hospizen stellen. Der Fokus muss sich dabei auf die Betroffenen selber, auf die Angehörigen aber auch auf haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende richten, gerade auch in besonderer Aufmerksamkeit, gut 70 Jahre nach den „Euthanasie“-Morden im Faschismus.
Die Robert Bosch Stiftung förderte das Projekt „Palliative Praxis gestalten mit Menschen mit geistiger Behinderung“, der Lebenshilfe in Oberhausen. Lebendig und mit hohem Zeitaufwand wurde gemeinsam eine palliative Kultur entwickelt, die von Nähe und Freundschaft und dem Blick des Herzens gekennzeichnet ist.
Jedes Unterkapitel beginnt mit Erläuterungen in Leichter Sprache, daran schließen sich Ausführungen in schwerer Sprache an. Zahlreiche Bilder, O-Töne und Fallbeispiele machen die Inhalte anschaulich und nachvollziehbar. Betroffene sind beteiligt, sie sitzen in Steuerungsgruppen und bringen sich durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse ein. Hervorzuheben auch: Das Buch hat über 300 Seiten und ist für 20 EUR zu haben.
Dokumentiert wird der Prozess, es werden Erfahrungen, Reflexionen und kritische Impulse vermittelt und es wird dabei auch zur Diskussion und Vernetzung eingeladen. Die Bandbreite von Leichter Sprache bis zu wissenschaftlichen Texten spricht eine breite Zielgruppe an und macht es zu einem inklusiven Buch. Im Anhang finden sich konkrete Materialien wie z.B. eine Liste der Ausdruckmöglichkeiten für schwere und leichte Gefühle mittels Bewegungserfahrungen, Naturerfahrungen oder Materialerfahrungen.
Ich schließe mich der Aussage an: Menschen mit Beeinträchtigungen benötigen nichts wesentlich anderes als alle anderen Menschen, allerdings müssen die Erfahrung- und Vermittlungswege ihnen entsprechend sein.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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