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Johannes Icking: Menschenrechte als Teilhaberechte

Rezensiert von Prof. Dr. Joël B. Münch, 29.04.2022

Cover Johannes Icking: Menschenrechte als Teilhaberechte ISBN 978-3-8487-7035-9

Johannes Icking: Menschenrechte als Teilhaberechte an politischen Gesellschaften. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 290 Seiten. ISBN 978-3-8487-7035-9. 64,00 EUR.

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Thema

Im Spannungsfeld von Recht und Politik untersucht der Autor die Menschenrechte als Teilhaberechte an politischen Gesellschaften. Ausgangspunkt ist zunächst die Frage nach der Bedeutung, ein Recht zu haben, zu deren Beantwortung sich eine Untersuchung der Menschenrechtstheorien anschließt. Icking kommt zu dem Ergebnis, dass die bestehenden Menschenrechtstheorien zu eng gefasst sind und wesentliche Verwendungen des Konzepts nicht erklären können. Über die Analyse der den Menschenrechten korrelierenden Pflichten kommt Icking dann zu der politischen Konzeption der Menschenrechte. Auf der Begründung der Grundfreiheiten von Kant und Rawl aufbauend entwickelt der Autor sodann anhand bestehender Ansätze einen eigenen Vorschlag, Menschenrechte als universelle Teilhaberechte an politischen Gesellschaften zu verstehen.

Autor

Johannes Icking ist seit 2019 Referent für Menschenrechte bei Brot für die Welt und setzt sich hier insbesondere für den Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen ein. Zuvor hat er seit 2013 für das Aktionsbündnis Menschenrechte – Philippinen (AMP) die Advocacy-Arbeit zu dem südostasiatischen Land koordiniert. Der promovierte Politikwissenschaftler hat außerdem zu den philosophischen Grundlagen der Menschenrechte geforscht und hat einen Master in Human Rights.

Das Werk ist aus der Dissertationsschrift des Autors an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften im Jahr 2020 hervorgegangen.

Aufbau

Icking gliedert sein Werk nach der Einleitung in zehn Kapitel und schließt mit einem Fazit, wobei Kapitel 1 – 5 den ersten Teil und Kapitel 6 bis 10 den zweiten Teil bilden. Kapitel 1 ist der Ausgangsfrage nach der Bedeutung, ein Recht zu haben, gewidmet. In Kapitel 2 bis 4 untersucht der Autor den naturalistischen, den statusbasierten und den interessenbasierten Menschenrechtsansatz. Nach der Analyse der den Menschenrechten korrelierenden Pflichten in Kapitel 5 folgt die Betrachtung der politischen Menschenrechtskonzeption in Kapitel 6 sowie die Konzeption der Grundfreiheiten von Kant in Kapitel 7 und Rawl in Kapitel 8. In Kapitel 9 entwickelt Icking anhand bestehender Ansätze seinen Vorschlag von Menschenrechten als universellen Teilhaberechten an politischen Gesellschaften. Die wissenschaftliche Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung in Kapitel 10 und einem Fazit, in dem der Autor seinen Vorschlag als Weiterentwicklung der von ihm untersuchten Theorien im Spannungsfeld von Recht und Politik präsentiert.

Inhalt

Für die Beantwortung der Ausgangsfrage, was es bedeutet, ein Recht zu haben, zieht Icking zunächst die Willens- und Interessenstheorien heran. Nach der u.a. von Hart und Steiner vertretenen Willenstheorie haben Rechte die Funktion, dem Rechteinhaber Entscheidungsmacht über die Handlung des Verpflichteten zu geben. Nach der u.a. von Bentham vertretenen Interessentheorie soll die Funktion der Rechte darin liegen, dass der Rechteinhaber durch das Recht profitiert, Rechte danach also moralisch oder legal geschützte Interessen sind.

Gegen beide Theorien wird in der Literatur eingewandt, sie seien zu eng gefasst und könnten die wesentliche Verwendung des Konzepts nicht erklären. Trotz der als revisionistisch eingestuften Theorien, denen es bis heute nicht gelungen ist, ihre Erklärungsreichweite zu vergrößern, leisten diese Theorien nach Icking ihren Beitrag für das Verständnis der Menschenrechte. Dabei hält Icking die Interessentheorie für die plausiblere Theorie, weil sie Menschen nicht ausschließt, die keinen oder nur eingeschränkt einen eigenen Willen bilden können.

Da die interessenbasierten Theorien Menschenrechte nur instrumentell begründen können, stellt Icking folgerichtig die Frage nach den korrelierenden Pflichten und untersucht dazu die beiden von ihm als wesentlich identifizierten konkurrierenden Modelle von Raz und Hohfeld. Nach Raz begründet zunächst das Interesse das Recht und dann das Recht die Pflicht. Nach Hohfeld begründet das Interesse eine Rechte-Pflichten-Beziehung, wodurch Rechte und Pflichten gleichzeitig entstehen.

Die Literatur hält der strengen Korrelation von Rechten und Pflichten entgegen, dass diese nicht mit der Begründungsfunktion von Rechten vereinbar sei. Demnach müssten Pflichten denklogisch immer erst Rechte vorgehen, weil ohne Rechte keine Pflichten entstehen könnten. Dabei handelt es sich nach Icking aber nicht um einen Widerspruch, sondern nur um ein unterschiedliches Verständnis des Begriffs vom Recht. Allerdings unterscheiden sich die beiden Ansätze darüber hinaus. Nach Hohfeld entstehen Rechte erst dann, wenn eine Rechte-Pflichten-Beziehung besteht, weil nur so ein Recht seine normative Funktion erfüllen kann. Demgegenüber können nach Raz Rechte auch imperfekt sein, indem sie keine Pflicht konkretisieren.

Allen Menschenrechtstheorien liegt nach Icking das gemeinsame Verständnis zugrunde, dass Menschenrechte moralische Rechte sind, die jeder Mensch schon allein wegen seines Menschseins besitzt. Diesem traditionellen Verständnis fehlt jedoch der in der jüngeren Literatur zunehmend aufkommende Aspekt eines genuin politischen Charakters der Menschenrechte.

Überraschenderweise war es Rawls selbst, der sich 2002 gegen die globale Anwendung des von ihm entwickelten und vertretenen Differenzprinzips distributiver Gerechtigkeit zugunsten einer schwächeren Unterstützungspflicht für belastete Gesellschaften wendet und für eine Liste der Menschenrechte argumentiert, die allerdings wesentlich kürzer ist als die der Grundfreiheiten.

Die Kritiker dieser neuen Überlegungen von Rawls übersehen nach Icking jedoch, dass es Rawls dabei nicht um eine Verkürzung der Menschenrechte, sondern um die Funktion der Menschenrechte als Legitimationskriterien im internationalen System, also für das Verhalten zwischen Staaten und damit um ein politisches Verständnis der Menschenrechte, geht.

Während für die naturalistischen Theorien die Menschenrechte vorstaatlich und vorpolitisch sind, stellen Menschenrechte nach den politischen Konzeptionen Ansprüche von Individuen gegen zwangsbewehrte soziale Ordnungen und Institutionen dar. Hier zeigt Icking auf der Grundlage der Überlegungen von Kant, dass das Verhältnis von Rechten und ihrer Erzwingung nicht nur instrumentell, sondern konstitutiv verstanden werden kann.

Um das Legitimationsproblem der Doktrin von Kant zu überwinden, wonach nur der Staat eine legitime Rechtsordnung schaffen und selbst nicht durch Recht gebunden werden kann, können Menschenrechte als Mitgliedschaftsrechte verstanden werden, wie Cohen das 2004 vorgeschlagen hatte. Icking interpretiert diese normative Idee der Mitgliedschaft in einer Gesellschaft mit Rawls' Theorie des politischen Liberalismus als Theorie der Mitgliedschaft der Bürger in einer demokratischen Gesellschaft.

Auf dieser Grundlage entwickelt Icking nun seinen Lösungsansatz des politischen Problems, wie Menschen, die unfreiwillig in einer politischen Gesellschaft mit diversen und teilweise unvereinbaren Vorstellungen des Guten zusammenleben, so zusammenleben, dass es allen gegenüber gerechtfertigt werden kann. Diese Frage beantwortet Icking damit, dass Menschenrechte die universelle Antwort auf das universelle Problem des Zusammenlebens von Menschen in politischen Gesellschaften sind.

Da Rechte Konflikte lösen, ohne die zugrundeliegenden Meinungsverschiedenheiten oder kollidierenden Interessen konsensual auflösen zu müssen, bedarf es einer kollektiven Rechtsbestimmung und Rechtsdurchsetzung. Diese Bindung von Rechten an den sozialen Kontext staatlicher Herrschaft steht einem modernen Menschenrechtsverständnis dann nicht die Legitimität beschränkend entgegen, wenn man mit Icking Menschenrechte als vorstaatlich aber nicht vorpolitisch und damit als Teilhaberechte an politischen Gesellschaften begreift.

Diskussion

Der Titel der Arbeit ist ambitioniert und lässt vom Autor nicht nur eine grundlegende Aufarbeitung der bestehenden Menschenrechtstheorien, sondern auch einen eigenen neuen Ansatz vom Autor erwarten.

Der Aufbau der Arbeit folgt einer klassischen Gliederung von der Darstellung der bestehenden Menschenrechtstheorien und der Konzeption der Grundfreiheiten, woraus Icking seinen Lösungsvorschlag entwickelt.

Die Darstellung der bestehenden Menschenrechtstheorien darf als Fleißarbeit bezeichnet werden. Hier überzeugt die klare und sachliche Besprechung der naturalistischen und der politischen Menschenrechtskonzeptionen. Aus der analytischen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Literaturmeinungen ihrer jeweiligen Vertreter arbeitet Icking sehr genau die Argumente heraus, die von den Vertretern der jeweiligen Menschenrechtstheorien für die eigene und gegen die andere Theorie sprechen. Dies gilt auch für die Gegenüberstellung von Menschenrechten und Pflichten. Auf dieser wissenschaftlichen Grundlage führt der Autor den Leser in die Konzeption der Grundfreiheiten ein, deren als Legitimationsproblem erkanntes Dilemma er präzise herausarbeitet und löst.

Dabei positioniert sich Icking selbst nicht für oder gegen eine der von ihm diskutierten Meinungen; er muss es auch nicht. Auf dem Boden seiner wissenschaftlichen Bestandsaufnahme gelingt Icking ein eigener Vorschlag, der auf den bestehenden Theorien aufbauend über diese hinausgeht.

Fazit

Mit „Menschenrechte als Teilhabe an politischen Gesellschaften“ legt der Autor Johannes Icking eine dogmatische Grundlagenarbeit vor, die diesem Anspruch gerecht wird. Das Werk bietet einen gelungenen Überblick über die bestehenden Menschenrechtstheorien und ist schon deshalb lesenswert. Darüber hinaus wartet der Autor mit einem eigenen, überzeugenden Lösungsansatz auf. Sein Plädoyer Menschenrechte nicht auf das staatliche System ihrer jeweiligen Durchsetzung zu reduzieren, sondern unter Wahrung des politischen Diskurs vorstaatlich zu begreifen ist auf dem Stand der Zeit.

Rezension von
Prof. Dr. Joël B. Münch
Fakultät für Soziale Arbeit Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Es gibt 1 Rezension von Joël B. Münch.

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Zitiervorschlag
Joël B. Münch. Rezension vom 29.04.2022 zu: Johannes Icking: Menschenrechte als Teilhaberechte an politischen Gesellschaften. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. ISBN 978-3-8487-7035-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28010.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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