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Georg Theunissen: Behindertenarbeit vom Menschen aus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 23.04.2021

Cover Georg Theunissen: Behindertenarbeit vom Menschen aus ISBN 978-3-7841-3159-7

Georg Theunissen: Behindertenarbeit vom Menschen aus. Unterstützungssysteme und Assistenzleistungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2020. 306 Seiten. ISBN 978-3-7841-3159-7. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thema

Es werden Wege einer Behindertenarbeit vom Menschen aus aufgezeigt, die sich auf Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und komplexen Behinderungen beziehen. „Der personenzentrierte Ansatz knüpft ausgehend von den „Betroffenen“ (Empowerment) an Konzepten und methodischen Instrumenten der Gemeinwesenarbeit, der Lebensweltorientierung sowie der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit an, um Inklusion und Partizipation (Teilhabe) zu ermöglichen“(Klappentext). Im Mittelpunkt stehen Personen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen auf kognitiver, motorischer, sensorischer, emotionaler und sozialer Ebene eine entsprechende ressourcenorientierte Unterstützung zur Verwirklichung des menschlichen Lebens benötigen.

Autor

Georg Theunissen ist Diplom-Pädagoge und Heilpädagoge, Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus am Institut für Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Aufbau

Das Buch ist im Softcover Format klimaneutral gedruckt und hat einen Umfang von 306 Seiten, die sich in fünf Kapitel und zahlreiche Unterkapitel aufgliedern. Am oberen linken Seitenrand ist die Kapitelüberschrift abgedruckt, auf dem rechten oberen Seitenrand findet sich die Zwischenüberschrift. Die Seiten sind eng beschrieben, Fallbeispiele heben sich durch eine farbliche Kennzeichnung vom Fließtext ab. Verwendete Fußnoten befinden sich auf der jeweiligen Seite, was zwar mühsames hin und her blättern erspart, durch die Auswahl der sehr kleinen Schriftart sind sie aber schwer zu lesen.

Inhalt

Einstieg in das Thema bildet die Geschichte der Institutionalisierung behinderter Menschen von der Spätantike, über das Mittelalter (behinderte Menschen als „Wechselbälge)“, hin zum Absolutismus (Zeitalter der Repression durch Foltermethoden), über das 19. Jahrhundert (Anfänge der Psychiatrie und Ausbau des Anstaltswesen) bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus, in der zwischen „Heilbaren“ und „Unheilbaren“ differenziert wurde. Diese Betrachtung endet mit der Nachkriegszeit. Hier schließt sich ein Exkurs mit dem Titel „Die Symptome des traditionellen psychiatrischen Modells“ an, in dem die Verbindung von Enthospitalisierung und Integration sowie Normalisierung und De-Institutionalisierung reflektiert werden. Mittels eines Beispiels aus der Praxis zieht Theunissen Bilanz und eröffnet Perspektiven für eine lebensweltbezogene Behindertenarbeit.

Kapitel 2 handelt von der Deinstitutionalisierung zur Lebenswelt- und Sozialraumorientierung. Da in Deutschland die Institutionalisierung kaum in Frage gestellt wurde fand das Normalisierungsprinzip auch keinen guten Nährboden. Der Autor nennt fünf Gründe dafür. Selbstvertretungsgruppen organisierten sich und forderten Abhilfe, diese Forderungen fanden zunehmend Gehör. Angelehnt an die US amerikanische Bürgerrechtsbewegung wird der Begriff des Empowerment verwendet, dieser Terminus wird im allgemein mit Selbstbemächtigung übersetzt. Der Autor zitiert Thompson, der vier Zugänge über den Begriffsteil „power“ im Sinne von Macht, Kraft und Stärke herausarbeitet:

  1. „power from within“, als eine Kraft und Stärke, die von der Person und ihren individuellen Ressourcen ausgeht,
  2. „power over“, die ungleiche Machtverhältnisse reflektiert,
  3. „power with“ im Sinne von „gemeinsam sind wir stark“ als soziale Ressource,
  4. „power to“ diese Form ist Hinweis auf die professionelle Aufgabe, Menschen zu starken Persönlichkeiten zu befähigen (S. 65/66).

Von dieser Basis ausgehend lässt sich die Stärken-Perspektive und Wertebasis begründen, die den Menschen mit Beeinträchtigung nicht mehr von seinen Defiziten her betrachtet, sondern von seinen Stärken und Fähigkeiten. Leider hat dieser Paradigmenwechsel sich nur langsam durchgesetzt, Deutschland ist, was die Wahl des Wohnortes von Menschen mit Beeinträchtigungen angeht, immer noch Schlusslicht.

Über Ausführungen zur UN Behindertenrechtskonvention und der Forderung nach Integration kommt Theunissen zur Inklusion. Er sieht es als wichtige Aufgabe an, wachsam zu sein und darauf zu achten, dass Inklusion nicht zum euphemistischen Schlagwort wird, ohne Interesse für die Belange und Rechte von behinderten Menschen. Sein Hinweis: Der Index für Inklusion gibt die Möglichkeit, die Inklusionstauglichkeit einer Stadt oder eines Landkreises anhand von Kriterien zu prüfen und zudem gibt er Anregungen für die handlungspraktische Ebene einer lebensweltbezogenen Behindertenarbeit und Sozialraumorientierung. Lebenswelt wird als subjektbezogene Kategorie definiert. Theunissen verweist auf Kraus, der zwischen Lebenswelt und Lebensbedingungen oder wie er es auch nennt „Lebenslagen“ differenziert (S. 89). Immer noch werden die Begriffe „Lebenswelt“ und „Lebensweltorientierung“ häufig mit dem Begriff „Alltag“ oder „Alltagsorientierung“ synonym verwendet, das ist sehr kritisch zu sehen, weil es zu einer konzeptionellen Verkürzung führt (S. 91).

Der Autor versteht Lebenswelt im Plural und erläutert seinen Ansatz in Bezug auf vier Bereiche: Mikrosystem, Mesosystem, Exosystem und Makrosystem (S. 94). Diese Bereiche stecken den Rahmen für die Leitprinzipien wie Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung, Respekt, Vertrauen, Subjektzentrierung, Partizipation, politische Einmischung, Prävention, Ressourcenorientierung und -aktivierung, Regionalisierung und Dezentralisierung und Vernetzung. Das Kapitel schließt mit dem Ansatz der „Sozialraumorientierung“. Das Persönliche Budget und die Sozialraumorientierung befinden sich in einem Spannungsfeld, der Autor erläutert dieses anhand von zwei Handlungsebenen: der subjektzentrierten Ebene und der lebensraumbezogenen Ebene (S. 115–125). Das Kapitel endet mit einer Schlussbemerkung und einem ausführlichen Fallbeispiel.

Im dritten Kapitel stellt der Autor die Behindertenarbeit vom Menschen aus am Beispiel Kalifornien (USA) vor. Skizziert werden das „Regional Centers (RC)“ und das „Tierra del Sol Foundation (TdSF)“ in Bezug auf die historische Perspektive und die Darstellung von Angeboten, die sehr fortschrittlich sind, in diesem Zusammenhang werden die Konzepte der Non Profit Organisation „Jay Nolan Community Services“ und des „Art Centers“ vorgestellt, letzteres kennen wir von der Struktur her als sog. tagesstrukturierende Angebote. Deren Aufgabe liegt darin, Menschen -wenn sie es wollen- möglichst wohnortnah in einem Art Center zu integrieren.

Anhand von drei institutionellen Beispielen wird beschrieben, wie es gelingen kann, inklusives Arbeiten zu unterstützen: die Able ARTS Work, die First Street Gallery Art Center der Tierra del Sol Foundation (TdSF) und das Art Center der Exceptional Children's Foundation (ECF). Nach der Beschreibung zieht Theunissen ein Resümee in neun Punkten (S. 179) in Bezug auf den Lebensweltbezug und die Sozialraumorientierung, welche er wiederum an einem Beispiel aus der Praxis herausarbeitet. Unter den im Resümee genannten neun Punkten findet sich der Hinweis auf die Verzahnung von professionellen niedrigschwelligen Angeboten, künstlerischen Angeboten und dem Engagement von Freiwilligen-Organisationen. Das Kapitel endet mit einem Vergleich Deutschland-USA. Allein in Kalifornien gibt es 90 Selbstvertretungsgruppen z.B. people first für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie sind überregional vernetzt und in „Self Advocates Becoming Empowered“ (SABE) zusammengeschlossen und feierten 2010 schon ihr 20 jähriges Bestehen. Empowerment gilt als wichtigster Wegweiser ihrer Arbeit, die sich in drei Schwerpunkten bündeln lässt:

  1. durch eine selbstorganisierte Bildung, Schulung und Befähigung,
  2. durch Selbstvertretung, politische Arbeit und Einflussnahme und
  3. durch Selbsthilfe, Selbstberatung und gegenseitige Unterstützung.

„Um gesellschaftliche Inklusion mehr als nur theoretisch zu verwirklichen, d.h. mit Leben zu füllen, ist es grundsätzlich wichtig, eine Bürgerzentrierung ins Visier zu nehmen, die die Förderung informeller Netzwerke durch nichtbehinderte Bürger*innen wie z.B. Nachbarschaftshilfe, Angehörigengruppen oder Freiwilligenengagement in den Blick nehmen, dazu gehört aber auch freiwilliges Engagement von Menschen mir Beeinträchtigungen. Fehlt eine soziale nachbarschaftliche Einbindung bei unzureichender alltäglicher Unterstützung von behinderten Menschen – so zeigen Erfahrungen- kann es bei Deinstitutionalisierungsprozessen zu Verwahrlosung bis hin zu Todesfällen kommen (S. 186). Das Engagement Freiwilliger wird begrüßt, es ist allerdings zu beachten, dass diese nicht als Möglichkeit der Kostenersparnis gesehen wird. Es wird weiterhin der Einsatz von professionellen Fachkräfte und Qualitätsstandards gebraucht. Das „volunteering“ (S. 188) in Deutschland steckt im Vergleich zu den USA noch in den Kinderschuhen. Dort wird vertraglich geregelt von Behindertenorganisationen Werbung an Hochschulen gemacht, sodass immer wieder neue freiwillige Helfende rekrutiert werden können. Ich stimme zu: Deutschland hat einen Bedarf an dieser Bewusstseinsbildung bei der Bevölkerung (S. 188).

Einen weiteren Einblick gibt Theunissen in Unterstützungssysteme und personenzentriertes Arbeiten in Bezug auf Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und schwerwiegendem herausfordernden Verhalten. Dieser Personenkreis lebt nicht selten in einer „totalen Institution“. Theunissen zeigt Alternativen zum Leben in einer „totalen Institution“ auf. Möglichkeiten bieten sog. Konsulentendienste oder Angebote der Prävention durch geeignete Wohnformen.

In Kanada wurde ein dreistufiges Unterstützungskonzept für die Handlungsebene entwickelt, es wird auch in anderen Ländern u.a. auch in Kalifornien praktiziert. Dabei werden drei Handlungsebenen: 1. Arbeit mit Menschen mit leichten Formen herausfordernder Verhaltensweisen, 2. Arbeit mit Menschen mit schwereren Formen herausfordernder Verhaltensweisen und 3. Arbeit mit Menschen mit besonders kritischen Formen herausfordernder Verhaltensweisen betrachtet. Die inhaltliche Arbeit orientiert sich an den drei Schritten: 1. personenorientierte Pläne, 2. am Konzept der positiven Verhaltensunterstützung sowie an 3. sog. Sicherheitsplänen, die auch mit freiheitsentziehenden Maßnahmen einhergehen können (S. 203), um eine Einweisung in die Psychiatrie zu vermeiden und ein Wohnen und Leben im Gemeinwesen sicher zu stellen. Auf den Seiten 206- 229 wird dieses Vorgehen konkretisiert und mit Fallbeispielen belegt. Dabei geht es neben der personenzentrierten Planung auch um die Erschließung sozialer Netzwerke und Sozialräume und um die konsultative Assistenz. Das Kapitel schließt mit der kurzen Darstellung der „Positiven Verhaltensunterstützung“, ein Ansatz, der von Theunissen entwickelt wurde. Eine Rezension findet sich unter https://www.socialnet.de/rezensionen/​16786.php

Kapitel 5 mit dem Titel Behindertenarbeit vom Menschen aus: Unterstützungssysteme und Unterstützungsleistungen bei schweren neurokognitiven Störungen (Demenzen) nimmt als Einstieg die höhere Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung und die der Menschen mit Beeinträchtigungen in den Blick. Wurden Personen mit komplexen Behinderungen 1930 noch durchschnittlich 20 Jahre alt, so wird heute die Lebenserwartung auf 70 Lebensjahre angesetzt. Mit diesem Anstieg geht auch das Risiko für spezielle Alterserscheinungen z.B. schwere neurokognitiven Störungen (Demenz) einher. Besonders betroffen sind Menschen mit Trisomie 21/Down-Syndrom. Diese Ausführungen sind sehr interessant und wichtig. Theunissen leitet erforderliche Konsequenzen für die Praxis ab, dazu gehören fünf Formen von Assessment: 1. ein multidimensionales Assessment, 2. ein medizinisch-geriatrisches Assessment, 3. ein gerontopsychiatrisches und pädagogisch-psychologisches Assessment, ein 4. sozialpsychologisches Assessment und 5. ein Stärken-Assessment.

Wird vor dem Hintergrund eines Assessment eine Verdachtsdiagnose erstellt, stellt sich die Frage nach dem weiteren Vorgehen, das auch psychopathologische Begleiterscheinungen, Verhaltensauffälligkeiten und speziellen medizinische Unterstützungsleistungen einbezieht. Theunissen nennt auf Grundlage der Erkenntnisse von Lingg sechs mögliche Begleiterscheinungen wie z.B. depressive Verstimmungen, Angst und Apathie/​Interesselosigkeit, Schlafstörungen und Tag-Nacht-Umkehr, psychomotorische Unruhe und Weglaufen, Wesensveränderungen mit Enthemmung und Aggression oder wahnhafte Verkennungen.

Das Kapitel schließt mit der Leitperspektive Lebensqualität und Personenzentrierte Planung sowie mit der Darstellung lebensweltbezogener Unterstützungsleistungen durch Familienangehörige am Beispiel von Frau Rose, einem Resümee und einer Reflexion in Bezug auf das Beispiel.

Das letzte Unterkapitel beleuchtet die Behindertenarbeit vom Menschen aus durch geeignete Wohnangebote und Unterstützungsformen der Behindertenhilfe. Die Leitperspektive Lebensqualität schlägt eine Brücke zur Rechte-Perspektive auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention. Darauf aufbauen skizziert der Autor neun konzeptionelle Leitprinzipien und Qualitätsmerkmale, die den „fühlbaren Hintergrund aller Dienstleistungsangebote für demente Personen mit Lernschwierigkeiten oder einer komplexen Behinderung bilden sollten“ (S. 283). Des Weiteren benennt Theunissen auf Grundlage des aktuellen Forschungs- und Diskussionsstands sowie seinen vorherigen Ausführungen 15 Aspekte, „die als objektive Qualitätsmerkmale und Prüfkriterien für ein Dienstleistungsangebot im Sinne der lebensweltbezogenen Behindertenarbeit von Bedeutung sind“ (S. 283). Davon abgeleitet unterscheidet er sieben Formen der Assistenz wie z.B. die dialogische Assistenz, die sozialintegrierende Assistenz oder validierende Assistenz und auch diese Darstellung mündet in einem Beispiel aus der Praxis.

Diskussion

Das Buch liest sich ein wenig wie ein Fazit des beruflichen Werdegangs von Georg Theunissen. Die Inhalte spiegeln die Entwicklung der Behindertenarbeit von der Spätantike bis heute wieder. Dabei fließen auch Beispiele aus den USA ein, Theunissen hat dort geforscht und zahlreiche spannende Ansätze mitgebracht und weiterentwickelt.

Hier in Deutschland geht die Entwicklung nur zögerlich voran. Zum Vergleich: Allein in Kalifornien gibt es 90 Selbstvertretungsgruppen, die überregional vernetzt und in „Self Advocates Becoming Empowered“ (SABE) zusammengeschlossen sind. 2010 schon feierten sie ihr 20 jähriges Bestehen (in Deutschland gründete sich people first erst 2001).

Als wichtigster Wegweiser der Arbeit dieser Selbstvertretungsgruppen lassen sich drei Schwerpunkte benennen: Empowerment:

  1. durch eine selbstorganisierte Bildung, Schulung und Befähigung,
  2. durch Selbstvertretung, politische Arbeit und Einflussnahme und
  3. durch Selbsthilfe, Selbstberatung und gegenseitige Unterstützung.

Es gibt zahlreiche Wege, wie man die Selbstbemächtigung (Empowerment) unterstützen kann. Aus eigener Erfahrung verweise ich an dieser Stelle gerne auf die TEACCH® Philosophie, in deren Mittelpunkt steht, dass die Menschen unabhängiger von Mitarbeitenden werden. Diese Haltung ist im Laufe der Zeit, mit der ich danach arbeite und diese Methode lehre zum zentralen Moment geworden, denn alle Menschen streben nach Selbstwirksamkeit.

Hervorzuheben ist auch, dass sich Theunissen mit Unterstützungssystemen und Assistenzleistungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung auseinander setzt und dabei auch die immer älter werdenden Menschen mit Behinderung in den Fokus nehmen. Diese Personengruppen nicht aus dem Blick zu verlieren ist wichtig. Ich vertrete die Haltung von Klaus Dörner, der von der „Verantwortung vom Letzten her“ spricht und aussagen will, dass sich unsere professionelle Arbeit an den Schwächsten orientieren sollte. Diese Haltung vermittelt, dass alle Menschen das Recht haben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Damit ergibt sich eine Heterogenität, die eine heilsame Wirkung auf alle Mitglieder der Gesellschaft hat. Als einen Aspekt nennen Dörner und Theunissen das Bürgerengagement, also die freiwillige soziale Arbeit von Bürger*innen, die ihre Zeit teilen, die unterstützen und begleiten. Die Gesellschaft verändert sich, sie wird inklusiv: statt Ausgliederung Eingliederung.

Die Leitprinzipien wie Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung, Respekt, Vertrauen, Subjektzentrierung, Partizipation, politische Einmischung, Prävention, Ressourcenorientierung und -aktivierung, Regionalisierung, Dezentralisierung und Vernetzung haben für jeden Menschen Gültigkeit, vor allem für Menschen mit Beeinträchtigungen.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch das vierte Kapitel „Unterstützungssysteme und personenzentriertes Arbeiten in Bezug auf Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und schwerwiegendem herausfordernden Verhalten“, denn dieser Personenkreis lebt nicht selten in einer „totalen Institution“. Theunissen zeigt Alternativen zum Leben in einer solchen auf wie z.B. sog. Konsulentendienste oder Angebote der Prävention durch geeignete Wohnformen.

Der Autor berichtet von einem dreistufiges Unterstützungskonzept für die Handlungsebene aus Kanada, das auch in anderen Ländern u.a. in Kalifornien praktiziert wird. Dabei betrachtet er drei Handlungsebenen: 1. Arbeit mit Menschen mit leichten Formen herausfordernder Verhaltensweisen, 2. Arbeit mit Menschen mit schwereren Formen herausfordernder Verhaltensweisen und 3. Arbeit mit Menschen mit besonders kritischen Formen herausfordernder Verhaltensweisen. Die inhaltliche Arbeit orientiert sich an den drei Schritten: 1. personenorientierte Pläne, 2. am Konzept der positiven Verhaltensunterstützung sowie an 3. sog. Sicherheitsplänen, die auch mit freiheitsentziehenden Maßnahmen einhergehen können (S. 203), um eine Einweisung in die Psychiatrie zu vermeiden und ein Wohnen und Leben im Gemeinwesen sicher stellen sollen.

Sehr gut gefallen hat mir – bei aller Kompaktheit dieses Buches- dass Theunissen der Komplexität der Themen dadurch gerecht wird, dass er viele einzelne Aspekte herausarbeitet, die es zu bedenken gibt. Natürlich kann nicht jeder Aspekt ausgeführt werden, aber er gibt eine Richtung vor, die die Leser*innen vertiefen können z.B. bei der Arbeit mit Menschen mit Trisomie 21/Down-Syndrom, die von schweren neurokognitiven Störungen (Demenzen) besonders betroffen sind. Theunissen leitet erforderliche Konsequenzen für die Praxis ab und er nennt fünf Formen von Assessment: 1. ein multidimensionales Assessment, 2. ein medizinisch-geriatrisches Assessment, 3. ein gerontopsychiatrisches und pädagogisch-psychologisches Assessment, ein 4. sozialpsychologisches Assessment und 5. ein Stärken-Assessment.

Neben dem Handeln von professionellen Akteuren wirft Theunissen auch ein Schlaglicht auf die Bürgerzentrierung: Um gesellschaftliche Inklusion mehr als nur theoretisch zu verwirklichen, d.h. mit Leben zu füllen, ist es grundsätzlich wichtig eine Bürgerzentrierung ins Visier zu nehmen, die die Förderung informeller Netzwerke durch nichtbehinderte Bürger*innen wie z.B. Nachbarschaftshilfe, Angehörigengruppen oder Freiwilligenengagement, dazu gehört aber auch freiwilliges Engagement von Menschen mir Beeinträchtigungen. (S. 186). Fehlt eine soziale nachbarschaftliche Einbindung bei unzureichender alltäglicher Unterstützung von behinderten Menschen – so zeigen Erfahrungen- kann es bei Deinstitutionalisierungsprozessen zu Verwahrlosung bis hin zu Todesfällen kommen (S. 186). Weiter führt er aus, dass das Engagement Freiwilliger begrüßt wird, es ist allerdings zu beachten, dass dieses nicht als Möglichkeit der Kostenersparnis gesehen wird. Der Einsatz von professionellen Fachkräften und Qualitätsstandards wird weiterhin gebraucht.

Das „volunteering“ (S. 188) in Deutschland steckt im Vergleich zu den USA noch in den Kinderschuhen. Dort wird von Behindertenorganisationen (vertraglich geregelt) an Hochschulen Werbung gemacht, sodass immer wieder neue freiwillige Helfende rekrutiert werden können. Ich stimme zu: Deutschland hat einen Bedarf an Bewusstseinsbildung bei der Bevölkerung (S. 188). Bei einer Studienreise nach Schweden 2003 war ich schon sehr überrascht über die Anzahl der freiwillig Engagierten, vor allem auch jungen Menschen. Darauf angesprochen berichtete man mir, dass Freiwilligenengagement zur schwedischen Kultur gehöre und Kinder und Jugendliche schon früh mit dem Thema in Berührung kommen.

Inzwischen gibt es auch hier Projekte, die an Schulen angesiedelt sind und im Stundenplan als Schulfach im Lehrplan stehen. Zum Beispiel das sog „Service-Learning“. An der Winterhuder Reformschule gehen Schüler*innen in der Schulzeit in Projekte und bringen dort ihre eigenen Interessen und Talenten ein.

In Erinnerung geblieben sind mir zwei Beispiele: 1.Beispiel zweier Freundinnen, die ein Seniorenheim in Hamburg besuchen, um mit den Bewohner*innen per Wii zu kegeln. Natürlich sind sie dabei mit vielen weiteren Lebensthemen konfrontiert worden. Positiver Nebeneffekt: Mittlerweile gibt es deutschlandweit Wii Meisterschaften für Senior*innen. Beispiel 2: In der Individuellen Tagesförderung für Menschen mit sog. herausfordernden Verhaltensweisen kamen verschiedene Schüler*innengruppen und haben viele kleine Projekte durchgeführt z.B. gemeinsam mit den Menschen mit Beeinträchtigungen im Garten zu arbeiten, kunsthandwerkliche Produkte der Arbeitsangebote zu verkaufen oder etwas vorzulesen. Entstanden ist dabei immer eine Win-Win Situation: die behinderten Menschen kamen mit jungen Menschen in Kontakt und die Schüler*innen lernten einen ungezwungenen Umgang. Ein Schüler hat vorgelesen und dabei als Nebeneffekt seine Lesefähigkeit stark verbessert. Er erzählte mir, dass er in der Klasse nicht vorlesen mag. Seine Mitschüler*innen würden ihn auslachen, weil er es nicht so gut könne, bei uns sei das anders, die Menschen würden sich freuen, wenn er käme. Am Ende des Schuljahres hat dieser Schüler mehr Selbstbewusstsein entwickelt und sich – wie die Lehrkraft berichtete – insgesamt sehr stark verändert.

Lernen durch Engagement wird durch die Bürgerstiftung unterstützt. Auf der homepage schreibt sie: „Lernen-durch-Engagement, auch Service-Learning genannt, bietet Raum für individuelles Lernen, Mitbestimmung, Lebensweltbezug und Handlungsorientierung. Es ermöglicht entdeckendes und forschendes Lernen und öffnet die Schultore für das Lernen an außerschulischen Orten“ (https://yousful.buergerstiftung-hamburg.de/lernen-durch-engagement-Zugriff 01.04.2021 15.00 Uhr).

Fazit

Es werden Wege einer Behindertenarbeit vom Menschen aus aufgezeigt, die sich auf Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und komplexen Behinderungen beziehen. „Der personenzentrierte Ansatz knüpft ausgehend von den „Betroffenen“ (Empowerment) an Konzepten und methodischen Instrumenten der Gemeinwesenarbeit, der Lebensweltorientierung sowie der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit an, um Inklusion und Partizipation (Teilhabe) zu ermöglichen“(Klappentext). Im Mittelpunkt stehen Personen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen auf kognitiver, motorischer, sensorischer, emotionaler und sozialer Ebene eine entsprechende ressourcenorientierte Unterstützung zur Verwirklichung des menschlichen Lebens benötigen, die in 15 Aspekten objektiver Qualitätsmerkmale und Prüfkriterien für ein Dienstleistungsangebot im Sinne der lebensweltbezogenen Behindertenarbeit formuliert werden, die sich in sieben Formen der Assistenz abbilden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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ISSN 2190-9245