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Peter Noss: Inklusion in Sport und Kirche

Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 05.11.2021

Cover Peter Noss: Inklusion in Sport und Kirche ISBN 978-3-7887-3409-1

Peter Noss: Inklusion in Sport und Kirche. Handlungsfeld der Öffentlichen Theologie. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. 260 Seiten. ISBN 978-3-7887-3409-1. D: 45,00 EUR, A: 47,00 EUR.
Reihe: Theologische Anstöße - Band 9.

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Thema

Inklusion im Sport in Bezug auf das Themenfeld Kirche und Sport ist das Thema vorliegenden Buches, das 2018 unter dem Titel „Sport als gesellschaftlich-diakonisches Handlungsfeld – Inklusion als Thema öffentlicher Theologie“ im Fach Diakoniewissenschaft an der Fakultät für Verhaltens- und Empirische Kulturwissenschaften der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen wurde. Das Buch nimmt grundsätzliche Fragen der Menschenrechte und damit die Relevanz einer öffentlichen Theologie auf. Anstoß für die vorliegende Arbeit war auch die Veröffentlichung der UN-Behindertenrechtskonvention in 2006.

Autor

Dr. Dr. Peter Noss ist Pfarrer für Ökumene, Dialog und Partnerschaftsarbeit im Ev. Dekanat Wetterau/​Evangelische Kirche Hessen-Nassau und Mitglied des Arbeitskreises „Kirche und Sport“. 

Aufbau

Das Buch gliedert sich, wie folgt:

  • I. Einleitung
  • II. Öffentliche Theologie
  • III. Menschenrechte als Thema Öffentlicher Theologie
  • IV. Soziologische Ansätze zu Exklusion und Inklusion
  • V. Sportwissenschaftliche Überlegungen zum Themenfeld >Inklusion<
  • VI. Theologische Ansätze zur Inklusion im Blick auf den Sport
  • VII. Rekonstruktion der Theologie Jürgen Moltmanns als einer Theologie der Inklusion
  • VIII. Kirchen- und sportpolitische Ansätze
  • IX. Sport als Herausforderung für Öffentliche Theologie: Das Inklusions-Potenzial
  • Literaturverzeichnis
  • Thesenpapier: Gelebte Toleranz – Integration und Inklusion als Herausforderungen für Kirche und Sport

Inhalt und Diskussion

Ad I:

In seiner Einleitung kontextualisiert Peter Noss das Thema seiner Dissertation als zum Bereich Menschenrechte und öffentlicher Theologie zugehörig (S. 11). Heinz-Eduard Tödt, Wolfgang Huber und Wolfgang Vögele haben sich der öffentlichen Theologie schon sehr früh angenommen; allerdings spielten Sport und Inklusion in kirchlichen Handlungsfeldern bislang eine eher untergeordnete Rolle. Exklusion ist hierbei mit Bezug auf Niklas Luhmann als Ausschluss von Teilhabe und Kommunikation verstanden, also Inklusion im Gegenzug als Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen (S. 12). Im Sinn der Luhmann’schen Systemtheorie wird, gesellschaftlicher Exklusion entgegenzuwirken, was theologisch dann wiederum begründet werden müsse (S. 12). Der Begriff „Inklusion“ soll normativ-politisch und wissenschaftlich-analytisch geklärt werden; Sport und Religion gehören nach Eilert Herms zum gemeinsamen gesellschaftlichen Funktions- und Kommunikationsbereich (S. 13). Peter Noss stellt die These auf, dass Inklusion ein „originär (jüdisch-)christlich theologisches Thema“ sei und auch „Kern des Selbstverständnisses einer gesellschaftsdiakonisch ausgerichteten Kirche und eine Herausforderung für eine öffentliche Theologie.“ (S. 14) Inklusion sei also „originärer Topos der Theologe“ (S. 14). Die religiöse Bedeutung des Sports liege nach Eilert Herms im „anthropologischen Sinn als spezifisches Element der Kultur menschlicher Leibhaftigkeit“ (S. 16) – wenn Leibhaftigkeit übertrieben werde, sei man im „Körperkult“ angekommen oder in „der Tyrannei des perfekten Körpers“ (S. 16). Im Bewegungshandeln erfahre der Mensch seine Leibhaftigkeit, die Entfaltung persönlicher Würde und den Körper als Feld von Begegnung (z.B. Konkurrenz/​Kooperation usw.) (S. 17). Die persönliche Integrität des Körpers sei für jeden Menschen notwendige Bedingung des Lebens (S. 17). Neben dem Sport existieren weitere gesellschaftsdiakonische Handlungsfelder, wie zum Beispiel der Umgang mit Fremden (S. 19) oder soziale Gerechtigkeit, Umgang mit Diversität u.a.m., die bedeutende Themen öffentlicher Theologie seien (S. 19): „Aus der Einsicht in die eigene besondere Identität folgt die Anerkennung der besonderen Identität anderer Gruppen. Dies gilt um so mehr, wenn die Gesellschaft, in der die Kirche lebt, in großen Teilen von ihr und ihrer Tradition bestimmt ist.“ (S. 21) Der Kampf gegen die Ausgrenzung von Armen und gegen die Nichtteilhabe verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, wie z.B. Menschen mit Behinderung, gehören ebenfalls zu den Aufträgen und Themen öffentlicher Theologie (S. 23). Kirche sei deshalb zuerst ein Ort der Begegnung und Inklusion: „Kirchenräume können als Orte der Inklusion, besonders im Wechselspiel von Gottesdienst und Diakonie, bezeichnet werden. Aus der Gemeinwesenarbeit sind solche Erfahrungen von Teilhabe am Ort bereits bekannt.“ (S. 25)

Ad II:

„Öffentliche Theologie“ (=Public Theology) ist ein „Begriff für eine Theologie, die das Ziel hat, im Alltag von Kirche und Christen überzeugend und öffentlich für die Gesellschaft und den Staat sichtbar zu machen, >was Christum treibet<.“ (S. 28) Im Kern geht es um Reflexion von gesellschaftlichen Themen, in die kirchliches Handeln involviert bleibt: „Diese Reflexion führt dann aber dazu, sich der Welt zuzuwenden und Stellung zu ethischen und gesellschaftlichen Fragen zu beziehen, ohne den religiösen Bezug aufzugeben.“ (S. 29) Den Anfang öffentlicher kirchlicher Stellungnahme machte die sog. politische Theologie in den 60er und 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, die sich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und insgesamt der kritischen Theorie der Frankfurter Schule verbunden sah (S. 31). Im deutschsprachigen Raum sei nach Noss‘ Aussage vor allem Jürgen Moltmann an dieser Orientierungsleistung beteiligt gewesen: „Als Theologie des Reiches Gottes muss Theologie öffentliche Theologie sein: Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft, öffentliche, kritische und prophetische Gottesklage – öffentliche, kritische und prophetische Gotteshoffnung. Um des Reiches Gottes willen ist Öffentlichkeit konstitutiv für die Theologie.“ (S. 32) An dieser Stelle verschwendet der Autor jedoch keinen Blick auf die Politische Theologie um Dorothee Sölle, Elisabeth Moltmann-Wendel, Hannelore Erhart, Luise Schottroff und andere feministische Theologinnen, die die Diskurslage um die politische Theologie in Deutschland maßgeblich beeinflusst und das Themenfeld um die kontextuelle Theologie oder auch Theologie in bestimmten Lebenslagen erweitert haben. Die politische Seite der öffentlichen Theologie bestehe nach H.J. Körtner und Peter Noss darin, der gesellschaftlichen Vielfalt gerecht zu werden, diese aufzunehmen, denn Vielfalt sei „grundsätzliches Kennzeichen des Christlichen.“ (S. 35) Diese Charakterisierung öffentlicher Theologie ist m.E. nicht hinreichend, denn die gesellschaftlichen Kernthemen, wie z.B. Inklusion, brennen auf den Nägeln, und die Aufzählung wie Rechtsethik, Kulturethik, Wirtschafts- und Arbeitsethik usw. abstrahiert und verbleibt im Allgemeinen (S. 35). Der Autor fokussiert sich dann auf die sozialethische Grundsituation des Sports (S. 37). Aber auch hier muss man ein Zurückweichen vor der tatsächlichen Realität des Sportbetriebs konstatieren: Kritische Worte gegen Leistungssport, Massenkonsum, Verletzung der Menschenrechte (z.B. Bau der Fußballstadien für die Weltmeisterschaft in Qatar), Doping, Umweltzerstörung durch Olympia-Gigantismus usw. fehlen (S. 37).

Ad III:

Erst im dritten Kapitel werden dann die Menschenrechte als Grundthema öffentlicher Theologie aufgenommen. Hier habe die öffentliche Theologie sich für die Anerkennung der jedem Menschen innewohnenden Würde als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt einzusetzen (S. 41). „Inklusion“ wird von Peter Noss als neuer Leitbegriff der Menschenrechtsdiskussion identifiziert (S. 43) und nimmt dabei im Konkreten Bezug auf die Artikel 24 und 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (S. 44). Es gehe um assistierte Autonomie, Selbstbestimmung in der Lebensführung (S. 46). Auffälligerweise nimmt hier der Autor keinen Bezug auf die 10 Regeln gelingenden Zusammenlebens von Martha C. Nussbaum – die darin ein inklusives menschenrechtliches Verständnis vorlegt (erst ab S. 67ff). Stattdessen wird die Linie des Menschenrechtsdiskurses von der frz. Revolution bis hin zum Programm zur Bekämpfung des Rassismus des Ökumenischen Rates der Kirchen gezogen (S. 48). Peter Noss macht zudem deutlich, dass die Menschenrechte erst seit Kurzem Eingang in theologische Diskurse gefunden haben und dass sich die Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten nicht unbedingt als Vorreiterinnen der Menschenrechte gezeigt hätten (S. 51). Hervorzuheben sei jedoch die Rezeption der UN-Behindertenrechtskonvention in kirchlichen Handlungsfeldern seit 2006 (S. 52).

Ad IV:

Im vierten Kapitel diskutiert der Autor verschiedene soziologische Ansätze von Exklusion und Inklusion, fokussiert dabei aber den Ansatz von Niklas Luhmann. Zwar wird auch Harald Wagner genannt, wobei dessen Ansatz einer Gerechtigkeitstheorie im ökumenischen Kontext unberücksichtigt bleibt (S. 53). Peter Noss folgt der Linie von Niklas Luhmann und Talcott Parsons. Deren Grundfragen bestanden darin, wie angesichts der Komplexität und Differenzierung moderner, westlicher, demokratischer Zivilgesellschaften für Menschen Teilhabemöglichkeiten in den einzelnen Sub- und Funktionssystemen der Gesellschaft geschaffen werden können (S. 55), was dann beispielhaft an dem Begriffspaar Exklusion und Inklusion vorgeführt wird (S. 55). Auch hier ist wieder bemerkenswert, dass der Autor die Begriffsdeutung historisch anlegt und weniger funktional-soziologisch (S. 57). Die Frage nach Teilhabemöglichkeiten führt den Autor dann zu den biblischen und theologischen Grundlagen von Teilhabe (S. 61). Wichtig ist ihm dann die Kontextualisierung von Teilhabe und Inklusion am Beispiel des 19. Kapitels des biblischen Buches Levitikus: „In der biblisch begründeten Theologie ist nicht nur der Grundgedanke einer Eröffnung umfassender Teilhabemöglichkeiten für alle im Sinn von Inklusion verankert, sondern auch die Notwendigkeit zu einer ständigen Reflexion des aktuell erreichten Zustandes.“ (S. 65) In Fragen der Toleranz nimmt Peter Noss Bezug auf John Rawls‘ Gerechtigkeitsansatz: „Das bedeutet, dass Menschen mit gleichen Fähigkeiten auch gleiche Chancen haben und die Nachteile der Schwächeren im Blick bleiben müssen, dass es aber letztendlich auch ein Gefälle bei den Teilhabemöglichkeiten gibt.“ (S. 67) Erst hier bringt der Autor Martha Nussbaum ins Spiel als Kritik am Rawlsschen Modell (S. 67). Im 5. Abschnitt des Kapitels überträgt der Autor seine bis dahin gewonnenen Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Funktion des Sports (S. 68) und arbeitet den Unterschied zwischen Sport als formaler Organisation und Sport als Akteur heraus (S. 69).

Ad V:

In diesem Kapitel erörtert und referiert Peter Noss sportwissenschaftliche Überlegungen zum Thema Inklusion (S. 72). Der organisierte Sport betone hierbei die „Integrationskraft des Sports“, was aber durchaus kritisch zu sehen sei (S. 73). Die Inklusionsdiskussion beginne auch im Sport mit der UNESCO-Weltkonferenz in Salamanca (S. 74); die wichtigeren Impulse aber gingen jedoch von der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 aus. Im Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (2008/2013) sei das Merkmal Teilhabe der UN-Behindertenkonvention ausgeführt (S. 75). 2014 gab es im Auftrag des DOSB ein Hearing „Integration und Inklusion im Sport – Begriffe, Konzepte, Effekte und Forschungsdesiderate“ (S. 77). Vier Begriffe seien dabei erkenntnisleitend gewesen (S. 78):

  • Diversität und Diversitätsmanagement,
  • Inklusion und Umgang mit Vielfalt,
  • Integration und
  • Interkulturalität im und durch Sport (S. 78).

Die Freiburger Sportwissenschaftlerin Petra Gieß-Stüber übertrage, so Peter Noss, den Begriff der Interkulturalität auf die Integrationspraxis der Sportvereine, was sich aber zuerst auf den Umgang mit Fremdheit fokussiere; zudem sei die Unterscheidung zwischen Inklusion und Integration bei Gieß-Stüber nicht trennscharf. Peter Noss kritisiert zudem auch das Fehlen eines reflektierten Menschenbildes und den Mangel an Rezeption religiöser Begründungen für den Umgang mit Diversität (S. 81). Anschließend diskutiert er das Positionspapier der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaften vom 4.7.2015, dessen Mehrwert darin läge, andere gesellschaftliche Diskurse überhaupt erst einmal wahrzunehmen und Orientierung zu bieten (S. 83).

Ad VI:

In diesem Kapitel werden theologische Ansätze zur Inklusion mit Bezug auf den Sport vorgestellt (S. 86ff). In der Moderne aber auch in er Postmoderne würde der menschliche Körper als religiöser Code bzw. als Symbol verstanden. Dagegen macht der Autor die phänomenologische Tradition von Maurice Merleau-Ponty stark und lenkt den Blick auf die ethisch relevanten Themen der Gegenwart (S. 87). Der Autor konstatiert, dass Körperkonzepte grundsätzlich kulturell beeinflusst seien und somit auch lenk- bzw. pervertierbar, wie das Beispiel der NS-Ideologie zeige (S. 89). Das Verständnis des Körpers sei deshalb auch einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen: „Dabei kommt es immer wieder zu Engführungen; Missverständnissen und Spannungen zwischen kulturellem Körperwissen und individueller Körpererfahrung.“ (S. 89) Gegen einen platonischen Leib-Seele-Dualismus setzt der Autor zusammen mit Merleau-Ponty und anderen ein holistisches Verständnis von Leiblichkeit und Körperlichkeit (S. 92). Er formuliert dann die These: „[d]ie selbstverständliche Vielfalt bzw. Diversität der gleichwertigen Formen menschlichen Lebens, die ethische Forderung nach Gerechtigkeit und Teilhabe gerade im Hinblick auf Körper und Leib sind Grundanliegen der jüdisch-christlichen Theologe.“ (S. 93) Zugleich sei der Körper auch identitätsstiftend und immer gefährdet (S. 95). Sehr prägnant ist das Unterkapitel 2 (Krankheit-Behinderung-Heilung) formuliert und Peter Noss greift hierbei auf die Untersuchungen Ulrich Bachs zurück, der der Theologie (2006) Körpervergessenheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite rassistische Interpretation von „heiler“ Schöpfung vorgeworfen hatte (S. 97). Verantwortung für die Schöpfung müsse, so Peter Noss, in Anlehnung an Hermann Deuser, in Fragen der Gerechtigkeit, Frömmigkeit, des Glaubens, der Hoffnung mit der Liebe präzisiert und konkretisiert werden (S. 101). Das Fragmentarische des menschlichen Lebens ließe sich nur unter den Bedingungen der Fragmentsannahme lösen (S. 103). Öffentliche Theologie als Reflexion und Kirche als Organisation hätten ein ethisches Mandat gegenüber der Politik, was sie auch wahrnehmen sollten (S. 107). Die sich daran anschließenden philosophischen Erörterungen zu einer „Theologie der Umarmung“ in Anlehnung an Emmanuel Lévinas bleiben rätselhaft und wenig zielführend (S. 113).

Ad VII:

Die Theologie Jürgen Moltmanns wird von Peter Noss als eine Theologie der Inklusion charakterisiert (S. 115). Die christliche Hoffnung bzw. die Theologie der Hoffnung sei Basis für ein inklusives Denken, das seinerseits vom Ende herdenkt, weil es eschatologisch ist (S. 117). Das in der biblischen Johannesoffenbarung entworfene Bild eines neuen Jerusalems symbolisiere Einheit der Menschheit, was auf die Gegenwart angewandt, zum kritischen Maßstab werde (S. 117): „Glaube und Hoffnung, Hoffnung und liebendes Tun, liebendes Tun und Glaube bedingen sich also wechselseitig angesichts konkreter Wirklichkeit. Hier wird nicht verschoben auf eine ferne Zukunft, sondern zum Handeln herausgefordert. Moltmanns eschatologisch getränkte Theologie drängt auf die Ethik.“ (S. 119) Für Christen und Christinnen ergibt sich aus dieser Hoffnung die Verpflichtung, in der Welt solidarisch zu leben und an der Entwicklung des „Reiches Gottes“ mitzuwirken (S. 119), was ständige ethische Reflexion bedingt (S. 120): „Das Handeln der Kirche entwickelt sich also aus der permanenten Rückbindung an Gottes freie und freimachende Gnade. Diese theologische Skizze umreißt damit eine wirkmächtige Vision für eine offene, auf Versöhnung und Teilhabe gerichtete Gesellschaft.“ (S. 121) Kirche sei dann in der Konsequenz Raum inklusiven Handelns und lebe von der Kraft des Heiligen Geistes (S. 122). Das bedeutet aber auch, dass die Kirche eine offene Gesellschaft sei, in der der Andere in seiner Andersartigkeit anerkannt werde (S. 126): „Kirche ist eine Gemeinschaft der Ungleichen und Verschiedenen, die durch freie und zuvorkommende Anerkennung zusammengehalten werde.“ (Moltmann, Jürgen (2010): Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, Gütersloh, S. 82/Noss, S. 126). Jürgen Moltmann, so Noss, sehe hierbei in den Menschenrechten ein Scharnier, um die Menschheit als Gemeinschaft zu konstituieren (S. 130). Der Zusammenhalt der durch die Menschenrechte zusammengehaltenen Menschheit sei analog zu der durch Christus zusammengehaltenen Kirche (S. 132). Moltmann begründe diese Analogie mit Hilfe des theologischen Symbols der Gottebenbildlichkeit, in der es zuerst um ein Anerkennungsverhältnis zwischen Gott und dem Menschen gehe (S. 133) und zudem um die Konstitution einer sozialen Gemeinschaft aller untereinander (S. 133). Daraus müsse sich auch ein ethisches Verhältnis zur nicht-menschlichen Schöpfung ergeben, was sich dann in einer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft ausdrücke (S. 134). Die Anerkennung des Anderen stehe im Mittelpunkt dieses theologischen Modells (S. 136).

Ad VIII:

Noss stellt in diesem Kapitel wichtige Verlautbarungen zur Inklusion aus den beiden Bereichen Kirche und Sport vor: Genannt werden wichtige Verlautbarungen des ökumenischen Rates der Kirchen, der evangelischen Landeskirchen und den diakonischen Werken und Einrichtungen (S. 145). Der Autor beginnt mit einer Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen aus 2003: „A Church of All and For All. Ziel ist, die Kirche zu befähigen, sich am Diskurs zu Disability zu beteiligen und zu voller Teilhabe am sportlichen und sozialen Leben der Gemeinden und Kirchen zu befähigen (S. 146). Biblische Heilungsgeschichten seien hierbei als Inklusionsgeschichten zu interpretieren (S. 146): „Das Kernstück christlicher Theologie sei die Kritik an Perfektion, Macht und Erfolg – und die Achtung von Schwäche, Gebrochenheit und Verletzlichkeit … Imago Dei müsse also christologisch und soteriologisch verstanden werden: es braucht ein nicht-elitäres, inklusives Verständnis des Leibes Christi; ohne die volle Anerkennung … derjenigen, die ihre Erfahrungen von Behinderung einbringen, kann von einer Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht die Rede sein.“ (S. 148)

Anthropologisch gehe es um die Dialektik zwischen Begabung und Begrenzung (S. 149); das nächste Dokument ist eine Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz, ebenfalls aus 2003: „UnBehindert Leben und Glauben teilen“ (S. 153). Das Papier zielt auf ein neues Verständnis menschlicher Behinderung (S. 153). Auch hier werde, so Noss, die Ideologie des perfekten Menschen infrage gestellt (S. 154). Die Evangelische Kirche im Rheinland veröffentlichte 2013 eine Orientierungshilfe: „Da kann ja jede (r) kommen. Inklusion und Praxis“. Kernpunkte seien Gleichberechtigung bei aller Verschiedenheit (S. 156), Anderssein als Gewinn, Überwindung der Unterscheidung in „Behinderte“ und „Nichtbehinderte“, gleichberechtigte Teilhabe aller, Freiheit zur Teilhabe ohne Zwang (S. 156). Die Orientierungshilfe der Rheinischen Kirche bietet ein breites Spektrum grundlegender theologischer Überlegungen (S. 159). Weitere Dokumente werden vorgestellt (S. 160-182). In den aufgeführten ausführlicheren Stellungnahmen fehlt jedoch die Erklärung der Evangelischen Kirche in Baden (EKIBA) und die entsprechenden Leitlinien für die kirchliche Praxis. Noss bemerkt, dass es keine einheitliche Linie in den kirchlichen Erklärungen in Bezug auf Inklusion gäbe (S. 183). Als soziologisch und theologisch fundiert werden die Positionspapiere der Landeskirchen Rheinland und Kurhessen-Waldeck und die Orientierungshilfe der EKD gewertet (S. 184). Im Anschluss an die kirchlichen Stellungnahmen werden die sportpolitischen Erklärungen verschiedener Sportverbände vorgestellt. Zuerst wird das Positionspapier des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) (S. 185) fokussiert, jedoch ohne die Menschen mit Behinderung in den Blick zu nehmen; auch die Unterscheidung zwischen Inklusion und Integration tauche auf der DOSB Homepage von 2006 nicht auf (S. 185), würde aber in der Erklärung in einen Zusammenhang gebracht. Trotzdem werde das Potenzial von Inklusion nicht erkannt (S. 187): „Der Sport wird als gesellschaftlicher (Teil-)Bereich gesehen, der aufgrund seiner besonderen Eigenschaften >hervorragend geeignet< ist, an der Umsetzung der UN-BRK mitzuwirken, weil er Menschen in Bewegung bringt, Miteinander und Mobilität fördert, Selbstbewusstsein stärkt und Spaß macht.“ (S. 188) 2013 wurde ein neues Papier „Inklusion leben“ veröffentlicht. Ziel sei, „die Umsetzung der Inklusion im organisierten Sport weiter voranzubringen“ (S. 189). Woher aber das mehr benötigte Personal in den Sportvereinen kommen soll, bleibe unbeantwortet (S. 193): „Ein klares Inklusions-Profil des DOSB und der unter seinem Dach zusammengeschlossenen Verbände war 2013 auf der Grundlage der bisher vorliegenden Positionspapiere und Stellungnahmen noch nicht zu erheben.“ (S. 193) Im Unterschied dazu formulierte der Behindertensportverband 2010 ein Positionspapier: „Ziel der Arbeit ist es, >dass Menschen mit oder mit drohender Behinderung und chronisch Kranke nach ihren individuellen Wünschen und Voraussetzungen die Möglichkeit zur Teilnahme am Sport haben<.“ (S. 197) Das Positionspapier des DBS bringt das Thema Inklusion in Anlehnung an die UN-BRK zur Sprache, aber: „Eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Inklusion findet in dem Papier nicht statt. Inklusion wird nicht definiert oder gegenüber anderen Begriffen aus diesem Zusammenhang abgegrenzt. Das Papier ist entstanden aus einer >verbandsinternen Diskussion<, Fachkompetenzen aus anderen Zusammenhängen … sind nicht ausgewiesen.“ (S. 199) Special Olympics Deutschland stellt in einem Positionspapier von 2012 einen Paradigmenwechsel fest, „bei dem eine Menschenrechts-Perspektive eine medizinisch-defizitorientierte Sicht ablöst.“ (S. 201) Der Deutsche Gehörlosen-Sportverband orientierte sich in seinem Positionspapier (2012) an den Vorgaben des Deutschen Gehörlosen Bundes und ist nicht von den Verbänden des DOSB rezipiert worden (S. 205). Der CVJM hatte bereits 2011/2012 ein Positionspapier vorgelegt, das zwar ein breiteres Inklusionsverständnis als der DOSB (S. 210) zeigte, trotzdem blieben, so Noss, auch hier noch Defizite.

Ad IX:

Sport bleibe eine Herausforderung für die öffentliche Theologie; Religion/​Kirche und Theologie könnten nach Ansicht des Autors Impulsgeberinnen für andere gesellschaftliche Funktionsbereiche sein (S. 215). Der Sport hingegen verfüge nicht über eine entsprechende prinzipielle systemische Offenheit (S. 216) und eine Partnerschaft mit Kirche sei im Sport nicht angestrebt (S. 217), wäre aber möglich über die landeskirchlichen Arbeitskreise „Kirche und Sport“: „Religion/​Kirche wirkt in diesem Zusammenhang als intermediäre Institution (Wolfgang Huber) und im speziellen als >Inklusionsagentin< (Sabine Schäper), um die gesellschaftlichen Diskurse auch im Dialogfeld von Kirche und Sport offen und öffentlich zu führen.“ (S. 218) Wenn jedoch Kirche Partnerin des Sports sein wolle, müsse sie ihr Verständnis von Leiblichkeit und Körper verändern und die „alte Trennung von Leib/Körper und Seele muss zugunsten eines ganzheitlichen Verständnisses überwunden werden.“ (S. 227) Dabei helfen könne die christlich-eschatologische Interpretation Jürgen Moltmanns von Inklusion (S. 228): „Kirche ist also als intermediäre Institution bzw. als Inklusionsagentin gefragt, wenn sie aus ihrem Selbstverständnis heraus gesellschaftlich aktiv wird. Freiheit ist bezogen auch auf die Emanzipation von politischen Mächten, was im Blick auf die Institution immer wieder überprüft werden muss.“ (S. 231) Nach dem Literaturverzeichnis schließt sich noch ein Thesenpapier „Gelebte Toleranz – Integration und Inklusion als Herausforderung für Kirche und Sport“ (S. 257-260) aus dem Jahr 2013 an, verfasst vom 43. Studienkreis des Arbeitskreises Kirche und Sport der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Fazit

Das Buch führt in den Themenbereich Inklusion als verbindendes Thema zwischen Sportorganisationen und Kirche(n) ein und zeigt die Möglichkeiten einer neuen Kommunikationsbasis zwischen den beiden Funktionssystemen der Gesellschaft auf. Geboten wird ein Rekurs zur Theologie Jürgen Moltmanns, die in ihrem Fokus auf das Thema Menschenrechte einen Zugang zur Inklusionsdiskussion geben soll, was grundsätzlich von Bedeutung ist, aber an manchen Stellen in dem Buch zu vage bleibt. Auf der Seite des Sports werde zwar formal in vielen sportpolitischen Erklärungen Stellung zur UN-BRK genommen. Die aktive Umsetzung in den Sportverbänden bis 2018 werde jedoch zu wenig ernstgenommen und zu wenig konkretisiert. Der Weg, dass Sport und Kirche sich als Verbündete im Bereich der Menschenrechte anerkennen, dürfte noch lang sein.

Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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Zitiervorschlag
Wilhelm Schwendemann. Rezension vom 05.11.2021 zu: Peter Noss: Inklusion in Sport und Kirche. Handlungsfeld der Öffentlichen Theologie. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. ISBN 978-3-7887-3409-1. Reihe: Theologische Anstöße - Band 9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28018.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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