Markus Theunert, Matthias Luterbach: Mann sein ...!?
Rezensiert von Christoph Nette, 19.10.2021

Markus Theunert, Matthias Luterbach: Mann sein ...!? Geschlechterreflektiert mit Jungen, Männern und Vätern arbeiten. Ein Orientierungsrahmen für Fachleute. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 156 Seiten. ISBN 978-3-7799-6438-4. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Das Buch von Markus Theunert und Matthias Luterbach ist das Produkt einer Kooperation zwischen dem Zentrum Gender Studies der Universität Basel und dem Schweizerischen Institut für Männer- und Geschlechterfragen. Es ist der Versuch Geschlechtertheorie und praktische Jungen-, Männer- und Väterarbeit in Verbindung zu bringen. Entstanden ist ein Orientierungsrahmen für die geschlechterreflektierte Männerarbeit. Dieser wird in diesem Buch zum einen dargestellt. Zum anderen werden Grundlagen, Ziel und Genese dieses Orientierungsrahmens erläutert.
Autoren
Markus Theunert ist Gesamtleiter von maenner.ch, dem Dachverband Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Zudem leitet er die Fachstelle des Dachverbands: SIMG (Schweizerisches Institut für Männer- und Geschlechterfragen). Er hat in Bern und Basel Psychologie und Soziologie studiert.
Matthias Luterbach ist Assistent und Doktorand im Fachbereich Gender Studies der Universität Basel. Er hat Geschlechterforschung und Soziologie ebenfalls in Basel studiert. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Familien- und Geschlechterverhältnisse in der Schweiz im Spannungsfeld von Persistenz und Wandel (mit besonderem Fokus auf Männlichkeit(en)).
Aufbau
Nach einem Vor- und einem Geleitwort gliedert sich das vorliegende Buch in zwei große Teile.
- Teil I ist überschrieben mit „Grundlagen“ und steckt die beiden Arbeitsfelder der Autoren ab: zum einen klärt Matthias Luterbach inwiefern Geschlechterforschung als Grundlage einer geschlechterreflektierten Männerarbeit dienen kann. Zum anderen gibt Markus Theunert einen Einblick in verschiedene Aspekte der praktischen Männerarbeit. Vorangestellt wird außerdem die Frage nach dem Wozu eines fachlichen Orientierungsrahmens für geschlechterreflektierte Männerarbeit.
- Teil II befasst sich dann mit diesem Orientierungsrahmen und stellt, so gesehen, das Ergebnis der oben beschriebenen Kooperation der beiden Autoren und Institutionen dar.
Inhalt
Im ersten Kapitel, „Wozu ein fachlicher Orientierungsrahmen?“ (S. 14), steckt Markus Theunert in 5 kurzen Abschnitten Anliegen und Grenzen des „Produkt[s] dieses Bemühens“ (S. 15), des später folgenden Orientierungsrahmens, ab. Es wird geklärt, was der Orientierungsrahmen will, was er kann, welche Zielgruppe er hat, was er nicht kann und was er nicht will.
Das zweite Kapitel ist der Geschlechterforschung gewidmet. Matthias Luterbach stellt hier die „geschlechtertheoretischen Zugänge und Zusammenhänge dar, welche für eine geschlechterreflektierte Praxis der Männerarbeit relevant sind“ (S. 27). Dafür wird zunächst geklärt, was es bedeutet geschlechterreflektiert zu arbeiten. Hierzu werden zwei Begriffe eingeführt (entlehnt von Pierre Bourdieu): „Entselbstverständlichung“ (die Kompetenz, die Selbstverständlichkeiten, die sich durch das eigene Geschlecht ergeben kritisch zu hinterfragen) und die „kritische Reflexion geschlechtsbezogener Anforderungen“ (S. 27) (die Kompetenz, gesellschaftlich dominante Vorstellung und Ideen von Geschlecht zu identifizieren und ihre Auswirkungen zu benennen). Es folgt ein längerer Abschnitt über verschiedene Zugänge der Geschlechterforschung. Es wird dargestellt, dass Geschlecht durchaus eine Geschichte hat, bzw. wie sich Geschlecht und Männlichkeit historisch verändern. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit (Reawyn Connell) wird ähnlich kurz erläutert, wie ein Einblick in verschiedene Untersuchungen und Überlegung zur männlichen Sozialisation. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels führt der Autor in eines seiner Arbeitsschwerpunkte ein: Persistenz und Wandel und vor allem der (nach A. Maihofer) „paradoxen Gleichzeitigkeit“ (S. 42) derselben. Anschaulich wird das ganze durch Blicke auf das, was man Transformation von Männlichkeit nennen kann (allgemein) und (speziell), wie sich das am Beispiel Familie zeigt. Abschließend stellt Matthias Luterbach noch die Herausforderungen dar, die er mit Blick auf die Männerarbeit sieht.
Das dritte Kapitel, verfasst von Markus Theunert, ist der Praxis der Männerarbeit gewidmet, und zunächst wird geklärt, was das überhaupt ist, diese Männerarbeit: „Jungen, Männer und Väter sind die Subjekte, mit denen gearbeitet wird – und zwar auf eine geschlechterreflektierte Art und Weise […] und in der Regel durch männliche Fachpersonen“ (S. 53). Auch hier folgt der historische Kontext: Die Entwicklung von Männerarbeit wird in vier Etappen dargestellt (Mitte 1970er bis Ende 1980er Jahre, Ende der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende, 2000 bis ca. 2015, ab 2015) und es wird gezeigt, wie sich eine Vernetzung von Männern professionalisiert und politisiert hat und sich gegenwärtig langsam institutionalisiert und evtl. eine Verankerung in der Regelversorgung erfährt. Im folgenden Abschnitt werden Prämissen und Eckpfeiler der Männerarbeit seit Mitte der 1990er Jahre dargestellt. Als Ergebnis steht ein Vorschlag einer Definition geschlechterreflektierter Männerarbeit: „Geschlechterreflektierte Männerarbeit bezeichnet die fachliche Begleitung von Jungen, Männern, Vätern, älteren Männern und Großvätern zur Stärkung ihrer Beziehungs- und Lebenskompetenzen mit dem indirekten Ziel, ihre konstruktive Beteiligung bei der Schaffung gerechter Geschlechterverhältnisse zu ermöglichen“ (S. 67). Der folgende kurze Abschnitt widmet sich der Frage nach der fachlichen Verortung der Männerarbeit und den möglichen Arbeitsfeldern, bevor der Autor auf die politische Legitimation zu sprechen kommt. Einen größeren Teil dieses Praxis-Kapitels nimmt dann die Darstellung der Zielgruppe ein. Der Frage folgend, was man über die Zielgruppe wisse, werden verschiedene Studienbefunde vorgestellt, die vor allem Einblicke in die Haltung von Männern bzgl. gerechter Geschlechterverhältnisse geben.
Nach diesen Erläuterungen und Darstellungen folgt – in Teil II – der Kern des Buches: der untertitelgebende fachliche Orientierungsrahmen. Dieser wird zunächst in Kapitel 4 hergeleitet und es wird geklärt, was ein fachlicher Orientierungsrahmen ist („ein Kompass, der Fachleuten Orientierung und Trittsicherheit beim Suchen, Erkunden und Beschreiten des eigenen Weges gibt. Er schafft Zugänge in das komplexe Thema geschlechterreflektierter Arbeit und regt zu eigenen Auseinandersetzungen an“ (S. 92)) und, dass er sich insoweit begrenzt, als dass er sich auf die fachliche Haltung und den fachlichen Blick fokussiert, nicht aber die Gestaltung möglicher Interventionen beleuchtet. Außerdem wird rekapituliert, warum es wichtig ist, geschlechterreflektiert mit Männer zu arbeiten, welche Einflüsse aus der Männerarbeit und -politik, sowie aus der Geschlechterforschung in den Orientierungsrahmen Eingang gefunden haben und welchen interdisziplinären Herausforderungen sich die Autoren beim Erstellen des Produkts ausgesetzt sahen.
In Kapitel 5 dann der Orientierungsrahmen selber: Im Mittelpunkt steht das Konzept einer dreifachen Entwicklung. „Geschlechterreflektierte Männerarbeit muss gleichwertig und gleichzeitig unterstützend, begrenzend und öffnend wirken“ (S. 100). Zu den einzelnen Punkten ein kurzer Überblick:
Unterstützen bedeutet den Fokus auf Männer als Individuen wahr und ernst zu nehmen, die sich zunehmend mit unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Männlichkeitsanforderungen konfrontiert sehen. Es gilt das männliche Selbst- und Weltverhältnis des Klienten empathisch-akzeptierend zu erschließen.
Männer in der Gesellschaft fokussiert das Begrenzen. Die Fachperson wird aufgefordert den Klienten wohlwollend herauszufordern, in dem man geschlechtsbezogene Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Dabei werden verschiedene Prozesse für die Begleitung vorgeschlagen: Leidensdruck soll kontextualisiert, die männliche Wahrnehmungsposition als Partikularperspektive markiert werden, es soll ein Bewusstsein für die Privilegien geschaffen werden, von denen Männer profitieren und wie ein differenzierter Prozess der Deprivilegierung aussehen könnte.
Das Öffnen beschreibt abschließend die Ermöglichung einer begleiteten Suchbewegung jenseits heteronormativer, binärer Geschlechterordnungen.
Das Konzept der dreifachen Entwicklung besteht aus diesen drei Punkten, aber auch aus der Balance zwischen ihnen. Als wesentliches Element kommt also auch das Zueinander von Unterstützen, Begrenzen und Öffnen hinzu, das von der Fachperson im Blick gehalten werden muss und ihre Arbeit letztlich auch maßgeblich leitet.
Die ausführlichen Erläuterungen zu den einzelnen Bestandteilen des Orientierungsrahmens werden durch Praxisbeispiele verdeutlicht. Besonders die Frage nach dem Zueinander von Haltung und Manipulation wird in diesen anschaulich. Dieses besondere Spannungsfeld erhält dann auch noch ein kurzes Kapitel, bevor dann abschließend acht Leitsätze und fünf Kompetenzen für die geschlechterreflektierte Männerarbeit postuliert werden.
Das 6. Kapitel trägt die Überschrift „Integration und Ausblick“ (S. 124) und ist ein ‚Gespräch‘ zwischen den beiden Autoren Markus Theunert und Matthias Luterbach. Es gibt Einblick in das Abschlussgespräch und den ergänzenden Mailaustausch am Ende des Projektes.
Diskussion
Es freut immer, wenn die beiden Welten Praxis und Wissenschaft gelungen zusammenkommen. Das ist auch hier der Fall. Die Grundlagen aus der Geschlechterforschung sind präzise und bündig dargestellt, sie bringen – mit Blick auf das Ergebnis Orientierungsrahmen – das zur Sprache, was wichtig ist und wird. Sie erläutern verständlich und durchaus anschaulich, was die Geschlechterforschung als Beitrag für die geschlechterreflektierte Männerarbeit zu bieten hat, und gleichzeitig wird klar, welche Erkenntnisse Fachpersonen in diesem Arbeitsfeld brauchen, um es wirklich professionell zu betreiben.
Matthias Luterbach schafft es genau das zu tun, was er auch in der Überschrift verspricht: sich auf die Grundlagen zu beschränken. Nichts darüber hinaus und doch so interessant und einladend konzipiert und formuliert, dass der Griff zur ausgewiesenen Literatur und ein vertieftes Studium der angeschnittenen Sachverhalte wahrscheinlich ist.
Ähnliches gilt für das Kapitel, das Markus Theunert verantwortet. Die Männerarbeit wird aus den unterschiedlichen Perspektiven sehr informativ dargestellt. Seine schweizerische Perspektive wird zudem um Sachverhalte aus Österreich und Deutschland so gekonnt ergänzt, dass man sich nie unterinformiert fühlt. Vielmehr eröffnet sich ein Spektrum von Herangehensweisen und Entwicklungen, das zum gesonderten Nachdenken anregt. Allein der kurze Abschnitt „3.2 Prämissen und Eckpfeiler“ (S. 62) fällt negativ auf, gleicht er doch eher einer Zitatencollage, um dann kurzerhand und relativ unvermittelt Schlüsse zu ziehen, die als „Verdichtung all dieser Elemente“ (S. 67) eingeführt werden. Eine Einordnung, Sortierung oder weitergehende Bewertung des zu Rate gezogenen Materials wäre schön gewesen.
Kapitel 4 und 5, Herleitung des Orientierungsrahmens und der Orientierungsrahmen selber, sind die konsequente Weiterführung der vorangegangenen Einführungen. Kapitel 4 fragt, was man mit dem Gelernten nun mache. Es fasst gekonnt zusammen und legt die Erkenntnisse des ersten Teils gewinnbringend nebeneinander. Kapitel 5 ist dann der Orientierungsrahmen, der mit seinen drei (bzw. vier) Elementen (Unterstützen, Begrenzen, Öffnen und die Balance der drei) klar gegliedert ist und in der Darstellung der einzelnen Fokusse nur wenige Fragen offenlässt. Dazu tragen vor allem auch die sehr anschaulichen Praxisbeispiele bei, die sowohl die Möglichkeiten, aber auch Grenzen des jeweiligen Elementes gut aufzeigen.
Das abschließende ‚Gespräch‘ ist zunächst vor allem eins: künstlich. Es ist natürlich sehr geglättet und wirkt nicht, als würden sich die beiden Autoren wirklich unterhalten. Hier wird eine journalistische Textsorte versucht, die gerade das vermissen lässt, was bspw. ein Interview ausmachen würde: Authentizität. Das ärgert, vor allem, weil es unnötig ist. Der besprochene Inhalt ist nämlich durchaus interessant und rundet das Buch gut ab. Warum dann nicht einfach ein Schlusskapitel und ein Nachwort?
Fazit
Markus Theunert und Matthias Luterbach legen mit dem Buch „Mann sein …!?“ eine gute Einführung in die geschlechterreflektierte Männerarbeit vor und geben den LeserInnen gleichzeitig einen fachlichen Orientierungsrahmen an die Hand, der zum einen eingängig und nachvollziehbar ist, zum anderen fachliches Handeln nicht einhegt, sondern begleitet. Das Buch eignet sich also für alle Fachpersonen, die neu sind in der geschlechterreflektierten Männerarbeit und auch für diejenigen, die ihre routinierte Praxis reflektieren möchten.
Rezension von
Christoph Nette
Dipl. Theol., M.A. Bildungsreferent im Schulpastoralen Zentrum Fürstenried der Erzdiözese München und Freising
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Zitiervorschlag
Christoph Nette. Rezension vom 19.10.2021 zu:
Markus Theunert, Matthias Luterbach: Mann sein ...!? Geschlechterreflektiert mit Jungen, Männern und Vätern arbeiten. Ein Orientierungsrahmen für Fachleute. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6438-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28023.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
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