Richard J. Bernstein: Denkerin der Stunde
Rezensiert von Dr. phil. Bruno Heidlberger, 06.07.2021

Richard J. Bernstein: Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2020. 140 Seiten. ISBN 978-3-518-42944-0. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR, CH: 20,90 sFr.
Thema
Hannah Arendt (1906-1975) ist längst von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin der modernen politischen Theorie geworden – eine Theorie, die aus den Erfahrungen von Flucht und Staatenlosigkeit schöpfte und zugleich zentrale Phänomene des 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Es gibt viele Linien, die von ihrem Denken ausgehen, eine führt zu dem, was wir heute „Bürgergesellschaft“ oder „Zivilgesellschaft“ nennen. In den posttotalitären Demokratien sah sie Gefahren in der einseitigen Orientierung an Arbeit und Konsum, in der Vereinsamung und Isolation, bürokratischer Apparate, der Abgehobenheit von Politik und der Macht der Lügen. In den letzten Jahrzehnten hat das Interesse an ihrem Denken weltweit zugenommen. Arendts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus führt zur Überzeugung, dass der Sinn von politischem Handeln, die Freiheit, das freie, verantwortliche Handeln ist: Einem auf Intersubjektivität und Pluralität beruhenden Verständnis einer freien politischen Gesellschaft, als einem durch öffentlicher Debatte und politisches Handeln ständig lebendig zu erhaltenden Ort der Zivilisation. Gegen Martin Heidegger und mit Immanuel Kant und Karl Jaspers stimmt sie darin überein: dass „alles Handeln die Verantwortung für die Menschheit mit übernehmen müsse“.
Autor und Entstehungshintergrund
Richard J. Bernstein, geboren 1932, ist Vera List-Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York, an der auch Hannah Arendt bis zu ihrem Tod im Jahr 1975 lehrte.
Er beschäftigt sich unter anderem mit der Hermeneutik, dem Pragmatismus, der Kritischen Theorie und der Dekonstruktion und arbeitet daran, diese Ansätze miteinander in Dialog zu bringen. „Liest man Hannah Arendt heute“, schreibt Richard J. Bernstein, im Klappentext, 'überkommt einen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz.' Bernstein, der Arendt als junger Professor noch selbst kennengelernt hat, bietet anhand zentraler Themen einen kompakten und kritischen Überblick über das Denken der Theoretikerin und zeigt, inwiefern ihr Werk auch heute wieder besonders aktuell ist. Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Why Read Hannah Arendt Now.
Aufbau und Inhalt
Einleitung
Arendt, so Bernstein, sei „ausgesprochen empfindsam für einige der tiefgreifendsten Probleme, Wirrungen und gefährlichen Tendenzen im modernen politischen Leben“ gewesen. Sie hätte aber auch behauptet, „dass wir selbst in den finstersten Zeiten darauf hoffen können, irgendeinen Lichtschimmer zu entdecken ein Licht, das weniger Theorien und Begriffen“ entspringe „als vielmehr dem Leben und der Arbeit von Individuen“ (8). Bernstein will sich auf „zentrale Themen konzentrieren, die für die Probleme und Wirrungen, mit denen wir es heute zu tun haben, von Relevanz sind“. Er „möchte zeigen, warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten – inwiefern ihr Leben und ihr Werk die heutigen finsteren Zeiten erhellen können“ (14f).
Staatenlosigkeit und Flüchtlinge
Bernstein beginnt mit einem Abriss einiger zentraler Stationen ihres Lebens, die ihr Denken prägten. Dies mache, so Bernstein, „ein grundlegendes Merkmal von Hannah Arendt als politischer Denkerin deutlich“. Sie hätte die Ansicht vertreten, „seriöses, ernsthaftes Denken müsse in der eigenen gelebten Erfahrung gründen“ (16f). Arendts „primäre Erfahrung in der Zeit, als sie aus Deutschland entkam, aus Frankreich floh und nach New York gelangte“, sei „die eines staatenlosen deutsch-jüdischen Flüchtlings“ gewesen (17). 18 Jahre lang sei Arendt offiziell staatenlos gewesen, „bis sie amerikanische Staatsbürgerin wurde“. Das sei „der Hauptgrund dafür, dass sie für die Not der Staatenlosen und den bedrängten Status von Flüchtlingen so sensibel“ gewesen war. (10)
1951erschien The Origins of Totalitarianism, „ein Buch mit mehr als 500 eng bedruckten Seiten“ aus dem Bernstein Arendt zitiert: „Staatenlosigkeit ist das neueste Phänomen, die Staatenlosen sind die neueste Menschengruppe der neueren Geschichte“ (21). Sorgsam unterscheide sie, betont Bernstein, „zwischen ‚Nation‘ und ‚Staat‘“, nämlich „dass Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit nicht zu trennen“ seien, „dass nur die nationale Abstammung den Gesetzesschutz wirklich“ garantiere (23). Letztlich hätten realgeschichtlich „Nation und Nationalismus über den Staat und den Schutz von Rechtsansprüchen“ triumphiert. Die „Gefahr dieser Entwicklung“ sei „von Anfang an in der Struktur des Nationalstaats angelegt“ gewesen (24). So behaupteten rechte Parteien heute, „nur wer „wirklich“ zu einer Nationalkultur gehöre, verdiene vollständige Rechte“ (25).
Das Recht, Rechte zu haben
„Der Status des staatenlosen Flüchtlings“, schreibt Bernstein, werfe „die schwierige Frage der unveräußerlichen Rechte und der Menschenrechte auf“ (28). Gehe man zu ihren historischen Ursprüngen zurück hätten „weder die Franzosen noch die Amerikaner“ diese Rechte „allen Menschen zugestehen“ wollen – nicht einmal „allen Menschen, die auf ihrem jeweiligen Territorium lebten“. Entgegen „aller hehren Proklamationen, wonach jeder Mensch von Natur aus Würde“ besitze, habe sich bald gezeigt, dass sich „die Frage der Menschenrechte mit der Frage nationaler Selbstbestimmung“ vermischt habe (29). Hannah Arendt hat dazu vermerkt: „Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden […] Der zweite Verlust der Rechtlosen ist der Verlust jeglichen staatlichen Schutzes“ (32). Bernstein stellt dazu fest: „Millionen Menschen werden heute so behandelt, als seien sie überflüssig.“ Zwar gehörten „totalitäre Regime wie das nationalsozialistische Deutschland und Stalins Sowjetunion der Vergangenheit an, doch wir sollten anerkennen, dass nur ein ganz schmaler Grat dazwischen ver- (34) läuft, ob man Menschen aller Rechte oder ob man sie ihres Lebens beraubt.“ Die totalitäre „Lösung“ der Überflüssigkeit, so Bernstein, verfolge „uns noch immer in einer Welt, in der Millionen Menschen wie Überflüssige behandelt“ würden (35).
Der „beklemmendste Satz“ in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist für Bernstein der letzte Satz des Abschnitts über totale Herrschaft: „So wie in der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären Regime überleben“ 28 (42). In Anbetracht der Tatsache, der „immer weiter anwachsenden Massen an staatenlosen Menschen und Flüchtlingen überall auf der Welt, die behandelt werden, als seien sie überflüssig“, mahnt Berntsein, „sollten wir Arendts Warnung ernst nehmen, dass zwischen der Zerstörung des Rechts, Rechte zu haben, und der Vernichtung von Leben nur eine schmale, fragile Trennlinie“ verlaufe (43).
Loyale Opposition: Arendts Kritik des Zionismus
Als Hannah Arendt 1933 aus Deutschland floh, war sie erschüttert, dass viele ihrer engsten Freunde und Bekannten die Nationalsozialisten tolerierten oder sogar mit ihnen zusammenarbeiteten. Sie beschloss Deutschland zu verlassen, um aktiv Widerstand gegen die Nazis zu leisten. Arendt schloss sich keiner zionistischen Partei an und dachte nie an eine Alija (eine Einwanderung bzw. »Rückkehr«) nach Palästina. (44) Als „Grund für ihre Zusammenarbeit mit den Zionisten“ nennt Bernstein, ihren Entschluss, politisch aktiv gegen Hitler und die Nazis zu kämpften. In dem Moment als „immer mehr grausame Details über den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden ans Licht kamen“, so Bernstein, sahen (die Zionisten) die Chance gekommen, einen Judenstaat zu gründen“ (46). Zum Dissens mit den Zionisten kam es im Oktober 1942 auf einem Treffen amerikanischer Zionisten als eine Resolution verabschiedet wurde, die die ‚Araberfrage‘ ignorierte. (31). Arendt war gegen „die Teilung Palästinas in zwei Nationalstaaten“. Der Nationalstaat sei für sie keine brauchbare Lösung gewesen. Sie favorisierte hingegen einen föderativen Staat (53). „Angesichts des hysterischen Klimas, das damals herrschte, habe Arendt gewusst, dass ihr „Vorschlag für einen föderativen Staat auf der Grundlage lokaler jüdisch-arabischer Räte von den Zionisten als ‚Dolchstoß‘ verunglimpft“ werden würde (54 ). Bernstein verweist auf Arendts „außerordentlich feines Gespür für die tiefsitzenden Probleme und ungelösten Fragen“ wie auf die „bemerkenswerte Relevanz“ ihrer Beobachtungen und Warnungen, die auch heute, trotz aller Veränderungen, die sich im Nahen Osten seit den vierziger Jahren vollzogen haben, akut sind (55).
Rassismus und rassistische Segregation
Arendt sei ihr ganzes Leben lang „an hitzigen Kontroversen beteiligt“ gewesen. Sie habe ihre „Ansichten so deutlich wie möglich zum Ausdruck“ gebracht, „oftmals einen empfindlichen Nerv“ getroffen, aber auch „scharfe Kritik auf sich“ gezogen. Ein heftige Kontroverse löste sie aus, als sie Reflections on Little Rock (Little Rock) veröffentlichte. Anfang der 50er Jahre hatte der Oberste Gerichtshof der USA einstimmig verfügt, dass die rassistische Segregation an öffentlichen Schulen gegen den Vierzehnten Verfassungszusatz verstieß (56f). Am 4. September 1957 machte sich Elizabeth Eckford, ein vierzehn Jahre altes schwarzes Mädchen, zu ihrem ersten Schultag auf. Der Gouverneur von Arkansas hatte die Nationalgarde seines Bundesstaates angewiesen, ihr und anderen den Zutritt zur Schule zu verwehren.
Kurz nach diesem Ereignis, berichtet Bernstein, hätten „die Herausgeber des Commentary Arendt um einen Beitrag über Little Rock“ gebeten. Der Artikel, den sie ablieferte, wurde als hetzerisch und beleidigend beurteilt und nicht veröffentlicht. Daraufhin habe Arendt den Text zurückgezogen (57). 1959 veröffentlichte Arendt den Text schließlich in der Zeitschrift Dissent. Darin behauptete sie, so Bernstein, „gesellschaftlicheDiskriminierung dürfe nicht mit politischenMitteln abgeschafft werden“. Wollten „weiße Eltern ihre Kinder an Schulen schicken, an denen nur weiße Kinder seien, so habe die Regierung kein Recht, sich hier einzumischen“. Nach Meinung Arendts, sei „Bildung Privatsache“, und die Regierung habe sich „nicht in elterliche Entscheidungen darüber einzumischen, wie sie ihre Kinder erziehen wollten“. (58) Mit dieser Begründung, folgert Bernstein, sei Arendt jedenfalls „nicht in der Lage“ gewesen, die „katastrophalen Folgen einer feindseligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Schwarzen in Amerika wirklich zu begreifen“. Obwohl Arendt nur selten von ihrer Meinung abgerückt sei, habe sie doch in diesem Fall etwas später ihre Fehleinschätzung eingeräumt (60).
Auf der Suche nach den „Elementen, aus denen sich der Totalitarismus kristallisierte“, richtete sie in der Folge ihren Blick in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft „auf den Rassismus, der dem Imperialismus innewohne“. Der „imperialistische Rassismus“ ‚rechtfertigte‘, so Arend, „das brutale administrative Massaker an Millionen Afrikanern als legitime Form der Außenpolitik“. Dieser „imperialistische, mörderische, ideologische Rassismus“ hätte „die rassistische Ideologie der Nazis vorweggenommen (61). Ihr Leben lang habe Arendt „jegliche rassistische Ideologie“ verurteilt. In ihrem Essay Macht und Gewalt, betone sie,Rassismus sei, „im Unterschied zur Rasse selbst, keine tatsächliche Gegebenheit, sondern eine zur Ideologie entartete Meinung“, und die Taten, zu denen er führe, seien „keine bloßen Reflexe, sondern Willensakte, die sich logisch aus gewissen pseudowissenschaftlichen Theorien“ ergeben würden (62).
Bernstein merkt rückblickend kritisch an: „Obwohl Arendt um den gewaltsamen Charakter des Rassismus als ideologischem System im europäischen Kontext“ gewusst habe, habe sie „seine Relevanz für die Erfahrung der Schwarzen in Amerika“ nicht verstanden (62). Sie hätte durchaus auf ihre „eigene Erfahrung zurückgreifen“ können, wie sie einmal in einem Interview erklärte, „wenn man als Jude angegriffen werde, müsse man sich als Jude verteidigen“ (63). „Warum sollte das nicht genauso für Schwarze gelten, wenn sie eindeutig als Schwarze angegriffen werden?“, fragt Bernstein (64).
Arendts Argumentation in Little Rock lasse sich „mit gutem Grund kritisieren“, doch blicke „man von heute aus auf diesen Text“, sollte man auch „anerkennen, wie hellsichtig sie“ gewesen sei. Hannah Arendt selbst war skeptisch, ob „Bürgerrechtsgesetze der Diskriminierung ein Ende“ machen würden. Sie glaubte, „die USA hätten sich nie ehrlich mit dem ‚zum Ursprung der Vereinigten Staaten gehörenden Verbrechen‘ auseinandergesetzt, die Schwarzen und die Ureinwohner vom ursprünglichen consensus universalis der amerikanischen Republik ausgeschlossen zu haben“, so Bernstein (65). Arendt sei damals sogar verspottet worden „wegen ihrer Behauptung, die Gesetze zur Mischehe, die es in 29 Bundesstaaten gab – Gesetze, die Eheschließungen und sexuelle Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen verboten –, seien ein viel eklatanterer Verstoß gegen die Verfassung als die rassistische Segregation an Schulen“ (65). Erst 1967 habe der Oberste Gerichtshof diese Gesetze für verfassungswidrig erklärt. Für Bernstein war Arendt „ihrer Zeit auch voraus“, als sie erklärte: „Das Recht zu heiraten, wen man will, ist ein elementares Menschenrecht“. Auch wenn Arendt mit ihren Argumenten zuweilen falsch gelegen habe, zeigte sich bei ihr „eine herausragende Tugend: ihr Mut zum Nonkonformismus“ (66).
Die Banalität des Bösen
Als Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1963 im New Yorker veröffentlicht wurde, griff man sie scharf an: Sie entlaste Eichmann und hätte ihn sympathischer erscheinen lassen als seine jüdischen Opfer. Sie habe die Juden beschuldigt, sie hätten „an ihrer eigenen Vernichtung mitgewirkt“. Das Schlagwort von der ‚Banalität des Bösen‘ schien die Vernichtung von Millionen Juden zu trivialisieren. Einige ihrer ältesten und engsten Freunde brachen die Beziehung zu ihr ab (67).
„Ihre kurze Erörterung der Rolle der Judenräte“, habe nach Überzeugung Bernsteins, „zu Recht für reichlich Empörung“ gesorgt (68). Der Vorwurf, Arendt habe Eichmann entlastet, sei jedoch „völlig aus der Luft gegriffen“. Für sie sei er einer der „größten Verbrecher“ der damaligen Zeit. Wenn sie das Schlagwort von der „Banalität des Bösen“ verwende, propagiere sie „keine Theorie über (69) das Böse der Nationalsozialisten“, sondern beschreibe, was „ihr als Tatsache“ erschienen sei. Eichmanns Taten waren ungeheuerlich, er sei aber kein Ungeheuer (70).
Seit der Veröffentlichung von Eichmann in Jerusalem, notiert Bernstein, werde „breit darüber diskutiert, wie zutreffend Arendts Darstellung von Eichmann“ ist. Bernsteins Ansicht nach sei sie „nicht besonders zutreffend.“ Wir wüssten heute „viel mehr über EichmannsVergangenheit in Deutschland sowie über sein Leben in Argentinien“ (72). Bernstein stimmt „der Einschätzung des renommierten Holocaustforschers Christopher Browningzu“, der schreibt: „ ‚Ich betrachte Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ als äußerst wichtige Erkenntnis, um viele Täter des Holocaust zu verstehen, nicht aber Eichmann selbst. Arendt ließ sich von Eichmanns Strategie der Selbstdarstellung zum Teil gerade deshalb täuschen, weil es tatsächlich so viele Täter der Art gab, wie er einer zu sein vorgab.‘“ (73)
Der Autor ist überzeugt, dass die „Vorstellung von der Banalität des Bösen“ […] extrem wichtig und, richtig verstanden, von enormer Relevanz für uns Heutige“ sei. (73) Arendt gehe es vor allem darum, dass „wir das Böse nicht mythologisieren sollten“ (74). Die Vorstellung von der Banalität des Bösen sei „auch heute noch relevant“, denn wir müssten uns „mit der Tatsache auseinandersetzen, dass man kein Monster sein muss, um schreckliche Verbrechen zu begehen“. (75)
Wahrheit, Politik und Lüge
Wie Berstein berichtet, hatte Arendt „das Gefühl, über ihren Bericht über den Eichmann-Prozess seien alle möglichen Lügen in Umlauf“. Sie habe deshalb „ganz grundsätzliche Fragen über Lüge, Wahrheit und Politik aufwerfen“ wollen. Wie man meine, mutmaßt Arendt in ihrem Essay Wahrheit und Politik, scheint „Lügen zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören“. Arendt fragt: „Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen?“ Zur Beantwortung dieser Frage bemüht Arendt auch die politische Geschichte.
So sei ein „zentrales Thema“ von Platons Staat „der Konflikt zwischen Philosophie und Politik – zwischen philosophischer Wahrheit und politischer Meinung“ (77f). Bernstein zitiert Arendt: „In diesem Zusammenhang wurde die Meinung als der eigentliche Gegensatz der Wahrheit etabliert und mit bloßer Illusion gleichgesetzt“ (78). Entgegen der philosophischen Tradition, Meinungen gering zu schätzen, preist Arendt Meinung als konstitutiv für politische Macht und den „Meinungsstreit als konstitutiv für Leben und Würde der Politik“ (79). Individuen hätten nicht einfach Meinungen; sie bildeten „Meinungen im Zuge und mit Hilfe der öffentlichen Debatte“ (78). Nach Arendt gebe es „keinen feststehenden, dauerhaften Test für die Angemessenheit von Meinungen, keine andere Beurteilungsinstanz als die des besseren Arguments in der öffentlichen Debatte“. Aus diesem Grund erfordere, so der Autor, „die Meinungsbildung eine Gemeinschaft von politisch Gleichen sowie die Bereitschaft, Meinungen preiszugeben und der Kritik auszusetzen“ (80).
Das „Gegenteil von Vernunftwahrheit“ ist nach Arendt „Unwissenheit und Irrtum, das Gegenteil der Tatsachenwahrheit hingegen ist das bewusste Lügen“ (82). Vernunftwahrheiten als Grundlage der Macht spielten in der Politik kaum, Tatsachenwahrheiten hingegen eine große Rolle. Beängstigend für uns sei, was „früher ganz unverhohlen in totalitären Gesellschaften geschah“, werde „heute von führenden Politikern praktiziert“. Es bestehe „ständig die Gefahr, dass wirkungsvolle Überzeugungsmethoden dazu verwendet“ würden, „Tatsachenwahrheiten zu leugnen, Fakten in bloße Meinungen zu verwandeln und eine Welt ‚alternativer Fakten‘ zu schaffen“ (83). Bernstein erklärt diese Entwicklung so: „Die Menschen sind besessen von dem Wunsch, der harten Realität ihres Alltagslebens zu entfliehen, weil sie ihren gesellschaftlichen Status verloren“ hätten und „die ihnen vertraute Welt verschwunden“ sei. „Menschen, die das Gefühl“ hätten, „sie seien abgehängt und vergessen“, sehnten „sich nach einem Narrativ, das den Ängsten und der Not, die sie erleben, einen Sinn“ gebe – „einen Sinn, der Erlösung von all ihren Sorgen“ verspreche. In einer solchen Situation könne „ein autoritärer Führer die Ängste der Menschen ausnutzen und die Unterscheidung zwischen Lügen und Realität verwischen“ (85). Donald Trump habe gelogen als er behauptete, „die Menschenmenge, die bei seiner Amtseinführung zugegen war, sei größer gewesen als jede andere zuvor zu diesem Anlass zusammengekommene; obwohl er nicht die Mehrheit der Stimmen gewann“, sei er beharrlich dabeigeblieben, „das sei auf millionenfachen Wahlbetrug zurückzuführen“ (86). Arendt habe schon damals gewusst: „Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht“ (88).
Zum Schluss des Kapitels hebt Bernstein hervor: Arendt hätte es „mit Sicherheit sehr kritisch“ gesehen, „wenn man simple Vergleiche zwischen der heutigen Welt und totalitären Regimen ziehen“ würde. „Beängstigend“ aber seien – und „das sollte uns eine Warnung sein – all diese Ähnlichkeiten zwischen organisierter Lüge, fiktionaler Image-Pflege, Täuschung und Selbstbetrug, wie sie heute vorherrschen, und den Methoden, die totalitäre Regime zur Perfektion getrieben haben“ (91). Ihre positive Idee von Politik liefere uns „einen wichtigen Maßstab, um einschätzen zu können, was heute in der Politik“ fehle – „ein weiterer Grund, warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten“. (93)
Pluralität, Politik und öffentliche Freiheit
In Vita activa analysiert Arendt das „tätige Leben“, das traditionell der vita comtemplativa, dem „betrachtenden Leben“ gegenübergestellt wurde. Sie unterscheidet drei Formen des Handelns, welche die vita activa umfassen: Arbeiten, Herstellen, Handeln (96). „Was meint Arendt, wenn sie davon spricht, das Handeln entspreche der menschlichen Bedingtheit der Pluralität?“, fragt Bernstein. Pluralität bedeute, so Bernstein weiter, „dass jeder von uns eine ganz eigene Sicht auf die Welt“ habe (97). Wir handelten aber „gemeinsam mit unseren Mitmenschen“ und offenbarten, „wer wir als besondere Individuen“ seien (98). In den Augen Bernsteins sei eines von Arendts „originellsten Konzepten […] die Idee des öffentlichen Raums“, die er im Folgenden kurz darstellt. Öffentliche Räume existierten nicht „von Natur aus“; sie müssten „von Menschen künstlich geschaffen werden“. Es sind Räume, in denen wir „in Diskussion miteinander handeln, reden, Meinungen bilden und überprüfen“. Politik entstehe nach Arendt „zwischen Menschen“. Als ursprüngliche „für das Handeln erforderliche ‚Staatsform‘“ bezeichnet Arendt die Polis. Politik sei für sie „eine Form des Nicht-Herrschens“. Sie bedeute nicht, dass „ein Individuum oder eine Gruppe über andere“ herrscht. „Wesentlich für die Politik“ sei „vielmehr politische Gleichheit“; wir debattierten und handelten immer unter Gleichen (98 f.). „Das Eindrucksvolle an Arendts Charakterisierung der öffentlichen Freiheit“, meint Bernstein abschließend, sei aber gerade, „dass sie bei ihr im Gegensatz zu allen Formen autoritärer Unterdrückung und Herrschaft“ stehe (104).
In ihrem Essay über Macht und Gewalt zitiert Hannah Arendt den amerikanischen Soziologen C. Wright Mills, der mit Nachdruck betont: „Alle Politik ist Kampf um die Macht; aufs höchste gesteigerte Macht ist Gewalt“ (104). Macht und Gewalt, so der Autor, liesen sich nach Arendt nicht nur unterscheiden, „es handelt sich vielmehr sogar um gegensätzliche Begriffe“. Wo „wahre Politik“ regiere, herrsche „rationale Überredung, nicht Gewalt“. Wo Gewalt regiert, „zerstört sie Macht“ (105). Für Arendt gelte: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er »habe die Macht«, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln“ (105) (Macht und Gewalt, S., 45). Das Bemerkenswerte an Arendts Konzeption von Macht und ihrem Politikverständnis sei aber, dass man sie „nicht als vertikal, als hierarchisch begreifen“ dürfe. Macht sei bei Arendt „ein horizontaler Begriff: Sie entspringt und gedeiht, wenn eine Vielheit von Individuen gemeinsam handelt und sich gegenseitig als politisch Gleiche“ behandele (106).
Um Arendts Ausführungen der Politik abzuschließen – „eine Beschreibung, welche die Würde von Politik deutlich machen“ solle, möchte Bernstein „die Rolle von Überredung und Urteilskraft in der Politik erörtern“. Sie denke „dabei an Kants Analyse der reflektierenden Urteilskraft, eine Art des Nachdenkens über das Besondere, die das Besondere nicht unter irgendeine allgemeine Regel“ subsumiere. Urteilskraft erfordere „Unterscheidung und die Erkenntnis, was das Besondere an einer bestimmten Situation ist, mit der man es zu tun“ habe. Urteilskraft verlange eine ‚erweiterte Denkungsart‘, „die darin besteht, dass man mit Hilfe der Vorstellungskraft in der Lage ist, an der Stelle jedes anderen zu denken“ (109).
Die Amerikanische Revolution und der revolutionäre Geist
Bernstein möchte im folgenden Kapitel der Frage nachgehen, inwiefern Arendts „Analyse von Sinn und Würde der Politik“ auch für uns heute noch relevant ist (111). Anders als „viele Historiker, die die Amerikanische Revolution mit dem Befreiungskrieg gleichsetzen“, betone Hannah Arendt, „das wahrhaft revolutionäre Element sei der Verfassungsakt gewesen“. Dort hätten „Debatte, Beratung, Streit und Meinungsaustausch“ stattgefunden und „öffentliche Freiheit“ manifestiert (115). Der Punkt: „Die Gründerväter handelten gemeinsam, um ein neues Gemeinwesen, eine neue Republik zu schaffen.“ Für Arendt sei deshalb die „Amerikanische Revolution einer jener besonderen Momente in der Geschichte, in denen sich Sinn und Würde von Politik konkret manifestiert“ hätten (117). Gleichwohl konfrontierte sie uns Heutige mit der Frage: „Wie konnte man stabile und dauerhafte politische Institutionen schaffen, damit die öffentliche Freiheit und das öffentliche Glück, […] weiterhin gedeihen konnten“ (117 f.)? Arendt notierte dazu: „Nicht das Volk, sondern nur seine gewählten Repräsentanten hatten Gelegenheit, sich wirklich politisch zu betätigen, was heißt, dass nur sie in einem positiven Sinne frei waren« (Arendt, Über die Revolution, S. 302). Als „Beispiele für die Manifestation des revolutionären Geistes“, so Bernstein, nennt „Arendtdie französischen sociétés révolutionnaires, die Pariser Kommune von 1871, die russischen Sowjets, die 1905 und dann wieder 1917 geschaffen wurden, sowie die Räte, die in Deutschland im Zuge des Spartakusaufstands entstanden“. Als diese Räte in Erscheinung traten, seien sie als spontane Organe des Volkes entstanden, aber auch ebenso rasch zerschlagen worden – oft (119) von ‚Berufsrevolutionären‘. Es sei dieser ‚verlorene Schatz‘, so Bernstein, „den Arendt zurückgewinnen“ wolle, als „Benennung einer realen Möglichkeit, die in unserer Gebürtlichkeit“ wurzele, „in unserer Fähigkeit, zu handeln, etwas in Gang zu setzen, mit etwas Neuem zu beginnen“ (121).
Trotz aller Begeisterung, die Arendt für das Rätesystem empfand, glaube Bernstein „nicht, dass sie das Problem, das Thomas Jefferson so sehr umtrieb, je gelöst hat – nämlich wie man eine stabile, dauerhafte politische Institution entwickelt, in der der revolutionäre Geist ein Zuhause findet“ (122). Aber Arendt erkenne „etwas Wichtiges, was den Geist dieser Räte“ angehe und „was für uns heute nach wie vor relevant“ sei: „Sie bringt zum Ausdruck, was viele Menschen heutzutage in ihrem tiefsten Innern empfinden“ (122). Arendt formuliere hier, bemerkt Bernstein, „was für sie stets grundlegend war und was auch für uns fundamental sein sollte – der Wunsch der Menschen, dass ihre Stimme in der Öffentlichkeit Gehör findet, dass sie an der Gestaltung ihres politischen Lebens wirklich teilhaben können“ (123). Die Parteien seien „dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh“, zitiert Bernstein Arendt (100) in Macht und Gewalt. (Arendt, Macht und Gewalt, S. 132 f.)
Was Arendt heute so aktuell mache, bemerkt Bernstein am Ende dieses Kapitels, sei die „Mischung aus ihren düsteren Warnungen vor herrschenden Tendenzen in der Gesellschaft, ähnlich denen, die sich im Totalitarismus“ kristallisierten, und ihrer „tiefen Überzeugung, dass Menschen zusammenkommen und gemeinsam handeln können, dass sie ihre öffentliche Freiheit ausüben und dem Gang der Geschichte eine Wendung geben“ könnten (124).
Persönliche und politische Verantwortung
Zum Schluss seines Essays diskutiert der Autor den Begriff der Verantwortung bei Arendt. Verantwortung sei bei ihr ein Thema, das in „seinen zahlreichen Varianten“ ihr gesamtes Leben und Werk durchziehe, „nämlich die Notwendigkeit, Verantwortung für unser politisches Leben zu übernehmen“ (125 f.). Arendt sei eine „gnadenlose Kritikerin“ einer deterministischen Geschichtsphilosophie, „aller expliziten oder impliziten Berufungen auf irgendeine historische Notwendigkeit“ (126). „Ihre Suche nach dem Sinn und der Würde von Politik“ bemerkt Bernstein, „sollte ein Akt der Rettung und der Wiedergewinnung sein.“ Arendt sei es immer darum gegangen, „den revolutionären Geist lebendig halten – die spontane Schaffung von Räumen fassbarer, weltlicher, öffentlicher Freiheit“ (128). Vor allem müssten wir „der Versuchung widerstehen, aus der Politik auszusteigen und uns dem Glauben hinzugeben, angesichts der aktuellen Abscheulichkeit und Verdorbenheit könne man ohnehin nichts machen“. Wir würden dann auch „zulassen, dass wir am Schlimmsten mitschuldig werden“. Arendts „lebenslanges Projekt“ habe darin bestanden, „zu verstehen, zu begreifen, und zwar so, dass wir auf ehrliche Weise mit der Finsternis unserer Zeiten und mit den Quellen des Lichts konfrontiert“ sind (128). Richard J. Bernstein empfiehlt uns Hannah Arendt lesen, „weil sie die Gefahren, mit denen wir es nach wie vor zu tun haben, so scharfsichtig erkannt und uns davor gewarnt“ habe, „darüber gleichgültig oder zynisch zu werden“. Insbesondere habe sie uns dazu gedrängt, „Verantwortung für unser politisches Schicksal zu übernehmen“ (129).
Diskussion
Hannah Arendt gehört zu jenen Autoren, die seit Jahren in aller Munde sind. Ob in Europa, Japan, China, Brasilien oder Australien, Arendt gilt nach wie vor als eine der wichtigsten Denkerinnen der politischen Theorie. Dies hat auch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und Marxismus in Osteuropa zu tun. Vieles, was Arendt dazu gesagt hatte, schien sich zu bestätigen. Hatte sie doch darübergeschrieben, wie Macht entsteht, wenn Menschen aus ihrer Privatheit in die Öffentlichkeit treten und einen Neuanfang versuchen. Ebenso warnte sie vor dem Schiffbruch der Freiheit auf den Klippen der Armut und Not. Dies schien sich in der postkommunistischen Ära, insbesondere in Russland, aber auch im arabischen Frühling, zu bestätigen. Gleichwohl unterschätzte sie als Denkerin „aus finsteren Zeiten“ die Fähigkeit der Demokratisierung von Parteien und Gesellschaft in Deutschland nach 1968, die Kraft der Zivilgesellschaft wie die Lebendigkeit der parlamentarische Demokratie.
Alle großen Revolutionen der Geschichte begannen auf der Straße. Seit Jahren nimmt die Zahl der Demonstrationen zu – weltweit. Von Belarus bis Honkong. Zivilgesellschaften kämpfen überall für Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Das Internet hat die Proteste, aber auch den Charakter der Öffentlichkeit verändert. Es ist leichter geworden sich spontan zu versammeln. Plötzlich waren sie da. Jeden Freitag gingen sie für den Klimaschutz und für ein gutes Leben auf die Straße – bis Corona kam.
Was hat das mit Hannah Arendt zu tun? Für Arendt besteht genau darin der Sinn der Politik, im spontanen Schritt zu den anderen, hin zu einem „Wir“, dem Zusammenhandeln in einem gemeinsam geschaffenen öffentlichen Raum. „Wahres politisches Handeln“, so Arendt, zeige sich „als Gruppenakt.[…] Und bei allem, was immer Sie allein tun, sind Sie wirklich kein politisch Handelnder, sondern dann sind Sie ein Anarchist“ (Arendt, 1996, 81) [1]. So kann politische Macht entstehen. Die Macht der vielen zeigt sich im gemeinsamen Handlungsvollzug als weltverändernde Praxis: Aktionen sind politisch, wenn sie die Welt verändern. Hier stimmt Arendt als Radikaldemokratin mit dem frühen Marx überein. Diesen Schritt kann man nicht von oben delegieren, man muss ihn persönlich machen. Dort, wo Menschen zu Hause bleiben und alles den Parteien überlassen, kann man nach Arendt nicht von politischer Freiheit sprechen. Handeln erfordert Mut. Da Handeln „letztlich nicht rational begründet werden“ könne, so Arendt, mache sich der Handelnde „immer schuldig“ (Arendt, 1992, 187). In der Bereitschaft der Menschen, einander wechselseitig zu verzeihen, könne der Raum des Politischen immer wieder neu geboren werden.
Handelnde Menschen zeichneten sich durch Weltzugewandtheit, Spontaneität und Verantwortung aus: Machiavelli, die amerikanischen Gründerväter, Rosa Luxemburg, Rene Char, Bernard Lazare und Judah Mangnes. Was Arendt bewundert, ist der Verzicht auf die vorrangige Sorge um sich selbst. Ihr Handeln sei keine Frage der Intelligenz, sondern der Herzensbildung. In vormodernen Zeiten fände man sie bei den hommes des lettres: Montaignes, Montesquieus.
Was im Selbstverständnis der Neuzeit als großer Fortschritt galt, Emanzipation der Arbeiterschaft und der Frau, wird von Arendt als sekundäre politische Leistung gesehen. Die Amerikanische Revolution ist deshalb für Arendt das Paradigma einer wahrhaft geglückten Revolution. Sie war eine politische ohne soziale Revolution, eine Staatsgründung ohne Klassenkampf. Den Ursprung allen Terrors, zunächst in der Französischen, dann in der Russischen Revolution, sieht sie im Vorrang des Sozialen, in der Gefahr, die aus der Armut erwächst. Die „tobende Gewalt, mit der sich das Elend Luft“ mache, ziehe „ihre elementare Kraft aus der „Notwendigkeit, die allem Biologischen als solchem innewohnt“ (Arendt, 1974, 143) [2].
Gleichwohl begeisterte sich Arendt für die Geschichte der Arbeiter-, insbesondere der revolutionären Rätebewegungen und sympathisierte mit der radikaldemokratischen Studentenbewegung der späten 60er Jahre und ihre „Lust am Handeln“ und ihre „Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können“ (Arendt, 1969, 107) [3]. Diese Generation, die „ausschließlich aus moralischen Motiven“ handele, habe erfahren, „dass das Handeln Spaß“ macht; „das 18. Jahrhundert“ habe das ‚public happiness‘, das Glück des Öffentlichen genannt“. Wenn der Mensch handele, so Arendt, erschließe sich ihm ein „bestimmte Dimension menschlicher Existenz“, die ihm „sonst verschlossen“ bleibe und die „irgendwie zum vollgültigen Glück“ gehöre (109). Manche Ziele der Bewegung, wie in Amerika, begrüßte sie, andere hielt sie „für verstiegen und gefährlichen Unsinn“, wie etwa die Politisierung und Umfunktionierung der Universitäten und ähnliche Dinge“ (107).
In einem Brief an Karl Jaspers vom Juni 1968 notierte sie: „Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848“ (Arendt, Jaspers, Briefwechsel, 715 f.) [4]. 1970 Jahre änderte sich ihr Urteil. In einem Interview mit Adalbert Reif kritisierte sie die „theoretische Sterilität“ (111) und die Realitätsferne (117) der westdeutschen Linken; statt mit dem Vietnam-Krieg, hätte sie sich lieber mit der Oder-Neiße-Grenze und der deutschen Teilung (Arendt, 1969, 114) beschäftigen sollen. Manche Ziele teilte Arendt, andere hielt sie „für verstiegen und gefährlichen Unsinn“ (23). Sie hielt ihnen „unsinnige Schlagworte“ aus „marxistischen Restbeständen“ (23), wie „‚Polizeistaat‘, ‚latenter Faschismus des Spätkapitalismus‘, Dritte Welt‘ oder, mit erheblich mehr Berechtigung Konsumgesellschaft‘“, (Arendt, 1969, 18, 25) vor. Die „Prediger der Gewalt“, wie Jean-Paul Sartre, die nicht gemerkt hätten, dass sie keine Marxisten sind, seien realitätsferner als Sorel oder Marx es je gewesen wären.
Dass „man die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts mit Kategorien des neuzehnten zu verstehen“ suchte zu erklären (27, 111) führte Arendt jedoch weniger auf die intellektuelle Unfähigkeit dieser Generation zurück als auf ihren „Konservatismus“, den Fortschrittsbegriff, „der seit mehr als hundert Jahren der gesamten Linken von den Liberalen über die Sozialisten zu den Kommunisten gewissermaßen heilig gewesen ist“ (28), aufzugeben und den wir nirgends auf so einem „hohen geistigen Niveau“ fänden wie bei Karl Marx.
„Was die Studenten überall auf der Welt gemeinsam hätten“, sei „dass sie sich überall gegen die bestehenden Bürokratien“ richteten. Überall sei es den „ungeheuren Parteiapparaten“ gelungen, die Staatsbürger, inklusive der Parteimitglieder völlig zu entmachten“ (80). Die „einzige positive Losung der neuen Bewegung, der Ruf nach ‚Mitbestimmungsdemokratie‘, stamme „aus dem Besten der revolutionären Tradition: dem Rätesystem“. Dazu bedürfe es nicht der Gewalt. Dies Tradition lasse sich aber „weder dem Wortlaut noch dem Sinn nach bei Marx und Lenin nachweisen“. Sie hätten nur als „vorübergehende Organe revolutionärer Aktion“ (25) gegolten. Spontane Rätebildungen, unabhängig von allen Theorien, könne man in allen Revolutionen nachweisen – nämlich aus der Erfahrung des Miteinander-Handelns und aus dem Mitbestimmen-Wollen“ (131). „Das Räte-System scheint“, so Arendt, „im Wesen des Handelns zu liegen“ (132). Im Rätestaat sieht Arendt folglich einen Ansatz für einen neuen Staatsbegriff, ein föderales System, „das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und schließlich zu einem Parlament führt“ (132). Räte sollen die Nachteile einer nach Parteien organisierten Volksvertretung, die durch Klasseninteressen bestimmt sei, überwinden.
Das Dilemma der Revolutionen liegt für Arendt im Scheitern der Verstetigung und Institutionalisierung des revolutionären Geistes. Bereits der radikale Demokrat unter den Vätern der amerikanischen Verfassung, Thoms Jefferson, so Arendt „hatte eine Ahnung davon, wie gefährlich es sein könnte, dem Volk nicht mehr Platz in der Öffentlichkeit einzuräumen als die Wahlurne“. Dies könne nur „darauf hinauslaufen, einem Volk von Privatleuten alle Macht auszuliefern, da sie ja als Bürger kaum eine Funktion“ hätten (Arendt, 1965, 324) [5].
Arendt sieht den Sinn von Revolutionen in „der Verwirklichung eines der größten und grundlegendsten Potenziale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwachse „die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum geöffnet zu haben“ (Arendt, 2018, 38) [6]. Für Arendt ist der Sinn der Politik Freiheit. Nicht allein Freiheit von Unterdrückung und Zwang, sondern „frei zu sein für einen Neuanfang“ – im besten Falle für die Beteiligung an den Regierungsgeschäften. Diese Art Freiheit, also „ein politisches Leben zu führen“ (Arendt 2018, 16), realisiert sich beim Zusammenwirken von Freien und Gleichen im politischen Raum, wo man um die richtige Form des Zusammenlebens streitet. Sie setzt aber die Befreiung der Individuen von Zwang und Not schon voraus. Es seien „nie die Erniedrigten und Beleidigten selber“ gewesen, die eine spontane politische Bewegung in Gang setzten, „sondern diejenigen, die nicht erniedrigt und beleidigt waren, es aber nicht ertragen konnten, dass andere es waren“ (Arendt, 1994, 108 f.) bemerkt Arendt in ihrem Essay Macht und Gewalt. Wer weiß heute noch, dass der Gründer der deutschen Sozialdemokratie Ferdinand Lassalle, ein Unternehmersohn war? Die amerikanischen Bürger und die französischen Intellektuellen, die die großen Revolutionen in Gang setzten, waren schon frei. Sie lebten von ihren Renten.
Im Zentrum von Arendts Denken steht der Totalitarismus und seine Entstehung. Wenn sie von Totalitarismus sprach, meinte sich nicht alle kommunistischen und rechtsgerichteten Regime, sondern den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Mussolinis Faschismus zählte sie nicht dazu. Die Gewichtung des Terrors und die Konzentrations- und Vernichtungslager galten für sie als die entscheidenden totalitären Merkmale. Als erste Theoretikerin hat Arendt das Phänomen des Totalitarismus, der inmitten der abendländischen Zivilisation entstanden ist, als eine völlig neue Form politischer Macht, als Phänomen der Weltentfremdung, analysiert. „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung“, wie bei Karl Marx, ist für Arendt das „Kennzeichen der Neuzeit“ (Vita activa, 149) [7]. „Welt“ ist für Arendt der Gegenbegriff zu den Atomisierungs- und Funktionalisierungstendenzen moderner Massengesellschaften, in denen die Möglichkeiten menschlicher Begegnungen und Austausch über öffentliche Angelegenheiten durch die Zwänge der Arbeits- und Konsumgesellschaft eingeschränkt werden. „Die Reduzierung des menschlichen Lebens auf das „bloße Leben“ im Sinne der nackten materiellen Reproduktion“, so die Arendt-Forscherin Waltraud Meints-Stender, sei „die Konstellation, die Hannah Arendt vor Augen hatte, als sie von der Arbeitsgesellschaft“ gesprochen habe, „in der nicht nur die instrumentellen Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens alle anderen Tätigkeiten des Menschen“ verdrängten, sondern auch „die Möglichkeit des Handelns in einer öffentlichen und politischen Welt radikal beschädigt“ (Meints-Stender, 252, 2007) [8] werde. Freiheit lässt sich für Arendt nicht im Rückzug aus dem öffentlichen Raum, noch durch die revolutionäre Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse, sondern nur im kommunikativen Austausch mit anderen ermöglichen.
Historisch ist der narzisstische Totalitarismus auf dem Boden einer Massendemokratie entstanden. Der in modernen Gesellschaften angelegte Privatismus wie die Entpolitisierung der Bevölkerung durch die Vorherrschaft hochbürokratisierter Verwaltungen, Verbände, Parteien und Parlamente, führt, wie Arendt in ihren Totalitarismus Studien ausführt, zu Mobilisierung der Unpolitischen. Dies mache die totalitäre Herrschaft sozialpsychologisch erst möglich. Auf diese Analyse stützt sich Arendts These von der „Banalität des Bösen“. Es sei nicht der Intellektuelle oder der Bohemien wie Goebbels, noch ein „pervertierter Fanatiker“ wie Hitler, noch ein „Abenteurer wie Göring“, sondern der „Spießer“, wie Heinrich Himmler, mit „allem Anschein der Respektabilität, mit allen Gewohnheiten des guten Familienvaters, der seine Frau nicht betrügt und für seine Kinder eine anständige Zukunft sicher will“, der eine „das gesamte Land umfassende Terrororganisation bewusst auf der Annahme aufbaut, dass die meisten Menschen ‚jobholders‘ und gute Familienväter“ sind. Der treusorgende Hausvater, der um nichts so besorgt war, wie die Securität, sich unter dem Druck der chaotischen ökonomischen Bedingungen unserer Zeit in einen Abenteurer wider Willen verwandelte […] und bereit war, um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen, Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben“ (Arendt, 1976, 40 f.) [9]. Arendt behauptet damit nicht, „dass es in jedem von uns einen Eichmann gäbe“; das heiße aber nicht, so Arendt, „dass nicht eine ganz schöne Anzahl von Eichmann“ existierten (Arendt, 1996, 79).
Die Freiheit, frei zu sein
Hannah Arendt ist nicht nur eine große politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, sondern auch eine öffentliche Person, die bereit war in finsterer Zeit Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Sie hat das erlebt wovon sie spricht. Das macht sie zur Ikone. Was heute auch an ihr fasziniert“, notiert Ralf Fücks, „ist vor allem ihr ‚Republikanismus‘, ihr spezifisches Verständnis von Politik als einer Sphäre der Freiheit“ (Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? 2007, 9). Arendt fokussierte ihren Begriff von Politik nicht auf das Ökonomische, ein Grund, warum sich Linke lange nicht für sie interessierten. Es gehört zum Standartargument „linker“ Kritik, Arendt habe sich nicht für die soziale Frage interessiert. So beklagte jüngst Thomas Asseuher in der Wochenzeitung Die Zeit, „Arendts rätselhaftes Desinteresse an Gerechtigkeitsfragen“ (Assheuer, 52) [11].
Arendt beharre mit Recht darauf, insistiert Jürgen Habermas schon 1981, „dass die technisch-ökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch-politische Sicherung der öffentlichen Freiheit“ bedeute (Habermas, 1981, 239). In späteren Äußerungen, wie in der Diskussion in Toronto 1972 (Arendt, 1996) [12], zeigt sich, dass Arendt nicht der Auffassung war, soziale Fragen seien nicht von Bedeutung. Vielmehr war sie mit Friedrich Engels der Meinung, dass die „Verwaltung der Sachen“ in die vorpolitisches Sphäre gehöre, in das Reich der Notwendigkeit. Arendt betonte die Bedeutung von Besitz für „Möglichkeiten für die Freiheit“ (93) und regte Besitzbildung an. So sollte es keine Diskussion darüber geben, dass jedem eine anständige Wohnung gebührt“ (91). Man könnte ergänzen: gesunde Luft, Wasser- und Energieversorgung, Kinderbetreuung, gesundes Essen, ein gerechtes Bildungs- und Gesundheitssystem, demokratisches Wirtschaften und demokratische Eigentumsverhältnisse – das würde die Freiheitsspielräume deutlich erweitern. Letztlich sei es die „moderne Technik“, der wir die Freiheit von der Notwendigkeit zu verdanken hätten (90 f., 100). Soziale Sicherheit galt für Arendt immer als Voraussetzung von Freiheit, eine Position, die Arendt bereits vor ihren Schriften wie Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft und Vita activa vertrat.
Kritische Stimmen
Während Arendt auch außerhalb der politischen Theorie fast schon wie ein Ikone aufgenommen wird, werden „viele Facetten ihres Denkens“, so Marianne Zepp und Stefanie Rosenmüller in dem Sonderband zu einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung Oldenburg und dem Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, „die den Rückgriff auf die Antike machen, vom derzeitigen philosophischen Diskurs als nostalgisch oder melancholisch, zumindest als ambivalent oder gar als gescheitert angesehen“ (Verborgene Tradition, 14). Es gibt irritierende Widersprüche in ihrem Werk, die in der Arendt-Forschung kontrovers diskutiert werden. Ihr Buch Über die Revolution findet Habermas zwar „spannend und lehrreich“, aber auch imposant einseitig, wenn sie „ihre Geschichte von den beiden Revolutionen: einer guten und bösen Revolution“ (Habermas, 1981, 223) [14] erfindet. Ihrer These, von der Weltentfremdung der frühzeitlichen Wissenschaft durch das Experiment und die Technik, widerspricht Otfried Höffe. Im Gegenteil, „an die Stelle des ‚naiven‘ unmittelbaren Bezugs trete „eine Mediatisierung“ – und diese diene der Wissenschaftlichkeit (Höffe, 1993, 59). Umstritten ist, ob die Spezifik des Nationalsozialismus oder des Stalinismus in den Elementen und Ursprüngen begriffen wird. So findet sich in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eine eurozentrisch verzerrende Sichtweise auf Afrika. Im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung wird über die ‚blinden Flecken‘ in Arendts Werk diskutiert.
Die Aktualität Hanna Arendts – Pluralität und Diversität
Gleichwohl enthält der Versuch Arendts, Politik neu zu begründen, einen produktiven Widerspruch. Es ist ein Versuch, ohne essentialistische Vorgaben, „ohne Geländer“, Politik als „reine Praxis“ neu zu denken. Nach Arendt kann sie erfahren werden, wenn Verschiedene unter Gleichen in einem öffentlichen Raum zusammentreffen. Pluralität und Natalität sind jetzt die „Elementarkategorien“ (Volker Gerhardt) des Politischen. Peter E. Gordon, Professor für Geschichte in Harvard, sieht gerade darin, die Relevanz Arendtschen Denkens heute, wenn sie behauptet, „dass menschliches Handeln nur zu sich selbst kommen“ könne, wenn es sich aller vorpolitischen Gewissheiten entledige (Verborgene Traditionen, 18). Um Mentalitäten, die den Totalitarismus ermöglichten, zu verstehen, rekonstruiert Arendt die totalitären Tendenzen in der westlichen Tradition von Platon bis Marx. Arendts Suche nach der Praxis vor der philosophischen Grundlegung, meint Dana Villa, Professor für Politische Theorie an der Universität Notre Dame, habe das „nicht-normative Ziel, eine philosophische Darstellung der Bedeutung des politischen Handelns zu liefern“ (Verborgene, 20). Folgt man dem US-amerikanischen Wissenschaftler Jerome Kohn, langjähriger Freund und Mitarbeiter Arendts an der New School in New York, der ihr Werk, insbesondere ihre unveröffentlichten Schriften, einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, habe Arendt eine Theorie des politischen Handelns entwickelt, die „sie bei Marx um das Element der Freiheit, hergestellt im Akt der Revolution, bereichert“ sehe. „Dieses Handeln“ sei „für sie nur möglich durch die Rückbindung an eine Praxis, die an die Fähigkeiten von Einbildungskraft und Initiative gebunden ist“ (Verborgene Tradition, 15). Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst liest Arendt mit dem Focus auf die Gefahren des Totalitarismus und bezeichnet ihre politische Theorie in Anlehnung an die US-amerikanische Politologin Judith Shklar als „republikanism of fear“, die ihre Funktion darin finde, „die Pluralität als Kraft gegen die totalitäre Zerstörung der menschlichen Fähigkeiten zu Pluralität und Spontaneität“ gegen die „Reduktion durch Weltzerfall und atomistische Isolation in bloßes Menschenmaterial“ (27) einzusetzen.
Die besondere Aktualität Arendts ergebe sich nach der US-amerikanische Professorin für Politische Philosophie an der Yale-University Seyla Benhabib aus ihren Analysen der Moderne wie sie sie vor allem in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entwickele. Arendt hat sich – mit ihren Analysen zum Charakter des totalitären Regimes, zum Antisemitismus und Rassismus, zum Flüchtlingswesen usw. – dabei Bereichen zugewandt, die für einen Teil der Linken mit ihrer Tendenz zum Ökonomismus und Reduktionismus auf Fragen des Klassenkampfes lange tabuisiert wurden. In Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft beschreibt Arendt jene totalitäre Dynamik des 20. Jahrhunderts, die menschliche Wesen überflüssig macht: die durch den Imperialismus verursachte Krise des Nationalstaates, die totalisierende Einstellung in der Politik und die entfesselte Barbarei. „Im Überflüssigmachen von immer mehr Menschen“ habe Arendt „die größte Gefahr und das größte Übel der modernen Gesellschaft“ gesehen (254) [15], bemerkt Meints-Stender. „Gegen essentialistische Identitätskonzepte im Bereich des Politischen“, postuliere Arendt „ein Konzept von Bürgerrechten, das universelle Menschenrechte politisch“ (258) garantiert. Arendt war strikt gegen jeden Nationalismus, auch den jüdischen. Sie wandte sich gegen jede Art von Stammesdenken. Antiuniversalismus oder Kulturrelativismus, findet man bei ihr nicht.
Fazit
Für Ralf Dahrendorf war Arendt eine „warmherzige und zugleich geistig fast überlebendige Frau, eine zentrale Figur im intellektuellen Leben der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Als Anti-akademische Denkerin als Anti-Intellektuelle weiß sie um die Verführbarkeit des Geistes, der falschen Bildung, den Gefahren des Denkens. Dahrendorf zählt sie, neben Karl Popper, Raymond Aron und Isaiah Berlin zu den Erasmiern, weil sie den beiden großen Versuchungen der Unfreiheit widerstanden haben. Mit Erasmus von Rotterdam teilen sie die Tugend der Freiheit. „Kaum einer habe wie sie“, so Dahrendorf, „den Mut bewiesen, die eigene Position unter Gegnern, ja Feinden zu vertreten. Das sei für sie eine schlichte Lebenstatsache, dass man mit Gegensätzen leben muss und kann (Dahrendorf, 2006, 89).“ [18] Hannah Arendt wusste: In der dynamisch sich entwickelnden Moderne ist die Demokratie immer bedroht und muss verteidigt und weiterentwickelt werden. Die Demokratie bedarf nicht nur Institutionen, sondern auch Menschen, die sich für sie einsetzen. Der Philosoph Dieter Thomä erklärt in seinem Buch Warum Demokratien Helden brauchen warum heute wieder Menschen gefragt sind, die über sich hinauswachsen und andere motivieren, es ihnen gleichzutun. Inzwischen gibt es von diesen Menschen immer mehr. Man sollte das Heldentum nicht denen überlassen, die autoritär und ethnisch denken.
Hannah Arendt war eine public intellectual. Im Zentrum ihres Denkens steht die Fragen „Wie lässt sich Freiheit politisch verwirklichen, wie dem totalitären Denken widerstehen?“ Mit ihren Texten mischte sie sich in öffentliche Debatten ein oder löste sie aus. Dabei erreichte sie ein breites Publikum. Ihre Texte haben die Kraft dem Denken auf die Sprünge zu helfen, indem sie tradierte Denkmuster stören und in Frage stellen. Einen Weg zurück in die Tradition als einer geschichtlichen Autorität – sei es das revolutionäre Proletariat, das Volk oder der Fortschritt – gibt es bei ihr nicht. Arendts Denken läuft nicht Gefahr beliebig oder postmodern zu sein. Arendt erkennt die fundamentale Krise der Ethik und der Moral und thematisiert diese als eine Krise des modernen Politikverständnisses. Das Ende der Mündigkeit sieht sie im Rückzug allein auf das private Glück, in der Unfähigkeit des selbstständigen Denkens und Urteilens und mangelnder Empathie.
Arendt ist Stichwortgeberin zu aktuellen Themen, wie Flucht, Antisemitismus, Rassismus, Individualismus, Pluralität, Demokratisierung, Wahrheit und Lüge in der Politik, Zivilgesellschaft, totalitäre Bewegungen und totalitäre Regierungsformen. Arendt greift auch philosophische Fragestellungen auf, die sie dem Themenfeld des Politischen öffnet, wie die Fragen, nach dem „Denken ohne Geländer“, den Grundbedingungen menschlichen In-der-Welt-Seins, dem Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität und damit die Frage nach der Konstitution des Selbst und den Praktiken des Lebensvollzugs. Arendts Schriften sind oft Gedankenexperimente mit offenen Enden. Es scheint deshalb wichtiger, ihre Ansätze weiterzuentwickeln, als sich auf argumentative Schwächen und Widersprüche zu konzentrieren. Wie kann man lernen zu verstehen, was in der Welt von heute geschieht? Wie kann man denken und handeln? Bernstein hat mit seinem Buch Arendts Denken lebendig gehalten und ermutigt die nächste Generation, einen neuen Anfang zu setzen, Verantwortung zu übernehmen für das, was in ihrem Namen geschieht
[1] Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996.
[2] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1974.
[3] Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 19949
[4] Hannah Arendt: Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969, München, Zürich 1993.
[5] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965.
[6] Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, München 2018.
[7] Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1992.
[8] Waltraud Meints-Stender: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine Aktualisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[9] Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, Frankfurt 1976.
[10] Otfried Höffe: Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, in: Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, (Hrsg.) Peter Kemper, Frankfurt am Main 1993.
[11] Thomas Assheuer: Was würde Hannah Arendt dazu sagen? Die Zeit Nr. 19, 06. Mai 2021.
[12] Hannah Arendt: Hannah Arendt: Diskussionen mit Freunden und Kollegen in Toronto (1972), in: Ich will verstehen, München 1996.
[13] Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 1991.
[14] Jürgen Habermas: Philosoph-politische Profile, Frankfurt am Main 1981.
[15] Waltraud Meints-Stender: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine Aktualisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[16] Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998.
[17] Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, 28.10.1964, https://www.rbb-online.de/zurperson/​interview_archiv/​arendt_hannah.html
[18] Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, Bonn 2006.
Rezension von
Dr. phil. Bruno Heidlberger
Studienrat für Politik, Philosophie, Geschichte. Ehemals Lehrbeauftragter an der TU Berlin, aktuell an der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB) und Humboldt- Universität Berlin.
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Es gibt 11 Rezensionen von Bruno Heidlberger.