Daniel Sieben: Ganz Mensch Sein
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 02.06.2021

Daniel Sieben: Ganz Mensch Sein. Wie wir die Schein-Nachhaltigkeit überwinden - Ein Transformationsleitbild. oekom Verlag (München) 2021. 232 Seiten. ISBN 978-3-96238-278-0. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Die Begegnung mit der ökologischen Ökonomie und der Meditation sowie Dharma-Unterweisung haben Einfluss auf Dr. Daniel Siebens Thema der Dissertation zum qualitativen Bewusstseins- und Verhaltenswandel bei Nachhaltigkeit und ökologischer Ökonomie ausgeübt. Seither vertiefte er sich in das Thema und hat die in der Dissertation grundgelegten Annahmen weiterentwickelt, um der „Schein-Nachhaltigkeit“ zu trotzen. Ohne Meisterung der von Daniel Sieben postulierten Traumata kann der Weg nicht frei werden für einen individuellen und gesellschaftlichen Transformationsprozess.
Autor
Dr. Daniel Sieben hat 2021 „Sustainable Change Consulting – Beratung für Organisationen in Wirtschaft, Bank- & Finanzwesen“ (https://danielsieben.de/) gegründet. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Mainz hat er an der Universität Trier mit einem Thema zur ökologischen Ökonomik promoviert. Er war Vorstandsmitglied der Vereinigung für ökologische Ökonomie (VÖÖ), bei der UmweltBank AG, bei der ProCredit Bank AG und bei der Triodos Bank V.V. jeweils in der Firmenkundenberatung für erneuerbare Energien, Energie & Klima. Schon nach dem Studium begann er mit der Praxis von Achtsamkeits- und Einsichtsmeditation und ist als Meditationslehrer und –leiter unterwegs. In Zwischenphasen war Daniel Sieben selbstständig als beratender Volkswirt für Nachhaltigkeit & Transformation für den Aufbau, die Verarbeitung und Vermarktung von Bio-Lebensmitteln tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich wie folgt:
In der Einleitung (S. 11–15) erläutert der Autor seinen „dritten und mittleren Weg“, den er zwischen den zwei Extremen einer auf einem einfachen mechanistischen Weltbild fußenden sachlich-logischen Rationalität einerseits und auf Angst Unsicherheit und Verlust basierenden totalitären Systemen andererseits verstehen möchte.
1. Konditionierung des Menschseins (S. 16–30)
Die vergangenheitsorientierten inneren Krisenreaktionsmuster der Menschen seien nach Ansicht des Autors nicht mehr geeignet, um disruptive Veränderungen zu bewältigen. Es werde sich zu sehr an der Außenwelt orientiert und der Zugang zur Innenwelt verstellt. Im sog. Eisbergmodell verdeutlicht Daniel Sieben, was unter den 10 % bewusster Sachebene an unbewussten Verhaltensmustern, Glaubenssätzen, Gefühlen und an Identität „schlummere“. Im Aufklären und Lösen des „seelischen Betriebsgeheimnisses und der Zentralneurose der Gesellschaft“ (S. 20) sieht er die Aufgabe seines Buches. Anhand der Corona-Krise verdeutlicht Daniel Sieben die seit längerem anhaltende Zuspitzung der Bewusstseinskrise, für deren Bewältigung nicht nach Alternativen gesucht, sondern lediglich Symbolpolitik aufgebracht werde. So habe das Coronavirus zu einer Traumaaktivierung und zu Verdrängungsmechanismen geführt, anstatt sich z.B. damit zu beschäftigen, was in der Beziehung von Mensch und Umwelt fehlschlage. Indem der bekannte Krisenkonditionierungsmechanismus beibehalten worden sei, sei es nicht gelungen, einen „Systemsprung“ zu vollziehen, nämlich Achtsamkeit, Fühlbarkeit und Transformierbarkeit zu zeigen.
2. Grundverständnis eines Psychotraumas (S. 31–70)
Den Einstieg markieren persönliche Erfahrungen des Verfassers, die er in Retreat-Programmen in Israel gemacht hat. Sie haben ihm gezeigt, was kollektive Traumatisierung bedeutet und wie sie weitergegeben wird. Danach rekurriert er auf Gerald Hüther und präsentiert die neurobiologische Erklärung von Trauma und die körperlichen Folgen von Traumaerfahrung, bevor er auf die identitätsorientierte Psychotraumatheorie (IoPT) von Franz Ruppert zurückgreift und dessen Verständnis von „Identität, Identifikation und Zuschreibung“ (S. 41) wiedergibt. Es schließen sich die Darstellung der gesunden, der traumatisierten und der Überlebenspsyche an, die im sog. Eisbergmodell verbildlicht werden. Nur die Überlebenspsyche ist außen sichtbar, gesunde und traumatisierte Psyche sind in der Innenwelt, jeweils voneinander abgespalten, aber in Verbindung. Eine Heilung ist daran geknüpft, dass gesunde und traumatisierte Psyche an die Oberfläche geholt werden. Daniel Sieben demonstriert einige Täter-Opfer-Traumadynamiken, die auf individueller wie auf kollektiver Ebene im Kontext von Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu beobachten sind und geht auf traumatisierte Gesellschaften und deren Abwehr- wie Angriffsmechanismen ein. Strategien zur Bewältigung und Kompensation von Traumatisierung gibt es viele, wovon der Autor die folgenden Modi näher beschreibt: Vergnügungs-, Macht- und Dominanz-, Macher-, Busy-, Karriere- und Geld-, Durchhalte-, Anpassungs-, Widerstands- Flucht-, Beschwerde- und Besserwisser- sowie den Helfer- und Heilermodus. Als ursächlich für die „gegenwärtige kollektive Traumatisierung westlicher Prägung“ erachtet der Autor das mechanistische Welt- und Menschenbild, das mit der Dominanz der Naturwissenschaften Spiritualität und Emotionalität bei der Erklärung des Menschseins zunehmend ausgeblendet hat. Abschließend entlarvt Daniel Sieben anhand eines Briefes an seinen Vater, wie seine innere Abspaltung der Identität in Form eines Konkurrenz- und Leistungstraumas in der Außenwelt sichtbar war.
3. Die vierfache Traumaspaltung (S. 71–84)
Psychotraumata können anhand der vierfachen Abspaltungen von Identität, Gefühlen, Beziehungen und Natur erklärt werden. Daniel Sieben unterstellt eine Kausalkette von innen nach außen, Rückwirkungen der jeweils nachfolgenden Ebene auf die vorhergehende und sich selbst verstärkende Dynamiken. Von außen nach innen beginnt es mit „der ökologischen Spaltung als Abspaltung von Natur“ (S. 72), die im Intellekt erfolgt und die Natur als Objekt unabhängig von dem in ihr lebenden Subjekt konstruiert. Die „soziale Spaltung als Abspaltung der Beziehungen“ (S. 75) besteht darin, in das Netz der uns umgebenden Menschen unrealistische Erwartungen zu setzen, die nur dazu dienen, Bestätigung zu bekommen und sich nicht mit der Selbstablehnung beschäftigen zu müssen. Die „emotionale Spaltung als Abspaltung der Gefühle“ (S. 78) knüpft an die soziale Spaltung an und beinhaltet das Negieren und Nicht-Fühlen-(Wollen) der Emotionen. Schließlich bedeutet die „spirituelle Spaltung als Abspaltung der Identität“ (S. 81) die Trennung von unserem Selbst, die einhergeht mit Verlust- und Verzichts-, Versagens- und Existenz- bzw. Identitätsangst sowie einer inneren Leere und Wertlosigkeit.
4. Trauma der Verführung (S. 85–118)
Das Trauma der Verführung besteht aus der kollektiven Verführung durch die Möglichkeiten der Manipulation der Massen zuungunsten von Humanismus, Aufklärung und Demokratie und der individuellen Verführung des Geistes, wenn wir permanent in unseren Gedanken kreisen, sie für Identität halten, den Zugang zu ihr aber abwehren z.B. durch Flucht und Rückzug (als Opfer), durch Angriff und Gegenangriff (als Täter) und durch Erlösung (als Retter & Helfer). Ferner gibt der Autor Einblick in die „Verführung des Geistes in der Spiritualität“ (S. 93), wie sie im Sacred Activism, im Buddhismus und im Christentum und – eingeschoben in einem Exkurs – in „Der Herr der Ringe“ vorkommt. Ein eigener Abschnitt zu „Hierarchie, Ganzheit und Demokratie“ (S. 108) analysiert, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen menschenorientierte Führung im Gegensatz zu Hierarchie, Ganzheit im Gegensatz zu Anpassung, und Demokratie als vielfältige, kooperierende und resiliente Gemeinschaft im Gegensatz zu einer auf Rationalität begrenzten Vernunft kommen kann.
5. Trauma der Wirtschaft (S. 119–132)
Das Trauma der Wirtschaft hat folgende Ursache: Der Mensch verliert seinen Eigenwert, indem er sich geistig beständig nach außen (auf die Konkurrenz) richtet und die Beziehung zu sich selbst verliert. Die marktwirtschaftlichen Mechanismen, die eigentlich Wohlstand für alle propagieren, führen tatsächlich zu einer Ungleichverteilung in Gewinner und Verlierer. Gepaart mit dem mechanistischen Welt – und Menschenbild setzen sich diejenigen durch, die soziale und ökologische Aspekte vernachlässigen und ein immer größeres Gewicht (survival oft he fittest) erhalten. Wirtschaftswachstum dechiffriert Daniel Sieben deshalb als „ökologische Spaltung und kollektive Traumakompensation“ (S. 122). Die Ungleichverteilung der Marktmechanismen werde durch das Marktwachstum kaschiert, weil es ein Mehr vorspiele, das sich z.B. auf Löhne auswirke, ohne dabei die ökologischen Grenzen zu respektieren und negative externe Effekte ausklammere. Auch das Geldsystem sei Ausdruck eines Verständnisses, dass der Mensch zwischenmenschliche Beziehungen als Schuldbeziehungen fassen würde. Schließlich kulminiere im Homo oeconomicus der Mensch, der den eigenen Nutzen rational kalkuliere und maximiere, ohne in Beziehung zu sich selbst, zur Mitwelt und zur Natur zu stehen (Narzissmus). Seine vierfachen Abspaltungen würden sich in den Traumabewältigungsstrategien des Materialismus (spiritual divide), im Hedonismus (emotional divide), im Utilitarismus (social divide) und im Egoismus (ecological divide) wiederfinden.
6. Trauma der Nachhaltigkeit (S. 133–148)
In der Differenz zwischen Einstellung zur Dringlichkeit nachhaltigen Handelns und tatsächlichem Verhalten, bekannt als Mind-Behaviour-Gap, sieht der Autor einen Ausdruck des Versagens der bisherigen Nachhaltigkeitsanstrengungen, die nicht den innerpsychischen Kern der Menschen anrührt, sich von materiellen Identifikationen zu lösen. Mit drei Transformationsstufen will Daniel Sieben das „gegenwärtige Verständnis von Nachhaltigkeit“ (S. 133) erweitern. Stufe I beinhaltet die fast unabhängigen Systeme der Ökologie, der Wirtschaft und Gesellschaft als Außenwelt unter Zuhilfenahme systemischen Denkens in eine „Ökosystem-Hierarchie“ (S. 137) zu bringen. Gemeint ist damit, dass das Ökosystem die Grenze für Mensch und Wirtschaft definiert. Damit einher geht ein großer Veränderungsbedarf für Unternehmen, die wirklich und nicht nur für die Außenwelt nachhaltig sein wollen. Stufe II besteht darin, Innen- und Außenwelt aneinander anzunähern und in ein miteinander verkoppeltes „Zwei-Augen-Modell“ (S. 142) zu verwandeln, bei dem ein Auge nach innen und eines nach außen blickt. Dabei sind die Schlüsselqualitäten für die Innenwelt Suffizienz, Kommunikation und Handlungsvision, für die Außenwelt Regeneration des Planeten, Werte und Konsistenz. In Stufe III wird die Absicht von Nachhaltigkeit in der Außenwelt mit den Grundlagen in der Innenwelt zu einem U-förmigen Transformationsprozess (siehe Kapitel 8) verquickt. Daraus ergibt sich die „Evolution der systemischen Nachhaltigkeit“ (S. 146).
7. Transformation des Menschseins (S. 149–178)
Nach der Nennung der drei vom Autor identifizierten Schlüsselelemente eines Systemwechsels, nämlich: a) die „Quantenphysik und ihre Sicht auf die Materie“, b) die „Systemtheorie und ihre Sicht auf Leben“ und c) die „Spiritualität und ihre Sicht auf Bewusstsein“ (S. 150), berichtet Daniel Sieben zunächst von seinen persönlichen Transformationserfahrungen in den 1990er Jahren. Mit den Systemelementen könne die Trennung von Materie, Psyche und Geist bzw. Rationalität, Emotionalität und Spiritualität aufgehoben und zu einem „ganzheitlichen Menschen- und Weltbild integriert“ (S. 170) und so die Transformation ermöglicht werden. Mit den Ich-Entwicklungsstufen der Psychologin Jane Loevinger zeigt der Verfasser den Weg auf vom Erwachsenwerden über die Stufen der Selbstorientierung, der Gemeinschaftsbestimmung, der Rationalität, der Eigenbestimmtheit, des relativen (Konstruktivismus), systemischen (Nachhaltigkeit), integrierenden (Metaphysik) und fließenden (Mystik) Denkens. In den letzten Stufen sind die Abspaltungen nicht mehr nötig, weil die Psyche gesund ist. Den kollektiven Entwicklungssprung, der von Unternehmen auf dem Weg von hierarchischen und leistungsorientierten zu beziehungs- und wertebasierten Unternehmen zu vollziehen ist, erklärt der Autor mit den Organisationsentwicklungsstufen nach Frederic Laloux. Abschließend werden moderne und evolutionäre Organisationen in einigen Kriterien gegenübergestellt.
8. Anleitung für einen Transformationsprozess (S. 179–203)
Bei der Beschreibung des Transformationsprozesses zur Überwindung der vierfachen Spaltung greif Daniel Sieben auf die Theorie U von Otto Scharmer zurück. Ausgehend von seiner Ökosystem-Hierarchie setzt der Verfasser beim Transformationsleitbild im Außenbereich an und taucht bis in die unbewusste Psyche ein, um dort die Versöhnung mit dem Selbst zu ermöglichen. Dazu nutzt er die nach dem Scharmerschen Eisbergmodell versinnbildlichte Theorie, die besagt, Menschen davon abzubringen, dauernd kollektiv bedrohliche Ergebnisse zu produzieren, die sie selbst nicht wollen. Demnach müsse die Ursache der Veränderung im Inneren zu suchen sein, wofür nach Scharmer drei Ebenen und Schritte notwendig seien: Die Öffnung des Denkens, des Fühlens und des Willens. Erst danach seien die Schritte der Veränderungen über die Visualisierung, Prototypen und Performing möglich. Daniel Sieben erweitert die U-Theorie für den individuellen und kollektiven Transformationsprozess um die Erkenntnisse zur vierfachen Spaltung und beschreibt die Phasen des Veränderungsmanagements und auftauchende (emotionale) Hindernisse. Die emotionalen Phasen beim Verändern kombiniert er mit den Phasen der innerpsychischen Spaltung und bringt sie in den Kontext mit den drei ab- und aufsteigenden Prozessen nach Scharmer. Das „Nadelöhr der Transformation“ (S. 194) besteht in der „Heilung des Urtraumas“ (S. 194) der eigenen Nicht-Existenz und Leere. Stelle sich der Mensch diesem Prozess, dann sei es möglich, die vier Spaltungen (spirituell, emotional, sozial, ökologisch) heilsam zu bearbeiten.
9. Kultivierung des Nährbodens einer gemeinsamen Transformation (S. 204–222)
Der Verfasser bezieht sich auf die in Kapitel 6 genannten subjektiven und intersubjektiven Dimensionen der inneren Nachhaltigkeit (Suffizienz, Empowerment und gemeinsame Handlungsvision) und lässt diejenigen der äußeren Nachhaltigkeit (Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft) außen vor. Einen heilsamen Zugang zu den eigenen Gefühlen als Voraussetzung dafür, transformationsbereit zu werden, bietet die Achtsamkeits- und Einsichtsmeditation. Daniel Sieben stellt ausgewählte Einzelheiten der von Buddha gelehrten Vier Edlen Wahrheiten vor, und geht auf „Anwendungsmöglichkeiten der Achtsamkeitspraxis“ (S. 210) ein. Ausgehend vom Modell der Kommunikation nach Schulz von Thun demonstriert er, wie in der Alltagskommunikation emotionale und soziale Spaltung vonstattengeht. Anhand der „four levels of listening“ nach Scharmer macht Daniel Sieben verständlich, wann die Kommunikation von der Sach- auf die Gefühlsebene umschwenkt und gibt konkrete Kommunikationsübungen an die Hand. Schließlich beschreibt er an der eigenen Praxis, wie es möglich ist, durch „Achtsamkeit, Fühlbarkeit & Transformierbarkeit“ (S. 220) heilsam zu kommunizieren.
10. Transformation im gemeinsamen Handeln (S. 223–227)
Abschließend resümiert Daniel Sieben, dass alle Anstrengungen in der äußeren Welt lediglich Teilerfolge bleiben, wenn die Transformation nicht in der Psyche beginnt. Deshalb ruht seine Hoffnung nicht auf Politikern oder politischen Mehrheiten, sondern auf Menschen, die bereit sind, durch das Nadelöhr der eigenen Transformation zu gehen und damit auch eine „tiefensystemische Organisationsentwicklung“ (S. 226) anzustoßen.
Abbildungs-, Tabellen- und Literaturverzeichnis folgen auf den Seiten 228 und 229. Das Buch fordert die Leserin oder den Leser immer wieder auf, eine Pause einzulegen und zu reflektieren.
Diskussion
In diesem Buch verschafft sich die Überzeugung eines Menschen Luft, der eigene Erfahrungen gemacht hat und der die Zeichen der Zeit erkennt und nicht tatenlos zusehen möchte. Deshalb kann er nicht anders, als die Elemente seiner Analyse anzuwenden und gegen ein „Weiter so“ anzuschreiben, um die zuhauf proklamierte Transformation nicht nur zu fordern, sondern möglich zu machen. Dieses nicht bei der Analyse verharrende Element ist eine große Stärke des Buches, denn, wie der Autor selbst anführt, gibt es hinreichende, die Folgen unübersehbar aufzeigende Zustandsbeschreibungen, die folgenlos bleiben, weil sie die Ursachen nach außen, auf andere Systeme, weg von der eigenen Reichweite und Verantwortung verlagern.
Genau hier versucht der Verfasser ein Brückenglied zu installieren, das jeden und jede Einzelne in die Pflicht nimmt, nämlich harte, selbstkritische Introspektion zu betreiben, die er auch sich selbst abverlangt. Seine Kernfrage kreist darum, den Dreh- und Angelpunkt zu finden, an dem es gelingt, mit sich im Reinen und damit von Abspaltungs- und Verdrängungsdruck befreit, „heil“ und offen für die Transformation zu sein. Nur, wer soweit zu sich gefunden hat, ist auch fähig, die Lücke zwischen dem Bewusstsein und dem Verhalten zu schließen. Er oder sie verlangt nicht mehr von der Politik, der Wirtschaft oder der Gemeinschaft Lösungen, sondern setzt selbst an, bei sich solche umzusetzen, mit anderen welche zu entwickeln und aufzuzeigen, wie es in Institutionen und Organisationen mit Hilfe des dritten Weges gehen könnte. Egal von welcher Seite ein nachhaltiges Handeln initiiert werden soll, führt die Route nach der U Theorie von außen nach innen zur Psyche, wo die „Verwandlung“ stattfinden muss, damit nach Überwindung der Traumaspaltung mit einem ganzheitlichen Bewusstsein Handeln nachhaltig gestaltet werden kann.
Mit seiner psychotraumathereotischen Erklärung des bisher misslungenen nachhaltigen Verhaltens hat der Verfasser einen eigenen Ansatz entwickelt, der Menschen ermuntert, mit sich im Reinen über das eigene Handeln etwas bewegen und im eigenen Wirkungskreis auch verändern zu können. Andererseits wird auch deutlich, wie gering der eigene Radius ist, weil andere den „inneren Prozess“ selbst durchleben müssen, weil Bewusstseinsbildung allein nicht ausreicht, um genau diese innerpsychischen Prozesse in Gang zu setzen, die zum transformativen Menschen- und Weltbild führen. Spätestens an dieser Stelle entsteht die Frage, was passiert, wenn zu wenige Menschen in die systemisch-nachhaltige, integrierende und fließende Entwicklungsstufe vordringen? Bleiben wir im Trauma-Elend verhaften und zerstören weiter die Umwelt und die Beziehung zu den Mitmenschen? Was wäre, wenn in Erziehung und Sozialisation Bedingungen so verändert würden, dass die vierfache Traumaspaltung nicht nötig ist? Dies sind ein paar Fragen, die über diesen Ansatz hinausweisen und die uns umgebenden Systeme und Strukturen tangieren, die auch Einfluss haben, in diesem Buch aber nur als Kulisse dienen.
Fazit
Wer einen Einblick in die Ursachen von „Scheinnachhaltigkeit“ erhalten will und von der Radikalität der ausschließlichen Zentrierung auf die Psyche nicht zurückschreckt, sollte das Buch lesen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
Website
Mailformular
Es gibt 83 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.