Monika Alisch, Michael May (Hrsg.): Ein Dach über dem Kopf
Rezensiert von Prof.iR Dr. phil. habil Karl-Heinz Braun, 06.12.2021

Monika Alisch, Michael May (Hrsg.): Ein Dach über dem Kopf. Wohnen als Herausforderung von Sozialraumentwicklung.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2021.
250 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2509-0.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - 24.
Zum Thema: Die Wohnungsfrage als Herausforderung für die Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit
Um schon – etwas ungewöhnlich – mit einem paradoxen Urteil zu beginnen: Das Buch hält nicht das, was der Titel verspricht – zum Glück! Er suggeriert nämlich ein wenig, dass es nur um Formen der extremen Wohnungsnot bis hin zur Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit geht, nicht aber um die generelle Frage, welchen Einfluss die Wohnverhältnisse und wohnungsbezogenen Lebensweisen auf die sozialräumlichen Teilnahme- und Teilhabe-Chancen haben (vgl. Alisch/May 2013). Hier gibt es nämlich trotz der zunehmenden und sich verschärfenden Aktualität des Wohnens als alter sozialer Frage moderner kapitalistischer Gesellschaften auf Seiten der Sozialen Arbeit ein weitgehendes Defizit (sie teilt dieses aber auch z.B. mit der Stadtsoziologie). Ungeklärt ist u.a. welche Folgen für das Zusammenleben die Dynamiken und Metamorphosen der Kapitalbewegungen und der durch sie erzeugten Ungleichheiten für die Reproduktionsbedingungen haben, welche wohnungspolitischen Transformationsprozesse sie zur Folge und Voraussetzung haben und welche anspruchsvoll-realistische Alternativen es dazu gibt – denkbare und praktizierte. Das berührt die soziale Arbeit und Erziehung sehr intensiv, weil damit die Relationen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verändert werden, weil es die Frage aufwirft welche Wohnbedürfnisse wie befriedigt werden können und sollen, welche Bedeutung die verschiedenen Wohnorte-, -räume und -formen für die Biografie haben und wie alles das rechtlich normiert wird bzw. in emanzipatorischer Sicht werden sollte. Damit habe ich schon Überlegungen aus der Einleitung von Alisch/May aufgenommen, um deutlich zu machen, welches Spektrum an Fragen hier aus Sicht der Sozialen Arbeit z.T. erstmals systematisch erörtert werden.
Herausgeberin und Herausgeber
Monika Alisch (Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda) und Michael May (Professor am Sozialwesen der Hochschule RheinMain) gehören zu den profiliertesten Vertreter:innen der Sozialraumforschung, was auch daran deutlich wird, dass diese Publikation der 24. Band ihrer Reihe „Beiträge zur Sozialraumforschung“ ist. Diese ist eingebunden in den Theorie-Praxis-Verbund des Hessischen Promotionszentrum Soziale Arbeit.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Hauptteile: Nach der instruktiven Einleitung befasst sich der I. Teil mit dem Sozialen Wohnen als Leben in unterschiedlichen Gemeinschaften; der III. Teil mit dem Wohnen als dem alltagsverankerten und biografisch bedeutsamen „Zuhausesein“; und der II. Teil mit der Unhintergehbarkeit des Wohnens als Dimension der Lebenspraxis – man kann gar nicht „nichtwohnen“ – trotz aller Dynamik des sozialen Wandels und der Zunahme und Vertiefung der Mobilitätsprozesse.
Inhalt
Es ist nicht möglich und auch gar nicht sinnvoll, hier alle Aspekte sowie Argumentationslinien darzustellen. Stattdessen sollen wesentliche Denkansätze und Befunde präsentiert werden, die zur Begründung, Erweiterung und Vertiefung der wohnbezogenen Sozialraumforschung und Gemeinwesenarbeit anregen.
A. Das theoretisch-methodologische Rahmenkonzept: Die Verankerung der Wohnforschung in der Raumtheorie
In der Einleitung angedeutet und dann von May im I.Teil entfaltet wird ein spezifisches Raumverständnis umrissen. Dass dazu der Anschluss an die Diskurse zu den raum- und alltagstheoretischen Arbeiten des französischen Soziologen Henri Lefebvre (1901-1991) hergestellt wird ist sehr plausibel, denn dessen 1968 erstmals formulierte Strategie des „Rechts auf Stadt“, welches zwingend ein Recht auf menschenwürdiges Wohnen an einem selbstbestimmten Ort beinhaltet, spielt auch in den aktuellen Debatten zur Wohnungsfrage eine zentrale Rolle und wäre eine angemessene Strategie, um der allseits beklagten Verödung der Innenstädte entgegenzuwirken (vgl. Lefebvre 2016, bes. S. 148ff; Mullis 2014, Kap.3). Dabei werden folgende Grundbegriffe ins Zentrum gestellt:
1. Zunächst einmal das Spannungsverhältnis von Habitat als dem in Naturkontexte eingebundenen objektiven physischen und sozialen Bedingungs- und Ermöglichungsfeld von wohnbezogenen Lebenspraxen und von habiter als der je individuell-kollektiven mentalen Realisierungs- und Umgestaltungsweise der vorhandenen Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten des Habitats sowie der Ausbildung einer räumlichen Praxis des Wohnens mit dem Habitus als dessen Tiefendimension.
2. Die Praxis des wohnraumbezogenen Lebens entfaltet sich in der immer auch Widersprüche beinhaltende Trialektik von a) räumlicher Praxis als dem ortsgebundenen Bewohnen von Welt, Raum und Zeit, also dem selbstreflexiven dynamischen Bezug der Menschen zum eigenen Ich und der aktiven, gestaltenden Teilhabe an der unmittelbaren Umgebung und der „großen Welt“, die ihnen dadurch immer vertrauter wird; b) den Repräsentationen des Raumes, verstanden als dialogischen oder autoritären Sozialplanungs-, Gestaltungs- und Teilhabestrategien von/in unterschiedlichen Habitaten (z.B. einem Dorf, einem Stadtteils, einer Großstadt insgesamt) – entwickelt z.B. von Stadtplaner:innen, ggf. in Kooperation mit Sozialarbeiter:innen; und c) den gelebten Räumen der Repräsentation, die sich manifestieren in der leiblichen Anwesenheit und den tatsächlichen, lebensweltlich verankerten Teilhabe- und Gestaltungspraktiken bestimmter sozialer Gruppen in den privaten, und (halb-) öffentlichen Sozialräumen.
B. Wohnformen als Teil der Lebens- und Siedlungsformen
Wie die Wohnungsfrage einerseits in größere Sozial- und Siedlungskontexte zu verorten ist und andererseits in die je individuell-kollektiven Lebensläufe und Biografien wird besonders in vier Beiträgen beleuchtet:
1. Hier ist zunächst auf den disziplinären Beitrag von May zu verweisen, der das skizzierte Theoriekonzept exemplarisch entfaltet und erprobt am Beispiel des gemeinschaftlichen Wohnens, welches er idealtypisch verortet a) als gelebte Sozialutopie, b) als pragmatisches Zentrum der alltäglichen Lebensführung und c) als instrumentelle Instanz der basisverankerten aktiven Organisation des Nahraumes als Räume der Repräsentation. Deren Verwirklichung erfordert eine dialogische Entwicklung kognitiver, affektiver und sozialer Vertrautheitsbeziehungen im Kontext einer Politik der Bedürfnisinterpretation.
Welche Schwierigkeiten dabei auftreten, macht der Beitrag von Kobzew deutlich, der zunächst das jeweilige Habitat widersprüchlich verortet a) als Sozialgut, welches ein Grundbedürfnis befriedigt; b) als unveräußerliches soziales (Menschen-) Recht, welches in der BRD aber nur sehr begrenzt anerkannt ist; und c) als Wirtschaftsgut, welches über Vermietung und Verkauf in die verschiedenen Kapitalkreisläufe integriert ist. Diese Ambivalenzen bestimmen auch die Binnenstruktur der Habitat-habiter-Relationen entsprechender Wohnprojekte und zwar bezogen a) auf die Kommunikationskultur – besonders in den Plena und Klausurtagen –, bei der sachliche Herausforderungen der Alltagsgestaltung dominieren und soziale, interaktive Fragen und Konflikte eher seltener thematisiert werden und damit Ausschlussprozesse unerkannt bleiben oder übergangen werden; b) mit Blick auf die hegemonialen Relationen zwischen den Autonomieansprüchen der einzelnen Individuen/Haushalte und den Solidaritätserwartungen der Haus- und Projektgemeinschaft; und c) hinsichtlich der pragmatischen Selbstorganisation der kollektiven „Hausarbeit“, wo sich das Prinzip durchsetzt „Wer’s macht hat die Macht“.
2. Alisch/Ritter fragen welche Chancen Zugewanderte haben „bei uns“ eine neue Heimat zu finden und welche Widerstände es dagegen gibt (verursacht u.a. durch geografische Isolation, Zwangshomogenisierung und Alltagsrassismus). Sie unterscheiden dabei drei Problemkreise: a) geht es darum, dass diese Menschen – seien es einzelne, seien es Familien, seien Verwandtschaftsgruppen – einen Raum für ihren selbstbestimmten Alltag finden und ausgestalten, der zugleich Ort des Rückzugs und Ausgangspunkt für Außenkontakte und -beziehungen wird und so die kognitive und emotionale Qualität eines, ihres „Zuhause“ (habiter) entwickelt. b) Deren Intention besteht darin zu lernen im näheren oder weiteren Umfeld Sozialräumen präsent zu sein und so Raumaneignungspraktiken zu entwickeln. Dabei können drei Entwicklungsstufen ausgemacht werden:
- das sich Wohlfühlen in öffentlichen Räumen (comfort);
- das Gefühl im Gemeinwesen dazu zu gehören (belonging); und
- die Fähigkeit und Bereitschaft eigene Interesse und Bedürfnisse zu artikulieren (commitment).
Nicht zuletzt geht es c) darum, in dem neuen Ankunftsland als geografischem Ort und (nationalstaatlichem) politisch-sozialen Raum neue Selbst- und Weltbeziehungen aufzubauen ohne die Beziehungen zu und Erinnerungen an das Herkunftsland deshalb aufgeben zu müssen bzw. zu wollen. Es geht also – ganz im Sinne von Bloch (1985, S. 1628) – um Beheimatung.
3. Die biografische Perspektive tritt im disziplinäre und professionelle Perspektiven ausbalancierenden Beitrag von Heusinger/Wolter ins Zentrum, denn sie gehen – exemplarisch bezogen auf empirische Befunde zu den Habitaten in ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts – der Frage nach, welche Chancen ältere und alte Menschen haben an ihrem angestammten Wohnort und vertrauten Sozialraum mit seinen habitualisierten Beziehungsgeflechten auch in ihrem letzten Lebensabschnitt zu verbleiben (hier spielt die emotionale Bindung an das Ein- bzw. Zweifamilienhaus eine wichtige Rolle). Damit kommt ein dreifacher Alterungsprozess in den Blick:
- Zunächst sind es die Individuen, deren körperliche und manchmal auch kognitiv-emotionale Kräfte nachlassen und damit die Chancen auf eine selbstverantwortete Bewältigung der Alltaganforderungen einer autonomen räumlichen Praxis einschränken und im Extremfall (fast) verunmöglichen. Das gilt besonders dann, wenn wesentliche Bezugspersonen (Ehe- bzw. Lebenspartner:in) entweder ausgezogen oder verstorben sind.
- Es altern aber auch die Gebäude (als physische Seite des jeweiligen Habitats), deren Erhalt immer aufwendiger wird, sowohl finanziell wie auch von den erforderlichen Eigenarbeiten (z.B. die permanenten Reinigungs- und Reparaturaufgaben oder die Gartenpflege).
- Und nicht zuletzt ist das Wohnumfeld zu nennen, womit ja nicht nur die zunehmenden strukturellen Mängel in der wohnbezogenen Infrastruktur gemeint ist (das Aussterben der „Tante-Emma-Läden“, die Einschränkungen der medizinischen Versorgung, die immer größer werdenden Entfernungen zu den Behörden usw.), sondern auch der Verlust wichtiger und vertrauter, emotional auffangender und stabilisierender sozialer Beziehungen innerhalb und außerhalb familiärer und verwandtschaftlicher Kreise durch Wegzug oder Tod und damit verbundene eingeschränkte Präsenz im angestammten Raum. Eine Zuspitzung finden diese Belastungen in der Angst vor dem erzwungenen kostenintensiven Umzug in (halb-) stationäre Pflegeeinrichtungen.
4. Das betrifft – wie der Beitrag von Stadel erläutert – in ganz besonderer Weise ältere Menschen, die sozialrechtlich als „geistig behindert“ eingestuft worden sind und damit von einem besonderen Versorgungssystem mit seinen Kontroll-, Überwachungs- und Dokumentationsverfahren als Momente der Repräsentation des Raumes abhängig sind, welches die Freiheit der Wohnungswahl und des Sozialraumes mehr oder weniger drastisch einschränkt und damit deren Personalität entwertet. Anhand eindrücklicher Interviewpassagen macht der Autor deutlich, wie dezidiert auch bei diesen Menschen die abgestuften Selbstbestimmungs- und Solidaritätswünsche jenseits von Rundumversorgung und totaler Selbstständigkeit sind, die eine politisch-institutionelle Enthinderungshilfe notwendig machen und tragen können.
C.Wohnungsnot pur
Die kritischen Bemerkungen zur Verengung der sozialarbeiterischen Blicke auf dieses Themenfeld wären gründlich missverstanden, wenn sie als Desinteresse an dieser Seite der Entwicklung der Wohnverhältnisse und -weisen gedeutet würden und deshalb ist es zwingend, dass sie auch in diesem Band in drei Beiträgen behandelt werden:
1. Schwarz schildet anhand von beklemmend-eindrücklichen Interviewpassagen, wie Frauen mit recht unterschiedlichen Lebens- und Wohnbiografien die Situation der Wohnungsnot versuchen zu bewältigen indem sie einen ganz speziellen Wohnhabitus ausbilden. Ihre Analyse setzt a) bezüglich der Präsentation des Raumes bei der strukturellen Ausgangskonstellation an, dass die Menschen in der BRD einerseits kein Recht auf Wohnraum haben, obwohl es in Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist und dass sie andererseits die Pflicht haben zu wohnen, weil sie nur so Anspruch auf die kommunal zu gewährenden Sozialleistungen haben. Daraus entwickelt sich die latente Gefahr von verschiedenen Formen der Wohnungsnot. Diese werden b) in bestimmten Fallkonstellationen manifest: Dies geschieht u.a. I. in provisorischen Arrangements mit unzumutbaren baulichen und sozialen Bedingungen, die zu einer fortgesetzten psychischen Verunsicherung führen. Oder II. in einer überlastenden Doppelfunktion der Wohnräume (als Privatsphäre und Ort von Sorgeleistungen sowie semiöffentlichem Arbeitsplatz – gerade in Corona-Zeiten), die zu psychosozialen Überlastungen bis hin zum Burnout führen (können); oder III. als Totalverlust von Wohnraum und permanente Zwangsmobilität, wo die „geliebten Dinge“ (Tilmann Habermas) in drei Kartons oder einer großen Tasche aufbewahrt werden, die dann an den zeitlich extrem begrenzten Wohnräumen ausgepackt werden und einen Rest an Vertrautheit bewahren und Trost spenden.
2. Seit ca. 20-25 Jahren werden als Folge der ungehemmten neoliberalen Kommerzialisierung der öffentlichen Räume Jugendliche generell und speziell „verhaltensoriginelle“ Jugendgruppen systematisch an den Rand und den „Untergrund“ der Gesellschaft gedrängt. Dieses „Unsichtbarmachen“ ist eine besonders massive Form, das Recht auf Stadt für alle zu verweigern Das wird zu einem besonderen Problem für die Jugendlichen, die von Obdachlosigkeit bedroht oder auch schon betroffen sind, wie der professionszentrierte Beitrag von Engelberty deutlich macht. Um dem entgegenzuwirken plädiert er mit Blick auf die Repräsentation der Räume für eine dialogisch vermittelte Passungsstrategie, die a) experimentell-tastend sich den sozialen Positionen und Lebensstilen annähert, die b) pädagogische Orte schafft, an denen es gemeinsam vereinbarte Regel innerhalb eines eindeutigen institutionellen Rahmens gibt und c) die Interaktionsmuster revisionsoffen sind. Nur unter der Voraussetzung kann das Prinzip „housing-first“ praktische Geltung erreichen. – Leider erfährt man von der Praxis des erwähnten hessischen Projektes „Dock#30“ und damit den Räumen der Repräsentation wenig.
3. Die Corona-Krise mit ihren vorrangig repressiven Eindämmungsversuchen (sie sollen strukturelle Mängel in der medizinischen, aber auch der sozialen Infrastruktur als Folge der neoliberalen Demontagepolitik kompensieren) hat die Obdachlosen, also die Menschen, die tatsächlich vorrangig auf der Straße, in öffentlichen Räumen leben, besonders getroffen (sie werden allerdings auch in Nichtkrisenzeiten seit ca. 20-25 Jahren – ähnlich wie relevante Jugendgruppen – aufgrund der ungehemmten Privatisierung der öffentlichen Räume zunehmend an den Rand und den „Untergrund“ der Gesellschaft und so aus den Räumen der Repräsentation verdrängt. Groll/Rutte haben sich dieses professionell, aber auch disziplinär relevanten Themas angenommen und die Frage erörtert, wie wohnungs- und obdachlose Personen(gruppen) versuchen mit einer Situation klar zu kommen, in der die Infektionsgefahr in den Notunterkünften drastisch gestiegen ist, es weniger Angebote für sie gibt, wichtige Behörden für den Publikumsverkehr geschlossen sind und unorthodoxe Finanzquellen (z.B. Flaschensammeln) versiegen. Sie arbeiten dabei empirisch u.a. folgende Raumpräsenz- und Bewältigungsmuster heraus:
- Das Wohnen im öffentlichen Raum durch die „Besetzung“ von Parkanlagen u.ä., indem sie zu regelmäßigen Treffpunkt für eine relativ feste Gruppe werden, wodurch eine habitualisierte sozialräumlich-symbolische Innen-Außen-Grenze entsteht.
- Oder die Nutzung einer Tagesstätte (als Habitat), als Versammlungsort, der so zu einem Medium sozialer Integration wird, in dem dann allerdings auch Hierarchiekämpfe ausgetragen werden (können).
- Oder bei denjenigen, die noch eine Bleibe haben ein kommerzielles Angebot (wie z.B. eine Stammkneipe oder eine Imbissbude), an dem man sich zu bestimmten Zeiten zuverlässig trifft, wo es ein komplexes Beziehungsgefüge zwischen Wohlwollen und Skepsis/Abneigung gibt, welches durch allgemein anerkannte Regel strukturiert wird. So entsteht eine habitualisierte tagesstrukturierende Spannung zwischen Wohnung als „home base“ und dem Platz als „home range“.
D. Systemische Wohnungskrise und ihre demokratiegefährdenden Folgen
Die von fast allen politischen Seiten beklagte, aber an keiner Stelle relevant eingedämmte Krise der Wohnverhältnisse ist zugleich eine Krise der sozialen und darüber vermittelt der politischen Demokratie. Das wird in zwei Aufsätzen näher untersucht:
1. Anhand von professionsgeleiteten Erfahrungen und Einsichten im Habitat Leipzig – hier gibt es seit ca. 2000 einen raschen Bevölkerungszuwachs wohlhabender Personengruppen und damit verknüpft einen boomenden Immobilienmarkt – macht Bescherer plausibel, dass die Wohnungskrise rechtspopulistischen Kräften wie der AfD in die Hände spielt, weil sie so die soziale Frage für ihre politischen Zwecke nutzen kann, indem sie die berechtigten Bedrohungsgefühle und moralischen Unrechtsempfindungen der Menschen (bis hin zu Empörungen) nach dem gängigen Muster der „Sündenböcke“ verknüpfen mit rassistischen Deutungs- und Strategiemustern. So werden Erlebnisse entfremdeten Wohnens – als Folge der zunehmenden Kluft zwischen der Repräsentation des Rames und der Räume der Repräsentation – legiert mit rechten Ressentiments. Das geschieht z.B. a) durch einseitige Schulzuweisungen (nicht nur gegen Ausländer:innen, sondern auch gegen „die Eliten“), b) eine Relevanzverschiebung (es werden dann Ausländer und andere Minderheiten als Schuldige ausgemacht und nicht die eigentlichen Verursacher wie börsennotierte Wohnkonzerne) und das paart sich ggf. c) mit einem „Linksautoritarismus“, der die vermeintliche Diversitätspolitik der großen Wohnungsbaukonzerne kritisiert („Die privilegieren Migrant:innen, damit sie ihre Schrottimmobilien auf Staatskosten zuverlässig vermieten können.“) und fordern zugleich von den Zugewanderten habitualisierte „sozialverträgliche“ Handlungsmuster, wenn sie an den Räumen der Repräsentation teilhaben wollen. Ein erfolgreicher Widerstand dagegen kann d) nur dann sich schrittweise etablieren, wenn durch I. Offenheit der eigenen Überzeugungen und ihrer Begründungen (z.B. Kritik an allen Spielarten rassistischer Ideologie), II. Klarheit der jeweils vertretenen Positionen (z.B. bezüglich der Verantwortung der Stadtpolitik) und III. öffentlichkeitswirksame praktische Solidarität mit den von der Wohnungskrise Bedrohten und Betroffenen (z.B. durch Mieterstreik) Alltagsbewältigung mit gesellschaftlichen Transformationsperspektiven hin zu einer gerechten Stadtgesellschaft verknüpft wird.
2. Das ist gerade auch das Anliegen von Schmidt, der diese Perspektive – die biologischen Ursprünge des Habitatkonzeptes aufnehmend – disziplinär auf die sozial-ökologische Dimension ausweitet indem er fragt, wie die ökologische Krise mit der sozialen Wohnungskrise zusammenhängt. Dabei schließt auch er an Lefebvre an und geht zugleich über ihn hinaus, weil er dessen gattungsspezifischen Lebensanalysen verknüpft mit der der terristischen Sozialität, dem Erhalt der Ökologie der Erde angesichts ihrer massiven Beschädigung und Gefährdung, wozu die Erderwärmung (verursacht auch durch den CO2-Ausstoß der Baumaterialien, der Heizungstechnik und den erzwungenen Pendlerverkehr) wesentlich beiträgt. In diesem Zusammenhang gilt es nicht nur die ökologische Frage nachhaltig zu demokratisieren (man darf die Politisierung nicht nur den Eliten überlassen), sondern die öko-soziale Transformation (als Gegensatz zur kapitalistischen Wachstumsrationalität) zu einem zentralen Inhalt des emanzipatorischen Wohnens und Bildens zu machen. Auch das gehört zur Verteidigung und Verwirklichung des Rechts auf sinnhaftes Leben und Wohnen in der Stadt.
Diskussion
Es dürfte hinreichend deutlich geworden sein, welch großes Spektrum an Fragestellungen und Forschungsperspektiven dieser Band eröffnet hat. Gleichwohl gibt es – was bei einem solchen Innovationsprojekt auch wenig überraschend ist – einige wichtige Problemstellungen, die allenfalls angedeutet worden sind und deshalb einer systematischen Erörterung bedürfen. Erwähnt seien (vgl. zu ihrer knappen Begründung Braun 2021):
- Zwar wird immer wieder stichwortartig auf die politisch-ökonomischen Systembedingungen des Wohnens hingewiesen, aber leider fehlt zumindest ein systematischer Beitrag, der die Bedeutung der selektiven und abgestuften Finanzialisierung des Immobiliensektors beleuchtet.
- Dass Individualisierung und Vergemeinschaftung von gravierenden vertikalen und horizontalen Ungleichheiten in den Lebensbedingungen und Lebensstilen überlagert und eingeschränkt werden, klingt immer wieder an. Hier wäre eine systematische Rezeption der soziologischen Traditionen der Milieuforschung (vgl. Braun 2020, Kap1) und deren Anwendung auf die Wohnformen (vgl. Böttcher u.a. 2021; Hallenberg 2016) in jedem Falle wünschenswert.
- Es ist erstaunlich, dass auch in diesem Band das Wohnen „baukörperlos“ gedacht wird: über die Wohnarchitektur erfährt man fast gar nichts. Das ist umso erstaunlicher, als es von Seiten der Architekturtheorie mittlerweile eine elaborierte Debatte um einen weites Architekturverständnis gibt, welches gerade auch für milieutheoretische und darüber vermittelt sozialarbeiterischer Fragestellungen offen ist (gute Übersichten dazu bieten Fischer/Delitz 2009; Hauser u.a. 2011/2013).
- Wünschenswert wären auch Arbeiten zu den freiwillig eingegangen und/oder erzwungenen biografischen Relationen zwischen Häusertypen, Siedlungsformen und regionalen Entwicklungsstrukturen – auch über die Stadt-Land-Vergleiche hinaus (das dokumentieren und erläutern am Beispiel von Walter Benjamin sehr schön v.Reijen/v.Doom2001)
- Diese Vorschläge können dahingehend zusammengefasst werden, dass in dieser Reihe zur Sozialraumforschung ein Folgeband angemessen wäre zum Thema „Soziale Arbeit im Dialog mit Wohnforschung und Architekturtheorie“.
Fazit
Der Band eröffnet in relevantem Umfang der Disziplin und Professionen der Sozialen Arbeit neue Perspektiven – und umreißt zugleich neue Handlungs- und Gestaltungsaufgaben. Er ist allen denen dringend zu empfehlen, die die Sozialraum- und Lebensweltforschung für wohnungsbezogene Erfahrungs-, Denk- und Handlungsräume öffnen und damit zugleich einen sektorspezifischen Beitrag leisten wollen zum Verständnis und schrittweisen Überwindung der ökologischen, sozialen und politischen Krise unseres demokratischen Gemeinwesens und Staates. Deshalb ist ihm eine weite Verbreitung sowie eine systematische Weiterführung der skizzierten Forschungsperspektiven zu wünschen.
Literatur
Alisch, Monika/May, Michael (2013): Von der Sozialraumorientierung zu Sozialraumentwicklung/Sozialraumorganisation: Ein Zugewinn in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. In: Dies. (Hrsg.): Sozialraumentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, Opladen, Berlin & Toronto: Barbara Budrich.
Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. Gesammelte Werke Bd.5, Frankfurt/M.: Suhrkamp-
Böttcher, Hermann u.a. (Red.)(2021): Milieuwissen für die Stadtentwicklung und Stadtplanung. Vhw-Schriftenreihe 21, Berlin: vhw.
Braun, Karl-Heinz (2020): Entwicklungspädagogische Theorien, Konzepte und Methoden 2: Jugendliche und Jugend, Wiesbaden: Springer VS.
Braun, Karl-Heinz (2021): Wider die „Wohnungslosigkeit“ der Sozialen Arbeit. In: gilde rundbrief 2021, H.2.
Fischer, Joachim/Delitz. Heike (Hrsg.) (2009): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld: transcript.
Hauser, Susanne u.a. (Hrsg.) (2011/2013): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd.1: Zur Ästhetik des sozialen Rames, Bd.2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript.
Hallenberg, Bernd (2018): Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland – vhw-Migranten-Survey 2018. vhw-Schriftenreihe 10, Berlin: vhw.
Lefebvre, Henri (2016): Das Recht auf Stadt, Hamburg: Nautilus.
Mullis, Daniel (2014): Recht auf Stadt. Von Selbstverwaltung und radikaler Demokratie, Münster: Unrast.
Reijen, Willem v./Doorm, Herman v. (2001): Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins, Berlin: Suhrkamp.
Rezension von
Prof.iR Dr. phil. habil Karl-Heinz Braun
Dr. phil.habil. Karl-Heinz Braun, Prof.em. für Sozialpädagogik/Erziehungswissenschaft und Leiter des „Magdeburger Archivs für Sozialfotografie“ am Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien der Hochschule Magdeburg-Stendal
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