Lilo Brockmann, Carmen Hack et al. (Hrsg.): Soziale Ungleichheit im Sozial- und Bildungswesen
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 19.04.2021
Lilo Brockmann, Carmen Hack, Anna Pomykaj, Wolfgang Böttcher (Hrsg.): Soziale Ungleichheit im Sozial- und Bildungswesen. Reproduktion und Legitimierung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 198 Seiten. ISBN 978-3-7799-6397-4. D: 26,95 EUR, A: 27,70 EUR.
Thema, Hintergrund, Autor*innen
Der Sammelband thematisiert soziale Ungleichheit und fragt, warum es in Bildungsinstitutionen und Institutionen Sozialer Arbeit nicht gelingt, Benachteiligungseffekte zufriedenstellend zu reduzieren. Vielmehr ist es so, dass die genannten Institutionen einen Beitrag zur Produktion, Reproduktion und Perpetuierung sozialer Ungleichheit leisten. Dieser Problemstellung wird mittels einer interdisziplinären Perspektive in den Beiträgen nachgegangen und anvisiert, dass in den Debatten auch Ideen manifest werden, die zu wirksamen Veränderungen im politischen und pädagogischen Handeln führen. Insofern versteht sich der Band auch als Beitrag zu einer inklusiven Pädagogik.
Drei Herausgeberinnen, Lilo Brockmann, Carmen Hack und Anna Pomykaj, sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im erziehungswissenschaftlichen Bereich der Universität Münster. Wolfgang Böttcher ist dort Professor für Erziehungswissenschaft. Die weiteren Autor*innen rekrutieren sich zumeist aus Universitäts- und Hochschulbereichen u.a. aus Halle-Wittenberg, Hamburg, Osnabrück und Jena. In der Einführung durch die Herausgeber*innengruppe wird die Grundproblematik des Thema skizziert und ein Überblick zu den zehn Beiträgen gegeben, die folgender Strukturierung folgen:
- Theoretische Beiträge (2),
- Beiträge aus der Sozialpädagogik, Sozialen Arbeit und Sozialpolitik (4) und
- Beiträge im Kontext von Schule und Bildung (4).
Im Folgenden werden in die theoretischen Beiträge und in jeweils zwei Beiträge aus den nachfolgenden Abschnitten Einblicke gegeben.
Inhalt
Theoretische Beiträge
Der erste Beitrag von Wolfgang Böttcher „Chancenungleichheit. Oder: Die ewige und langweilige Geschichte der sozialen Selektion im Bildungswesen“ rekonstruiert zunächst die Entwicklung der Chancenungleichheit in Deutschland von der Nachkriegszeit bis zu den PISA-Veröffentlichungen und aktuellen Bildungsberichten. Daran schließen sich Erklärungsmodelle an von der Theorie der sozialen Reproduktion bis zu den Forschungen von Bourdieu und Passeron. Institutionelle Diskriminierung ist jedenfalls ein unübersehbarer Tatbestand im Bildungssystem. Lässt sich diese Diskriminierung aufbrechen? Zu dieser Frage skizziert der Autor eine reflexive Pädagogik die soziale Unterschiede explizit bearbeitet. Mehr Gleichheit lässt sich auch mit verbindlichen Bildungsstandards erreichen, die unabhängig von der jeweiligen Herkunft sind und darauf zielen, Wissensdefizite auszugleichen, anstatt Kinder aus bildungsfernen Bevölkerungsschichten ihrem soziale Schicksal zu überlassen. Letztlich ist auch eine Umschichtung von Finanzmitteln erforderlich, um auf Gleichheit zielende Maßnahmen durchzuführen. Solche Vorschläge werden aber nur zu realisieren sein, wenn eine bildungspolitische Umsteuerung einsetzt, die auch das „Tohuwabohu“ im Bildungssystem beendet.
Der Folgebeitrag „Ko-Konstruierte Bildungsakteure und Bildungsgeschichten. Zur akademischen Produktion von Bildungsungleichheit“ von Matthias Grundmann geht von der These aus, dass vor allem die schulische Bildung ein institutionalisierter Transmissionsriemen für die Produktion sozialer Ungleichheit darstellt. Dies wird untermauert durch eine ideengeschichtliche Herleitung von Bildung, die aufgrund gesellschaftlicher Differenzierung (z.B. Industrialisierung) zu einer Idealisierung individueller Leistungsfähigkeit führt. Der dadurch geförderte scheinbare individuelle Bildungserfolg wird auf nachfolgende Generationen übertragen, wobei sich die Bildungsdynamik im Wesentlichen auf wirtschaftliches und politisches Handeln bezieht und nicht auf individuellen Erfolg. Die primären Sozialisations- und Bildungserfahrungen, zunächst eingebettet in ein soziales Miteinander, werden durch sekundäre Sozialisations- und Bildungserfahrungen überlagert. Und diese Überlagerungen transportieren externe, gesellschaftlich konstruierte, Bewertungsmaßstäbe in das ungleiche Bildungsgeschehen. Zuständig dafür ist u.a. ein „Verwaltungsakt von Bildungsakteuren“ (S. 41), die z.B. berufliche Tätigkeitsfelder zuweisen. Solche Vorgänge bezeichnet der Autor in Anlehnung an Bourdieu auch als disziplinierende Zurichtung der Menschenmassen. Eine hier stattfindende Ko-Konstruktion führt einmal zu einer individuellen Bildungsaneignung und zum Anderen werden Zugänge für Herrschaftspraktiken und insbesondere für akademisch ausgebildete Bildungseliten eröffnet unter Einhaltung vorgegebener Bildungsstandards. Für Akademiker*innen gilt: „Die Geweihten werden durch entsprechende Eingeweihte geadelt […]“ (S. 45). Die hier zum Ausdruck kommende Reproduktionslogik, vertiefend dargestellt am Beispiel akademischer Milieus, verhindert z.B. auch die Etablierung alternativer, lebensnaher Bildungspraxis.
Beiträge aus der Sozialpädagogik, Sozialen Arbeit und Sozialpolitik
Der Beitrag von Karin Böllert „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung – Kinder- und Jugendhilfe als Wohlfahrtserbringung“ beginnt mit einer Definition des Begriffes Wohlfahrt als Erhaltung und Entwicklung von Humanvermögen. Das ist die Grundlage individueller Wohlfahrt als Kernaufgabe der Jugendhilfe (Wohlfahrtserbringung). Auf diesem Hintergrund werden zunächst Organisationserfordernisse erörtert: Alltagsnahe und niederschwellige Angebotslandschaft, Bedeutung der kommunalen Jugendämter, öffentliche und freie Träger, plurale Infrastruktur. Die Angebote zeichnen sich durch Heterogenität aus und die Bedarfsgerechtigkeit ist grundlegend. Aber Studien verweisen auf weitere Entwicklungsnotwendigkeiten. Das betrifft u.a. auch die zentrale Rolle der Jugendhilfeausschüsse für deren Mitglieder Qualifizierungsbedarf besteht. Optimierungsbedarf besteht auch bei der Jugendhilfeplanung, bei Kooperationen und Vernetzungen. Sodann richtet sich die Aufmerksamkeit im Beitrag auf Adressaten und Adressatinnen der Jugendhilfe. Dort dürfen Zielgruppen nicht auf ihre „behandlungsbedürftigen Seiten“ reduziert werden sondern es gilt, die Unterstützung an den Ressourcen und Bedürfnissen auszurichten und auch so die Folgen ungleicher Lebensbedingungen zu bearbeiten. Eine dazu gehörende Professionalität der 836.000 (2016/2917) Fachkräfte muss sich an dem lebenspraktischen Problemfall unter der Beteiligung des Klienten ausrichten und nicht an vorhandenem Expertenwissen (reflexive Professionalität). Abschließend werden herausfordernde Perspektiven diskutiert. So z.B. eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe, die Umsetzung der Sozialraumorientierung, Entwicklung von Qualitätsmindeststandards und eine verbesserte Heimaufsicht. Auch gilt es Ausbildungskapazitäten zu steigern und dort auf die erforderliche Fachlichkeit zu achten (u.a. im Hochschulbereich). Insgesamt gilt als Ziel, junge Menschen und ihre Familien bei der Entwicklung selbstbestimmter und eigenverantwortlicher Lebenspraxis zu unterstützen.
Der Beitrag „Lebenschance Heimerziehung? Der Einfluss stationärer Erziehungshilfe auf die Biografie junger Menschen“ von Alexander Parchow führt zunächst in die Heimerziehung ein und fragt zugleich, ob diese Unterstützung zur Beseitigung sozialer Ungleichheit beiträgt. Sodann wird auf die suboptimale Studienlage zu dieser Fragestellung verwiesen auch weil einige Studien vor 20 Jahren durchgeführt wurden. Eine wichtige Ergänzung hierzu bietet die aktuelle Münsteraner Längsschnittstudie (2008-2018) über einen Zeitraum von zehn Jahren zu den Folgen und der Bedeutung der stationären Heimunterbringung in biografischen Zusammenhängen mit 102 jungen Menschen, die nicht jünger als 15 Jahre waren. An der Biografie der Teilnehmerin „Helena“ wird ein typischer Lebensverlauf ab dem 16. Lebensjahr nachgezeichnet. Diese junge Frau hat Gründe, die zur ihrer Heimunterbringung führten, spricht aber nicht darüber. Nach nicht ganz unproblematischen Start fühlt sie sich in der Wohngruppe wohler als in der Herkunftsfamilie, obwohl für sie die starren Regeln einen Störfaktor darstellen. Deshalb verlässt mit dem Erreichen der Volljährigkeit die Wohngruppe und zieht in eine eigene Wohnung, driftet aber insgesamt in eine prekäre Lebenslage. Dann bekommt sie ein Kind und hat Kontakt mit ihrer Herkunftsfamilie. Bei der fünften Befragung ist sie 26 Jahre alt lebt mit ihrem Kind und Partner zusammen und kann nach Überwindung einer Depression wieder ein normales Leben führen. Es bleibt für den Autor unklar, ob sich an diesem Fall eine Vermeidung von Ungleichheit zeigen lässt, auch deshalb verweist er auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen. Er mahnt ebenso ein verbessertes professionelles Handeln an. So hätte für „Helena“ eine Rückkehroption und eine Übergangsbegleitung bei dem Hilfeabruch geben müssen. Auch hat es keine Unterstützung bei der Berufseinmündung gegeben.
Beiträge im Kontext von Schule und Bildung
Der Beitrag von Tanja Sturm „Konstruktion von Leistungsdifferenzen in professionalisierten Unterrichtsmilieus. Ein transnationaler Fallvergleich zwischen Deutschland und den USA“ geht der Frage im Rahmen eine explorativen Studie nach, wie Bildungsungleichheit im konkreten unterrichtlichen Interaktionen hervorgebracht und bearbeitet wird. Im Mittelpunkt steht die unterrichtliche Praxis von Lehrpersonen, die im deutschsprachigen und US-amerikanischen Kontext tätig sind. Im ersten Fallbeispiel aus einer inklusiv arbeitenden Grundschule in Österreich wird mittels Gruppendiskussionen festgestellt, dass die dortigen Lehrpersonen ihre Schüler*innen mental in Gruppen einteilen (Regelkinder, hochbegabte Kinder, Kinder aus dem Niemandsland). Leitend für diese Selektion ist u.a. der Intelligenzquotient. Die unterschiedlichen Bewertungen haben zur Folge, dass für die Gruppen die professionelle Zuständigkeit verschoben wird. Für einige der Schüler*innen werden keine unterrichtlichen Angebote bereitgestellt: „Diese Kategorien sind zugleich mit der Struktur des Sortierens und der Zuordnung im deutschen Schulsystem verbunden […]“ (S. 156). Zum Vergleich wird eine amerikanische auch inklusiv arbeitende Grundschule herangezogen. Im Ergebnis stellt sich heraus, dass die amerikanischen Lehrpersonen ihren Unterricht differenzieren. Es werden mehrere wechselnde leistungsbezogene Lernsettings bereitgestellt in denen die Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand geschieht. Eine Erwartungsnorm, wie der Intelligenzquotient im ersten Beispiel, entfällt. Auch suchen die amerikanischen Lehrpersonen nicht nach außerunterrichtlichen Kompensationen wie der elterlichen Unterstützung oder der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs.
Der letzte Beitrag „Schulbegleitung im Pool-Modell als Chance für soziale Teilhabe“ von Gesa Klemp und Sofia Schnettler thematisiert die Inklusion behinderter Kinder in der Regelschule. Die häufig eingesetzte Maßnahme der Schulbegleitung ist umstritten, da Etikettierungsprozesse, bedingt durch die Einzelbetreuung, stattfinden. Der Beitrag führt ein in die Diskussion über Chancengleichheit und soziale Teilhabe, um sodann das nordrhein-westfälische Projekt „Ein guter Ort für alle – Wir gestalten Inklusion“ vorzustellen. Kennzeichen des Pool-Modells ist die Bündelung von Bedarfen in einer Klasse oder einer Schule. (ggf. auch Kinder ohne Eingliederungshilfe). Neben der Reduzierung von Etikettierungen ist diese Modell kostengünstiger, stärkt die Einbindung in das Schulkollegium und fördert die Qualifizierung der Schulbegleiter*innen. Nur 50 bis 80 Prozent dieses Personals verfügt über eine pädagogische Ausbildung). Beteiligt an dem dreijährigen Modell waren drei Projektgrundschulen aus Hamm sowie eine Vergleichsschule. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung durch die Universität Münster wurden methodisch Gruppendiskussionen, Experteninterviews und teilnehmende Beobachtung eingesetzt. Die Schulbegleitung in den Projektschulen organisiert die für die Interaktion wichtige Sitzordnung (u.a. Einzeltische, gemischte Gruppen) und kümmert sich auch um Kinder ohne sozialpädagogischen Förderbedarf. Der empirisch unterlegte Vergleich zwischen den Projektschulen und der Vergleichsschule im Rahmen von sechs Kategorien, konzentriert sich auf die Klassengemeinschaft (z.B. Ich fühle mich in meiner Klasse wohl; Kinder, die anders sind haben es schwer in unserer Klasse). Im Ergebnis ergeben sich allenfalls ganz leichte, keineswegs signifikante, Verbesserungen der Projektschulen gegenüber der Vergleichsschule. Ein sehr positives Ergebnis: „Die Kinder nehmen wahr, dass die Schulbegleitung allen Kindern hilft, nicht einem Kind mit Sonderstatus“ (S. 193).
Diskussion
Der Sammelband bearbeitet soziale Ungleichheiten und die beiden ersten theoretischen Beiträge konzentrieren sich eher auf eine Makroebene. Die Folgebeiträge betrachten eher Mikromilieus im Sozial- und Bildungssystem. Die Analysereichweiten sind daher sehr unterschiedlich und dies stellt einen konstruktiven Aspekt in dieser Veröffentlichung dar. Alle Beiträge stellen sich die Frage wie soziale Ungleichheiten reduziert werden können, wie Reproduktion und Perpetuierung unterbrochen werden kann? Dazu werden vielfältige Antworten gegeben, die durchaus Praxisnähe besitzen (z.B. Heimerziehung, Unterrichtsgestaltung). In solchen Handlungsfeldern findet sich soziale Ungleichheit und/oder reduzierte Teilhabe. Um diese Dimensionen jeweils sichtbar zu machen bedarf es der genauen kritischen und empirisch begründeten Analyse, wie es die Beiträge zeigen.
Wünschenswert wäre gewesen wenn die beiden thematisierten Systeme, Soziales und Bildung, zueinander in Beziehung gesetzt worden wären. Beide Systeme stehen bekannterweise in einer gewissen Spannung zu einander und der Band hätte die Chance geboten, diese Spannung konstruktiv auszuloten.
Fazit
Die Veröffentlichung bietet durch ihre gesammelten Beiträge kritische Einblicke in zwei bedeutsame Systeme der Gesellschaft. Diese Systeme, Sozial- und Bildungswesen, sind dabei in unterschiedlicher Weise aber durch soziale Ungleichheit sowie geringe Teilhabemöglichkeiten gekennzeichnet und reproduzieren diese Benachteiligungen vielfältig. Dies wird an Handlungsfeldern wie z.B. der Heimerziehung und der Unterrichtsgestaltung kritisch verdeutlicht und durch empirische Studien belegt.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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Zitiervorschlag
Erich Hollenstein. Rezension vom 19.04.2021 zu:
Lilo Brockmann, Carmen Hack, Anna Pomykaj, Wolfgang Böttcher (Hrsg.): Soziale Ungleichheit im Sozial- und Bildungswesen. Reproduktion und Legitimierung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6397-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28035.php, Datum des Zugriffs 12.10.2024.
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