Barbara Horten: Sexuelle Gewalt unter altersgleichen Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Kury, 25.02.2021

Barbara Horten: Sexuelle Gewalt unter altersgleichen Kindern und Jugendlichen. Eine metaanalytische Untersuchung der Prävalenzraten und der Viktimisierungsrisiken. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 378 Seiten. ISBN 978-3-8487-7775-4. 79,00 EUR.
Thematische Einführung
Sexuelle Gewalt ist weltweit ein verbreitetes Thema, ihre Erforschung blickt, wie Horten zu Beginn ihrer Untersuchung zurecht betont, inzwischen auch auf eine lange Tradition zurück. Die Schäden, die bei den Opfern, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, durch die Taten bewirkt werden, sind in aller Regel erheblich, dauern vielfach ein Leben lang an. Wie in den letzten Jahren zunehmend offenkundig wurde, sind auch Angehörige von Kirchen, etwa Priester oder Ordensangehörige, nicht davor gefeit, zu Tätern zu werden, eine Problematik, bei deren Aufarbeitung sich auch in Deutschland die Kirche nach wie vor schwer tut.
Gerade bei Sexualstraftaten ist davon auszugehen, dass das Dunkelfeld, das bezüglich Kriminalität allgemein auf bis zu 90 % geschätzt wird, besonders hoch ist. So betont etwa Kürzinger (1996: S. 181), Dunkelfeldstudien lassen „vermuten, dass nur etwa ein Zehntel der klassischen Kriminalität aus dem Dunkelfeld bei der Polizei tatsächlich zur Anzeige kommt. Jedenfalls wird kaum mehr von ihr registriert“. Kindliche Opfer melden die Vergehen oft nicht, geraten als Opfer selbst in die Gefahr, stigmatisiert zu werden. Vielfach sind ihre nächsten Angehörigen, etwa auch die Eltern, die Täter, oft finden die Straftaten in einem familiären Umfeld statt. Inzwischen gibt es mehr und mehr spezialisierte Beratungsstellen, bei welchen den Opfern gezielt geholfen werden kann. Wichtig ist vor allem auch eine Aufklärung der Öffentlichkeit über Vorkommnisse von sexueller Gewalt. Auch hierzu kann die Arbeit von Barbara Horten beitragen.
Die Autorin diskutiert in ihrer Veröffentlichung ein breites Spektrum von unterschiedlichen Aspekten sexueller Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Wichtig ist vor allem eine Klärung der Begriffe, was unter sexueller Gewalt verstanden wird, wie etwa die strafrechtlichen Bestimmungen und Abgrenzungen sind. Ein wesentlicher Punkt ist der Umfang der Problematik sowie mögliche und wirksame Präventionsmaßnahmen und deren systematische Weiterentwicklung.
Aufbau und Inhalt
Der Band enthält einschließlich einer Einleitung in die Thematik (S. 25–28) insgesamt elf Kapitel und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Wie die Autorin zurecht betont, werden „kriminologische, viktimologische und epidemiologische Fragestellungen zu sexueller Gewalt … durch verschiedene Wissenschaften untersucht“ (S. 25). Vor allem von viktimologischer Seite wurden Untersuchungen immer wieder durchgeführt, insbesondere auch zur Entwicklung von Schutzmaßnahmen. „Die sexuelle Gewalt unter altersgleichen Kindern und Jugendlichen scheint insbesondere im institutionellen Alltag eine bedeutsame Rolle zu spielen, wenngleich die Thematik erst in den letzten Jahren einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung unterzogen wurde“.
Seit der Entdeckung der Missbräuche in der katholischen Kirche vor ca. 10 Jahren seien vor allem vermehrt auch deutschsprachige Studien durchgeführt worden. Allerdings bildete dabei die Untersuchung von sexuellen Gewalthandlungen unter gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen kein besonderer Forschungsschwerpunkt. Deutlich wurde, dass vor allem in Institutionen der Anteil von Übergriffen durch Gleichaltrige erheblich ist. Dabei spielt die Peer-Gruppe gerade in der Adoleszenz eine wesentliche Rolle für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, deren Lernen von Umgangsnormen und der Eingliederung in die Gesellschaft. Die eigene Studie dient der Klärung der Bedeutung der Gruppe von Gleichaltrigen in Zusammenhang mit sexueller Gewalt (S. 26). Insbesondere hier besteht ein Klärungs- und Handlungsbedarf, besonders im Hinblick auf wirksame Präventionsmaßnahmen. Es geht auch um die Identifizierung von besonders gefährdeten Gruppen.
Im zweiten Kapitel, „Ziele und Forschungsfragen der Untersuchung“ (S. 29–31), betont die Autorin, „in erster Linie bestand das Ziel der vorliegenden Metaanalyse darin, den internationalen Forschungsstand zum sexuellen Missbrauch unter altersgleichen Kindern und Jugendlichen zu beschreiben und dazu möglichst alle deutsch- und englischsprachigen empirischen Untersuchungen einzubeziehen“ (S. 29). Es ging vor allem um eine viktimologische Perspektive, um eine systematische Aufarbeitung des Forschungsstandes. Dabei seien unterschiedliche Forschungsfragen verfolgt worden. „Die sexuelle Gewalt unter altersgleichen Kindern und Jugendlichen ist ein weit verbreitetes Phänomen und wird zunehmend als solches gesellschaftspolitisch wie auch wissenschaftlich erkannt“ (S. 29). Was wissenschaftliche Untersuchungen zu der Thematik betrifft besteht jedoch nach wie vor ein Mangel. Die Forschungsfragen der eigenen Analyse werden von der Autorin klar definiert (S. 30).
Kapitel drei geht auf „Begriffsbestimmungen“ ein (S. 33–56), vor allem hinsichtlich „Minderjährigkeit“, „Altersgleichheit“ und „Sexuelle Gewalt“, wobei der letzte Begriff am komplexesten ist. Als Minderjährige werden Kinder und Jugendliche definiert, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Als Altersgleiche werden in der Regel Personen beschrieben, die sich sowohl in Bezug auf das Alter als auch der Wertvorstellungen und Verhaltensweisen ähneln (S. 33). Berücksichtigt wurden in der Studie Kinder und Jugendliche, sowohl Opfer als auch Täter waren zum Zeitpunkt der Ersttat noch minderjährig.
Deutlich komplexer und weniger klar zu definieren ist „sexuelle Gewalt“. Die Autorin geht vor allem auf Formen sexueller Gewalt und deren Behandlung im Sexualstrafrecht ein, insbesondere was sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen betrifft. Eine einheitliche Definition von sexueller Gewalt bestehe nicht, was auch einen Vergleich einzelner Studien erschwere. Auch unter altersgleichen Minderjährigen können sich Machtgefälle ergeben, die zur Ausübung sexueller Gewalt beitragen können. Die Autorin versteht unter sexueller Gewalt „jede sexuelle Handlung an einem anderen Menschen, die gegen den Willen dieses Menschen vorgenommen wird“ (S. 36). Die Tathandlungen werden, wie weitgehend üblich, in Hands-off- und Hands-on-Handlungen unterteilt (S. 37). Differenziert geht Horten auf sexuelle Gewalt nach dem Sexualstrafrecht ein, die einzelnen strafrechtlichen Bestimmungen werden kurz vorgestellt und diskutiert. Die strafrechtlichen Regelungen über den sexuellen Missbrauch von Kindern haben sich in den letzten Jahren immer wieder verändert, wobei § 176 (Sexueller Missbrauch von Kindern) des Strafgesetzbuches den „Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ bildet (S. 46). § 176 legt vor allem fest dass bestraft werde, „(1) wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt…“, ferner, (2) „wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen lässt“.
Kapitel vier stellt empirische Ergebnisse zur „Entwicklung der sexuellen Gewalt an Minderjährigen im Hell- und Dunkelfeld“ vor (S. 57–95). Zunächst diskutiert die Autorin die zeitliche Entwicklung im Hellfeld anhand von Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik. Ein Vergleich zwischen Hell- und Dunkelfelddaten unterliegt methodischen Einschränkungen, da etwa den Statistiken bzw. Untersuchungen unterschiedliche Definitionen des sexuellen Missbrauchs zugrunde liegen (S. 57). Die Aussagekraft von polizeilich registrierten Straftaten hängt vor allem auch vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung und dem Registrierverhalten der Polizei ab. Gerade das Anzeigeverhalten hat sich, vor allem auch was Sexualstraftaten betrifft, im zeitlichen Verlauf verändert. Horten wertet die Polizeidaten für die Jahre 1994 bis 2019 aus und stellt die wesentlichen Ergebnisse übersichtlich in Tabellen und Graphiken dar (S. 59 ff.). Da sich der sexuelle Missbrauch von Kindern vielfach in deren Familie ereignet, führt das bei den angezeigten Fällen in der Regel auch zu einer hohen Rate der Klärung der Tatverdächtigen. Der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte wirkte sich auf die Demographie und damit auch auf die polizeilich registrierte Zahl der Missbrauchsfälle aus.
Die Häufigkeitszahl (Zahl der polizeilich registrierten Fälle pro 100.000 der Bevölkerung) bezüglich sexueller Gewalt an Minderjährigen (§ 176 StGB) hat sich in den 25 Jahren von 1994 bis 1998 von 18,6 auf 20,2 erhöht, geht dann bis 2010 auf 14,5 deutlich zurück, danach zeigt sich bis 2019 ein erneuter Anstieg auf 16,5 Fälle (S. 62). Was die geschlechtsspezifische Verteilung der Opfer betrifft waren in Bezug auf Vergehen nach § 176 StGB durchgehend zwischen 73,8 % (im Jahr 2016) und 80,1 % (im Jahr 1998) weiblichen Geschlechts. Mädchen unterliegen somit einer deutlich höheren Gefahr, sexuell missbraucht zu werden als Jungen.
Da wie erwähnt gerade bei sexuellem Missbrauch von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen werden muss, kommt Dunkelfeldstudien in dem Bereich eine besondere Bedeutung zu. Nach Recherchen der Autorin wurden in Deutschland bisher „noch keine Dunkelfeldstudien durchgeführt …, in denen die Epidemiologie der sexuellen Gewalt unter altersgleichen Minderjährigen untersucht wurde“, es musste hier deshalb auf Untersuchungen zurückgegriffen werden, „die nicht explizit den sexuellen Missbrauch unter altersgleichen Kindern und Jugendlichen zum Gegenstand hatten“ (S. 75). Erste einschlägige Studien wurden in Deutschland in den 1990er Jahren durchgeführt.
Auch die Dunkelfelduntersuchungen weisen auf eine Abnahme der einschlägigen Sexualstraftaten hin. Die Autorin betont vorsichtig, der teilweise beobachtete Rückgang sexueller Gewalt beruhe „möglicherweise auf einer tatsächlichen Abnahme des Delikts oder könnte auf sonstige Faktoren zurückzuführen sein“ (S. 78). In diesem Zusammenhang diskutiert sie Faktoren wie bevölkerungsbedingte Veränderungen, die etwa zu einem allgemeinen internationalen Rückgang von Straftaten beigetragen haben. Auch der Alkohol- und Drogenkonsum, der auch sexuelle Gewalt begünstige, sei in den letzten Jahren rückläufig. Hinzu käme weiterhin ein Ausbau von Präventionsprogrammen. Auch Veränderungen im Anzeigeverhalten könnten eine wesentliche Rolle spielen.
Kapitel 5 diskutiert „Methodische Aspekte bei der Erforschung von sexueller Viktimisierungserfahrung“ (S. 97–112), wobei insbesondere auf „Methodische Besonderheiten der quantitativen Erhebung“ und verschiedene standardisierte Erhebungsinstrumente eingegangen wird. Gerade bei der Erforschung solch sensibler Bereiche wie sexuellem Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen spielt das methodische Vorgehen hinsichtlich der Gewinnung valider Ergebnisse eine besondere Rolle. So betont Horten zurecht: „Die Erhebung der sexuellen Gewalterfahrung ist, unabhängig davon, ob es sich bei dem Beschuldigten um eine altersgleiche oder um eine erwachsene Person handelte, mit Besonderheiten und Grenzen behaftet“ (S. 97). Daten können etwa nicht nur von den Betroffenen selbst, sondern auch von Bezugspersonen, von Drittpersonen und Tatzeugen oder durch Dokumentenanalysen gewonnen werden.
Bei Dunkelfelduntersuchungen erfolgt die Befragung in der Regel retrospektiv, indem Erwachsene gebeten werden, Angaben über eventuelle frühere Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch zu machen. Hierbei spielt die Gewinnung repräsentativer Stichproben, etwa durch eine Zufallsauswahl, eine zentrale Rolle, wobei es wichtig ist, die Ausfallquote möglichst niedrig zu halten, was bei sensiblen Themen, wie sexuellen Erfahrungen, in der Regel ein erhebliches Problem darstellt. Auch Methodeneffekte erhalten hier eine besondere Bedeutung, wie etwa die Qualifizierung der Interviewer, deren Geschlecht und Vorgehensweise oder die Gestaltung des Erhebungsinstruments, insbesondere bei schriftlichen Umfragen. „Die Vergleichbarkeit von Hellfeld- und Dunkelfelddaten und die Vergleichbarkeit zwischen den Einzelstudien wird dadurch erschwert, dass die Tatdefinition der sexuellen Gewalt variiert“ (S. 102). Befragte definieren das Geschehen, vor allem, wenn es sich nicht um ausgesprochen schwere Straftaten handelt, je nach Geschlecht und (sozialer) Herkunft in der Regel unterschiedlich.
Was Befragungen mittels standardisierter Erhebungsinstrumente betrifft stellt Horten sechs wesentliche gebräuchliche internationale Verfahren vor, wie etwa das Instrument der American Association der University Women Educational Foundation, das Conflict in Adolescent Dating Relationships Inventory oder den Juvenile Victimization Questionnaire. Die methodische Qualität der Instrumente variiert teilweise erheblich.
In Kapitel sechs werden „Metaanalytische Befunde zur sexuellen Gewalt an Minderjährigen“ zusammenfassend vorgestellt und bewertet (S. 113–125). Es wurde überprüft, „welche systematischen Literaturübersichten zur sexuellen Gewalt unter Minderjährigen durchgeführt wurden und welche Untersuchungen eine metaanalytische Integration von Studienbefunden zum Untersuchungsziel hatten“ (S. 113). Übersichtsarbeiten, auch in Deutschland, zeigen, dass Mädchen ein höheres Viktimisierungsrisiko haben als Jungen, in höherem Maße in der Gefahr sind, Opfer von schwereren sexuellen Übergriffen zu werden. Aufgrund unterschiedlicher kultureller Bedingungen ist die Übertragbarkeit von Untersuchungsergebnissen, etwa aus US-amerikanischen Studien auf deutsche Gegebenheiten eingeschränkt. Das spricht für die Notwendigkeit spezifischer deutscher Untersuchungen. Vorliegende deutsche Studien würden eine geringere Zahl von Betroffenen zeigen als etwa US-amerikanische Studien, was mit einer höheren Sensibilität amerikanischer Schüler gegenüber sexuell übergriffigem Verhalten zusammenhängen könnte.
Metaanalysen, die sich gezielt mit der sexuellen Gewalt unter altersgleichen Minderjährigen beschäftigen, seien bisher nicht bekannt. Bestehende Untersuchungen würden sich vielmehr mit sexueller Gewalt an Minderjährigen beschäftigen, unabhängig vom Altersunterschied zwischen Tätern und Opfern (S. 118). Zusammenfassend stellt die Autorin fest: „Sowohl die Literaturreviews als auch die Metaanalysen ermittelten eine höhere studienübergreifende Prävalenzrate für weibliche Befragte als für männliche Studienteilnehmer“ (S. 124). Die Autorin stellt die gefundenen Resultate übersichtlich in einer Tabelle dar aus der hervorgeht, dass die in den analysierten Studien gefundene durchschnittliche Prävalenz hinsichtlich sexuellen Missbrauchs breit streut, durchschnittlich bei weiblichen Opfern jedoch deutlich höher liegt als bei männlichen (S. 125).
Kapitel 7 stellt das Untersuchungskonzept der eigenen quantitativen Metaanalyse vor (S. 127–140). Es werden vor allem die Vorteile metaanalytischer Untersuchungen, aber auch Probleme bei deren Durchführung beschrieben und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Im Rahmen einer Forschungssynthese ermögliche eine „Metaanalyse eine systematische Recherche zu einer vorab definierten Fragestellung mit anknüpfender Bewertung und Zusammenfassung der statistischen Befunde, die im Rahmen von Primärstudien erhoben wurden“ (S. 127). Somit liefern Metaanalysen Aussagen zu Einzelstudien übergreifenden Effekten zu vorher umschriebenen Fragestellungen. Ziel sei die Berechnung der mittleren Effektgröße, narrative Reviews würden dagegen keine Signifikanzwerte liefern, was einen wesentlichen Nachteil darstelle. Metaanalysen sehen sich unterschiedlichen Problembereichen gegenüber, wie einer geringen Zahl bzw. Qualität von Primärstudien bzw. fehlenden Daten, etwa in den Primärstudien, damit einer Einschränkung deren Aussagekraft.
Kapitel acht beschreibt detailliert das methodische Vorgehen bei der eigenen Metaanalyse (S. 141–172). Besonders geht die Autorin dabei auf den Untersuchungszeitraum ein, die Untersuchungsebenen und Erhebungseinheiten, das Verfahren zur Stichprobengewinnung, auf das Erhebungsinstrument zur Kodierung der Studien und das Auswertungsverfahren. Hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse kommt der Stichprobenauswahl eine besondere Bedeutung zu. Horten strebte mit ihrer Studie „eine möglichst vollständige Darstellung des deutschen und internationalen Forschungsstandes im Hinblick auf die sexuelle Gewalt an Minderjährigen durch Altersvergleiche an“, hat sich somit ein hohes Ziel gesetzt (S. 142). Zum Auffinden vorliegender Studien wurden multiple Suchstrategien eingesetzt, etwa die Durchsicht elektronischer Literaturdatenbanken aus verschiedenen Fachdisziplinen bzw. die Suche in Fachzeitschriften oder die Befragung von Experten. In einem mehrstufigen Auswahlprozess wurden die gefundenen Beiträge hinsichtlich ihrer Eignung für die eigene Untersuchung bewertet. Besonderes Augenmerk wird von der Autorin ferner auf die Auswertungsverfahren für die gesammelten Daten gelegt.
Kapitel neun, das umfangreichste, enthält die gefundenen Ergebnisse der eigenen Analyse, die ergänzend stets in übersichtlichen Tabellen und Graphiken dargestellt werden (S. 173–323). Insgesamt konnte Horten 38 empirische Studien in ihre Analyse einbeziehen, davon zwei aus Deutschland, die meisten aus den USA und auch Kanada. Es wurden Untersuchungen erfasst, die zwischen 1992 und 2017 veröffentlicht wurden, die meisten erschienen in der Zeit von 2001 bis 2010. Die meisten Studien wurden in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht, bei etwa der Hälfte der Untersuchungen waren Psychologen beteiligt. Bei mehr als zwei Drittel der Studien erfolgte die Stichprobenziehung per Zufall, bei immerhin fünf Untersuchungen wurde eine Kontrollgruppe gebildet. Die Stichprobengröße lag im Median bei 1.441. Bei 76 % der Befragungen fand diese in Schulen statt. Bei 55 % der Studien wurden ausschließlich sexuelle Gewalterfahrungen abgefragt, beim Rest auch andere Delikte. Die Rücklaufquoten bei den einzelnen Erhebungen lagen zwischen 98 % und 36 %, bei einem Durchschnitt von 80 %. Hierbei zeigten neuere Studien eine deutlich geringere Rücklaufquote als frühere Befragungen, was auf eine Einschränkung der Befragung in neueren Studien auf Hands-on-Handlungen zurückgeführt werden kann. „Es scheint, als hinge die Bereitschaft, an der Befragung teilzunehmen, ganz entscheidend davon ab, welche erlebten Sexualdelikte im Fokus der Befragung stehen. Wird gezielt nach schwerwiegenden Tathandlungen gefragt, kann dies auf die für die Befragung ausgewählten Schüler abschreckend wirken, sodass diese schließlich die Studienteilnahme verweigern“ (S. 193).
Insgesamt wurden Daten von 211.548 Befragten in die Metaanalyse einbezogen. Das Durchschnittsalter aller Befragten lag bei 15,4 Jahren. Die Raten an Befragten, die Opfer sexueller Gewalt durch eine altersgleiche Person wurden, die Prävalenzraten, streuten zwischen den einzelnen Studien erheblich, von 1,3 % bis 87,8 %. Die durchschnittliche gewichtete Prävalenzrate betrug 24,5 % was bedeutet, dass etwa ein Viertel aller Befragten Opfer von sexueller Gewalt durch Altersgenossen geworden sind. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Erhebungen ergaben sich vor allem aufgrund verschiedener Tatdefinitionen. Auch der festgestellte Rückgang der Delikte über die Zeit kann hierauf zurückgeführt werden. Was das Geschlecht der Opfer betrifft, waren 54 % männlich und 36 % weiblich, bei 10 % der Studien fehlten entsprechende Angaben.
Was die Folgen der Taten für die Opfer angeht unterscheiden diese sich nicht wesentlich, ob der Täter altersgleich oder erwachsen war. „Sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit gilt als ein zentraler Risikofaktor, der zur Beeinträchtigung der psychischen Entwicklung beiträgt“ (S. 201). Die Wahrscheinlichkeit negativer Folgen steigt nach einigen Untersuchungen, je früher die sexuelle Gewalttat im Lebensalter erfahren wurde, allerdings gibt es auch Untersuchungen mit gegenteiligem Effekt. Die Folgen können vor allem posttraumatische Belastungsstörungen sein, psychische Gesundheitsstörungen bzw. eine Beeinträchtigung der Lebensqualität, Essstörungen bzw. das Abgleiten in Drogenkonsum. Es wurden für weibliche und männliche Befragten ähnliche Effekte festgestellt. Die Autorin vergleicht ihre Resultate mit weiteren nationalen und internationalen Studien, welche die Resultate weitgehend bestätigen. Was die Beschuldigten betrifft waren die Täter in den analysierten Studien zu etwa zwei Drittel männlich. In den meisten Fällen waren Täter und Opfer vor der Tat miteinander bekannt. Die Autorin teilt weitere differenzierte Ergebnisse zu Tatörtlichkeit, Tatmittel und Tathäufigkeit mit und diskutiert die gefundenen Resultate.
Im weiteren geht Barbara Horten differenziert Fragen nach, wieweit die Durchführungsbedingungen der Studien, wie das Erhebungsjahr, die Förderer der Untersuchungen, die Fachdisziplin der Autoren oder das Land der Untersuchung, einen Einfluss auf Prävalenzraten und Viktimisierungsrisiken haben. Weiterhin werden methodische Faktoren der Variabilität der Effektstärken erörtert und überprüft, wie Verfahren der Stichprobengewinnung, der Stichprobengröße, der Anzahl der befragten Schulen bzw. Messmerkmale der sexuellen Gewalt. Besondere Aufmerksamkeit widmet Horten auch dem Thema der „Befragungsmerkmale als Moderatoreffekte“ (S. 252 ff.), etwa der Frage, wieweit die Gestaltung des Erhebungsinstruments, der Ort der Befragung oder die Beziehung zwischen Studienteilnehmern und Betreuern der Befragung einen Einfluss auf die Ergebnisse haben.
Es zeigten sich in einigen Studien deutliche positive Zusammenhänge zwischen Problemen in der Familie der Opfer, wie Streitigkeiten und Gewalt, und der Viktimisierungswahrscheinlichkeit der Kinder, wobei offensichtlich vor allem verletzendes Verhalten eine Rolle spielt. Elterliche Überwachung und Autorität trägt dagegen eher zu einem verminderten Opferrisiko bei. Auch positive schulische Bedingungen, wie eine gute Einschätzung der Lehrer-Schüler-Beziehung oder eine Einbindung in schulische Entscheidungen wirken sich nach einigen Studien präventiv auf sexuellen Missbrauch durch Gleichaltrige aus. Psychische Vorbelastungen wirken sich nach einigen Untersuchungen dagegen begünstigend auf Viktimisierungen aus.
Eine Regressionsanalyse zeigte erwartungsgemäß den stärksten Effekt zwischen der Definition der Tat und der Prävalenzrate. Studien mit weit gefasster Definition von sexueller Gewalt erzielten eine signifikant höhere Prävalenzrate. Weiterhin zeigten sich Einflusseffekte der Methodik, etwa der Gestaltung des Fragebogens, auf die Resultate. Erhebungen, die eine differenziertere Antwortskala verwendeten zeigten höhere Werte an sexueller Viktimisierung als solche mit weniger Antwortkategorien. Auch die Institution der Studienförderung hatte einen Einfluss auf die Antworten. Diese Ergebnisse zeigen den erheblichen Einfluss der Forschungsmethode auf die Ergebnisse der Befragungen (Kury/Lichtblau/Neumaier 2004). So ist etwa wenig überraschend, dass “Erhebungen mit einer weiten Definition der sexuellen Gewalt … eine durchschnittlich höhere Prävalenzrate (ermittelten) als Untersuchungen mit engeren Tatdefinitionen“ (S. 314). Die Autorin betont in diesem Kontext, dass „Unterschiede zwischen den Prävalenzraten insbesondere durch Unterschiede im Untersuchungsdesign zu erklären“ seien (S. 319).
Was Risikofaktoren betrifft besteht nach den Ergebnissen der Einzelerhebungen „ein erhöhtes Viktimisierungsrisiko bei Minderjährigen, die sich in einem fortgeschrittenen Pubertätsstadium befinden, als attraktiv angesehen werden, sich durch ein geringes Sicherheitsempfinden sowie durch eine niedrige Selbstsicherheit auszeichnen, in erhöhtem Maße Alkohol und Drogen konsumieren oder bei denen selbstverletzendes Verhalten, suizidale Gedanken oder Essstörungen aufgetreten sind. Überdies wurden eine sexuelle Viktimisierungserfahrung und ein problematisches Familienverhältnis als Risikofaktoren identifiziert“ (S. 319). Den höchsten methodischen Einfluss auf die gefundenen Ergebnisse hatten der Inhalt der Tatdefinition, die Art der Skalierung der Antwortmöglichkeiten und wieweit gleichzeitig sonstige Viktimisierungserfahrungen abgefragt wurden.
Kapitel zehn enthält die „Diskussion“ der zentralen Ergebnisse der Metaanalyse (S. 325–353). Zunächst geht Horten auf wesentliche deskriptive Studienmerkmale ein. In Deutschland liegen in der Zwischenzeit nur wenige einschlägige Studien vor. Erst in Zusammenhang mit der Diskussion um sexuellen Missbrauch in der Kirche in den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der Untersuchungen zu sexuellem Missbrauch in einem institutionellen Kontext an. Einschränkungen der Aussagekraft der eigenen Analyse werden kritisch erörtert. So sei die Zugänglichkeit zu einzelnen Studien teilweise schwierig gewesen.
Ein abschließendes kurzes Kapitel liefert ein Fazit und einen Ausblick der Untersuchung (S. 355–356). Die Analyse habe deutlich gemacht, dass es sich bei der untersuchten sexuellen Gewaltform „um ein nicht zu vernachlässigendes Problem handelt. Insbesondere besteht in Deutschland bei der sexuellen Gewalt unter Kindern und Jugendlichen Forschungsbedarf, da nur einzelne Befunde vorliegen und diese aufgrund unterschiedlicher Instrumentarien nur bedingt mit internationalen Untersuchungen vergleichbar sind.“ Die Autorin gibt zusammenfassend weiterführende methodische Hinweise für zukünftige Befragungen zu dem Bereich. Es komme bei zukünftigen Untersuchungen vor allem auch auf eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die Problematik an. „Eine wirksame Präventionsarbeit kann nur durch evidenzbasierte Grundlagenforschung gewährleistet werden“ (S. 356). Vor allem sei eine Herausarbeitung von Risiko- und Schutzfaktoren sowie der strukturellen Bedingungsfaktoren wichtig, die Effektivität von Präventionsmaßnahmen sollte durch Begleitforschung kontinuierlich überprüft werden.
Zielgruppen
Der Band gibt einen detaillierten internationalen Überblick über sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen vergleichbaren Alters, greift damit ein wesentliches gesellschaftliches Problem auf, vor allem wenn man die in der Regel erheblichen Schäden bei den Opfern berücksichtigt. Die Autorin zieht zu ihrer eigenen Metaanalyse eine Fülle von einschlägiger Literatur heran, der Leser wird somit über vorliegende vergleichbare Resultate gut informiert. Sexuelle Gewalt bzw. sexuell missbräuchliches Verhalten ist in Grenzbereichen nur schwer zu definieren, die Sichtweise hat sich in den letzten Jahrzehnten auch zunehmend verändert, wird in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich gesehen. Die öffentliche Diskussion in den Medien, oft in Zusammenhang mit einzelnen Missbrauchsfällen, hat wesentlich zu einer Sensibilisierung in der Öffentlichkeit beigetragen. So ist die Thematik in den letzten Jahren, auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Diskussion um sexuelle Gewalt in der Kirche, mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Das Ausmaß einer Viktimisierung hängt vor allem auch von den familiären Bedingungen möglicher Opfer ab, aber auch gesellschaftlicher Gegebenheiten. Einer Aufklärung der Öffentlichkeit, zu der die Studienergebnisse der Autorin beitragen können, kommt somit eine wesentliche Bedeutung hinsichtlich einer Prävention zu.
Diskussion
Beeindruckend an der Metaanalyse von Horten ist die Differenziertheit der Darstellung vor dem Hintergrund einer umfangreichen international ausgerichteten Literaturanalyse. Die Autorin bemühte sich intensiv, vorhandene Studien im gewählten Untersuchungszeitraum möglichst umfassend in die eigene Analyse mit einzubeziehen. Die differenzierte Diskussion einzelner Aspekte, wie Begriffsbestimmungen, methodischer Probleme bei der Erfassung von einschlägigen Vorkommnissen oder der Wirksamkeit von Schutzfaktoren gibt auch wesentliche Hinweise für die zukünftige einschlägige Forschung.
Fazit
Wer an dem Thema sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen interessiert ist, vor allem auch durch Altersgleiche, wird in dem Band eine Fülle bisher vorliegender Studienergebnisse finden, die von der Autorin gut gegliedert und auch in Tabellen und Graphiken übersichtlich dargestellt werden. Deutlich wird auch die Komplexität der Problematik, die sich bereits in der Definition dessen zeigt, was unter sexueller Gewalt zu verstehen ist. Eine einheitliche Definition besteht nicht, was etwa auch den Vergleich von Studienergebnissen und der Einordnung der gefundenen Resultate außerordentlich erschwert. Ein aussagekräftiger Vergleich der Prävalenzraten über die Jahre hinweg, damit der zeitlichen Entwicklung des Vorkommens sexueller Gewalt, ist im Kontext unterschiedlicher Studiendesigns und methodischer Vorgehensweisen kaum möglich. Hinzu kommt das erhebliche Dunkelfeld, gerade bei dieser Gruppe von Straftaten. Wie die Autorin zurecht betont, sind weitere methodisch gut geplante Längsschnittstudien erforderlich. Wer an der Thematik des sexuellen Missbrauchs, vor allem an Kindern und Jugendlichen, insbesondere auch an methodischen Forschungsproblemen interessiert ist, enthält durch die Lektüre des Bandes eine Fülle von wesentlichen und weiterführenden Anregungen.
Das Gesamturteil ist vor diesem Hintergrund: Sehr empfehlenswert.
Literatur
Kürzinger, Josef (1996): Kriminologie. Eine Einführung in die Lehre vom Verbrechen. Stuttgart u.a.: Richard Boorberg Verlag
Kury, H., Lichtblau, A., Neumaier, A. (2004): Was messen wir, wenn wir Kriminalitätsfurcht messen?; in: Kriminalistik 58, 457–465.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Kury
Universität Freiburg, Max Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht (pens.)
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