Brigitta Schröder: Blickrichtungswechsel
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 13.09.2021

Brigitta Schröder: Blickrichtungswechsel. Lernen mit und von Menschen mit Demenz. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 4., aktualisierte Auflage. 140 Seiten. ISBN 978-3-17-037154-5. 19,00 EUR.
Thema
Die Pflege und Betreuung Demenzkranker ist in konzeptioneller Hinsicht immer noch in der Phase, bisher noch keinen allgemeinverbindlichen Weg hinsichtlich der Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege entwickelt zu haben. Es konkurrieren gegenwärtig mehrere Modelle und Konzepte in den Fachkreisen, wobei sich hierbei grob zwei Hauptrichtungen unterscheiden lassen. Eine neurowissenschaftlich orientierte Richtung erklärt das Verhalten der Demenzkranken und den Umgang mit ihnen anhand neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Gegenposition hingegen entzieht sich bewusst eines neurobiologischen Orientierungsrahmens. Es werden hierbei Demenzpflegemodelle konzipiert, die teils auf normativ-ideologischen Sichtweisen beruhen, ohne jedoch Wirksamkeitsnachweise erbringen zu können. Im Rahmen dieser Kontroversen ist es für den fachlichen Diskurs von Bedeutung, sich mit neuen Konzepten wie dem hier entworfenen „Blickrichtungswechsel“ der vorliegenden Veröffentlichung auseinander zu setzen.
Autorin
Brigitta Schröder ist eine Schweizer Diakonissin, die ihr Berufsleben als Krankenschwester im Gesundheitswesen überwiegend in leitender Stellung in Deutschland verbrachte. Des Weiteren hat sie u.a. ein Seniorenstudium in Geragogik und Gerontologie in Dortmund absolviert.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in fünfzehn Kapitel nebst Vorworte untergliedert.
In Kapitel 1 (Wissenswertes über Demenz, Seite 17 – 31) wird zu Beginn kurz auf die demographische Entwicklung im Kontext der Demenzerkrankungen hingewiesen. Es folgen übersichtsartig Informationen über demenzspezifische Verhaltensweisen im frühen Stadium, Diagnose und Verlauf der Erkrankung. Das Fünf-Säulen-Konzept der Ich-Identität von Hilarion Petzold (Leiblichkeit, soziales Netz, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit und Wertorientierung) wird anschließend als Orientierungsrahmen für die Begleitung und Betreuung Demenzkranker vorgeschlagen. Diese Säulen werden im Laufe der Erkrankung zunehmend brüchig und sind daher kaum noch tragfähig. So geht es daher vorrangig darum, diese Identitätsstützen zum Wohle der Betroffenen zu stabilisieren.
Kapitel 2 (Miteinander auf dem Weg sein, Seite 32 – 47) enthält anfangs Ratschläge zur Umgestaltung des wohnlichen Umfeldes des Demenzkranken, um selbstgefährdendes Verhalten zu vermeiden: u.a. Entfernung von Teppichen und Kabeln (Sturzgefahr), spitzen Gegenständen und Elektrogeräten, Verschluss von Reinigungsmitteln und Medikamenten, Handgriffe anbringen lassen, Sicherung der Fenster und Balkontüren.
Der Alltag mit einem demenzkranken Angehörigen sollte anregende Impulse enthalten: Malen, Spielen, rhythmische Bewegungen und ritualisierte Spaziergänge. Auch die Mithilfe im Haushalt als ein psychisch stabilisierendes Beschäftigungsangebot wird vorgeschlagen. Betont wird hierbei die Bedeutung des Lachens und des Humors als ein Element zur Steigerung des Wohlbefindens und der Lebensfreude bei all diesen Beschäftigungen. Die Autorin verweist anschließend auf die Bedeutung von „Selbstfürsorge und Selbstschutz“ für die pflegenden Angehörigen, um diesen oft schweren Alltag bewältigen zu können.
Des Weiteren werden folgende Beschäftigungs- und Anregungsangebote angeführt: das Konzept einer „ritualisierten Spiritualität“ (wöchentlicher Gesprächskreis – die Sternstunde, ein spirituelles Miteinander – Gottesdienst), Aktivierungsangebote wie das „Kumquats-Handpuppenspiel“, Mandala-Malen und Sprichwörter aufsagen.
In Kapitel 3 (Voneinander lernen, Seite 48 – 59) stellt die Autorin zu Beginn die Frage: „Ist es wirklich möglich, von Menschen mit Demenz zu lernen?“ Anschließend merkt sie an: „Menschen mit Demenz leben wie kleine Kinder im Hier und Jetzt.“ Das Lernen wird in diesem Zusammenhang als ein Handlungsmuster in der Pflege und Betreuung beschrieben. Damit meint sie u.a. sich gegenseitig zu berühren, wobei sie auf Hilfsmittel wie Klangschalen und Gongs als Stimulierungselemente verweist.
Kapitel 4 (Gemeinsames erleben, Seite 60 – 82) enthält anhand von Fallvignetten die Darstellung verschiedener Interventionsformen im Umgang mit Demenzkranken: u.a. sinnliche Erfahrungen, Berührungen, Rituale (u.a. Gebetsritual), Führen mit gestischen Bewegungen, nonverbale Kommunikation und Beispiele aus der häuslichen Pflege.
In Kapitel 5 (Sexualität in neuer Sicht, Seite 83 – 92) befasst sich die Autorin teils mittels konkreter Fallbeispiele mit verschiedenen Aspekten der Sexualität, die in der Pflege und Betreuung als auch als in ehelichen Situationen bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium entstehen.
Die Kapitel und Abschnitte 6 – 15 enthalten ähnlich einem Anhang folgende Inhalte:
- Aus dem Leben gegriffen
- Persönliche Worte
- Material für Aktivitäten
- Diagnostische Tests
- Therapien und ganzheitliche Methoden
- Sprichwörter und Redewendungen
- Miteinander auf dem Weg sein, eine Weiterbildung
- Adressen
- Ein letzter Impuls
- Literatur zum Weiterlesen (Seite 93 – 140).
Diskussion
Brigitta Schröder propagiert einen „Blickrichtungswechsel“ im Umgang mit Demenzkranken. „Lernen mit und von Menschen mit Demenz“ wird als eine neue Perspektive dargestellt. Das macht neugierig, weckt Erwartungen hinsichtlich innovativer Impulse für die Pflege und Betreuung. Doch bei genauer Lektüre lässt sich bedauerlicherweise feststellen, dass in diesem recht schmalen Band keine neuen Erfahrungs- und Wissensstände vermittelt werden. Die Autorin vermag nicht ihr Ansinnen „von Demenzkranken lernen“ anhand von Beispielen oder Modellentwürfen praxisnah zu konkretisieren. Es werden von ihr viele kurze Fallbeispiele angeführt, die auf einen langen beruflichen Erfahrungsschatz schließen lassen. Doch auch diese Verweise enthalten keine neuen Perspektiven. Somit entpuppen sich ihre Ausführungen überwiegend als seit Jahrzehnten vertraute demenzsensible Umgangsformen, die tagtäglichen in den Einrichtungen und im ambulanten häuslichen Dienst praktiziert werden.
Fazit
Der Anspruch, eine neue Perspektive in die Pflege und Betreuung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium entwickelt zu haben, konnte von der Autorin nicht eingelöst werden. So fällt dem Rezensenten zu dieser Publikation nur das vertraute Sprichwort ein: „Alter Wein in neuen Schläuchen“.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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