Berthold Löffler: Flucht nach Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 30.08.2021

Berthold Löffler: Flucht nach Deutschland. Wie Migration Politik und Gesellschaft verändert. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2020. 214 Seiten. ISBN 978-3-17-032377-3. 25,00 EUR.
Thema
Millionen von Menschen suchten 2015 Zuflucht in den Nachbarstaaten Syriens, machten sich über die legendäre Balkanroute nach Ungarn auf, um von dort nach Österreich und schließlich Deutschland zu gelangen. Mehr als eine Million Menschen nahmen die Fahrt über das Mittelmeer auf sich. Deutschland öffnete die Grenzen, feierte sich und seine Willkommenskultur euphorisch, einen „Triumph des humanitären Imperativs“ (S. 95).
An Zweifeln, Warnungen, Ablehnungen fehlte es indes auch nicht, Vielen galt die Politik planlos, chaotisch, selbsttäuschend, mutlos.
Hat Migration Politik und Gesellschaft verändert?
Autoren
Prof. Dr. Berthold Löffler lehrt Politikwissenschaft an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Für ein Kapitel zeichnet Kornelius Löffler verantwortlich.
Aufbau
Das Buch umfasst fünf Kapitel.
Die Einleitung skizziert auf fünf Seiten die „Migrationskrise“, die seit 2015 Politik und Gesellschaft in Deutschland verunsichert, grundlegend verändert, gespalten habe: für die einen ein humanitäres Großprojekt, Handlungsverlust bis zum Staatsversagen für die anderen.
Das erste Hauptkapitel „Paradigmenwechsel“ (S. 12-79) beschreibt die Gefährdung des Rechtsstaates durch ein „Bleiberecht für alle“ - das , ob nun ungewollt oder strategisch, die globale Architektur erheblich verändere. Im zweiten Kapitel belegt und beklagt Löffler den „Verlust der politischen Rationalität“(bis S. 145), er geht mit der Migrationspolitik der Bundesregierung und speziell der Kanzlerin hart ins Gericht.
Ein Exkurs von Kornelius Löffler geht speziell der Frage nach, ob die Öffnung der Grenzen für die Massen von Menschen im September 2015 ein Rechtsbruch gewesen war.
Die letzten 30 Seiten wiederum skizzieren mögliche Entwicklungen, insbesondere Szenarien mit schier unaufhaltsamen Bevölkerungsbewegungen globalen Ausmaßes .
Inhalt
Wie nach Ansicht des Autors Migration Politik und Gesellschaft verändert, sei in folgenden fünf Punkten zusammengefasst:
- Die deutsche Gesellschaft ist gespalten. Ein Großteil der Eliten und eine Minderheit der Bürger denken „kosmopolitisch-multikulturalistisch“, eine Mehrheit tut dies nicht; sie lehnt stattdessen Multikulti ab und will eine relativ homogene Gesellschaft.
- Die Kosmopoliten gehen weit über den individuellen Rechtsanspruch auf Asyl hinaus, fordern ein „Bleiberecht für alle“, letztlich ein „Menschenrecht auf Einwanderung“, da jedem Menschen die Freiheit der Bewegung und Niederlassung zustehe. Dies ist indes durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht gedeckt, da diese nur in dem Land Geltung haben, dessen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen jemand ist.
- Der neuzeitliche Nationalstaat muss die Entscheidung haben, wer „dazugehören“ darf. Hat er diese Entscheidung nicht mehr, weil sie faktisch auf die „Einwanderungswilligen“ übergegangen ist, sind Demokratie und Souveränität ausgehebelt. Wer nach dem Gebot der Nächstenliebe handelt und „alle Flüchtlinge“ grenzenlos aufnimmt, setzt den Rechtsstaat außer Kraft und lässt den „Kontrollverlust“ des Staates zu.
- Bei dem, was sich im September an der Grenze zu Deutschland bzw. Österreich abspielte, handelte es sich nicht um Flucht vor einer individuellen Bedrohung, sondern um Migration, eine Bewegung von Menschen, die ihre „Lebensumstände verbessern“ wollen.
- Faktisch offene Grenzen werden früher oder später als Einladung verstanden und eine uferlose Aufnahmepflicht schaffen. Die Einwanderung von Millionen würde die wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit der heutigen EU-Mitgliedsstaaten übertreffen und letztlich auch die Menschenrechte der Einheimischen torpedieren.
Im Mittelpunkt der Abhandlung steht also die These, die Migrationskrise gehe mit einem umfassenden Rationalitätsverlust einher, d.h. mit Unfähigkeit, Kompetenzmangel, Leichtfertigkeit, Illusionen. Die Grenzöffnung, so wird die ARD zitiert, war eine humanitäre Großtat, die sich nicht wiederholen dürfe.
Vielleicht könne man, so der Autor, noch gute Gründe dafür finden, soweit es sich um - „humanitäre Flüchtlinge“ (Diese eigenwillige Formulierung steht so auf S.89) handele, doch genau das war ja nach Ansicht des Autors nicht der Fall, vielmehr sind wirtschaftliche Interessen maßgeblich und handlungsleitend.
„Weltmeister der Hilfsbereitschaft“ posaunte eine Politikerin (S.118). Es spricht natürlich, auch nach Ansicht des Autors nichts dagegen, Hilfe zu leisten, insbesondere und sofern dies in überschaubaren Zusammenhängen und nach durchdachten Regeln erfolgt. Das Gegenteil sei aber die kollektive Selbstaufgabe, wenn nämlich das Bleiberecht für (fast) alle herauskommt, weil zum Beispiel immer neue Abschiebungshindernisse geltend gemacht oder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge soweit „privilegiert“ würden, dass sie als „Brückenkopf“ den Familiennachzug zur „Kettenmigration“ gedeihen lassen.
Wenn aber der Staat sich als unfähig erweist, geltendes Recht durchzusetzen, ist seine Glaubwürdigkeit in Gefahr.
Kornelius Löffler widmet sich der sog. Rechtsbruch-These, wonach die Bundeskanzlerin die in der EU geltenden sog. Dublin-Regeln außer Betracht ließ und auf die Zuständigkeitsprüfung verzichtete; ebenso unterblieben zumeist die Registrierung der Flüchtlinge oder die Überstellung in ein sonst zuständiges EU-Land, etwa zu Familienangehörigen. Der Autor setzt sich mit den Argumenten vieler Kritiker auseinander. Seiner Auffassung nach haben zwei Punkte besonderes Gewicht:
- Die Dublin-Regeln schließen das sog. Selbsteintrittsrecht nicht aus; in besonderen Situationen kann eine Regierung sich als zuständig erklären und ein Asyl-Verfahren gleich übernehmen.
- Verfassungsrechtlich problematischer ist jedoch, dass die Entscheidungen von der Exekutive (Kanzleramt, Innenministerium) getroffen wurden, ohne das Parlament einzubeziehen, obwohl es sich um einen Vorgang von erheblicher finanzieller und politischer Bedeutung handelte.
Welche Perspektiven eröffnet das Buch? Zunächst warnt es vor der Bevölkerungsexplosion in Afrika. Masseneinwanderung nach Europa sei keine Lösung, die Kosten viel zu hoch, Die gerne propagierte Verteilung auf alle Mitgliedstaaten funktioniere offensichtlich nicht. Allenfalls Armutsbekämpfung vor Ort könnte helfen.
Löffler arbeitet sodann den Katalog ab, der hinreichend bekannt ist: Anträge müssen im Herkunftsland gestellt werden; Ausreisepflicht ist durchzusetzen; Zuwanderung „illegaler“ Migranten“ ist bereits an der Außengrenze zu stoppen, usf. - nur um schließlich doch festzustellen, dass dies alles nicht nur nicht funktioniert, sondern auch den Menschenrechten widerspricht, speziell natürlich der Genfer-Konvention.
Diskussion
Manche Polemik erledigt sich von selber. Löffler setzt sich mit der Rolle der Seenotrettungsdienste auseinander, die er nicht-legitimierte „private Rettungs-Initiativen“ nennt. Seiner Ansicht nach wollen sie die EU unter Druck setzen und vor sich her treiben; sie „provozieren Seenot“, um die Menschen aus “geplanter Seenot“ zu bergen!?
Ärgerlich ist es dann, wenn Gegenargumente nicht bemüht oder ignoriert werden. Das Beispiel der minderjährigen Flüchtlinge zeigt dies: Selbst wenn, ja gerade weil diese Kinder und Jugendliche nicht politische Flüchtlinge sind, geht es um Kinderrechte, eine neue Kategorie der Migration: Wie unökonomisch, ohne „politische Rationalität“ ist denn eine Politik, die ihnen über Jahre hinweg Schule und Ausbildung verwehrt, zumal qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Das „nationale Interesse“ besteht dabei keineswegs nur an Pflegekräften.
Mehr als ärgerlich ist m.E, dass der Autor das Thema doch beschränkt, so als ob es nicht auch andere Staaten, vor allem auch in der EU angeht. So übel es war, die wenigen EU-Staaten mit Außengrenzen mit dem Dublin-Verfahren alleinzulassen, sich aber auch nicht besonders für die informellen Wege nach Norden zu interessieren, so wenig kann die EU doch zulassen, dass sich Unions-Mitglieder Mehrheitsbeschlüssen verweigern, die die Aufnahme einer eher symbolischen Zahl von Migrantinnen und Migranten vorsehen.
Gerade wenn es um die „Flucht nach Deutschland“ (Titel) geht, sollte sich eine Abhandlung wie diese auch eine empathische Passage leisten, nämlich z. B. auf die unsägliche, skandalöse Lebenslage von Flüchtlingen auf der Insel Lesbos eingehen.
Dreh- und Angelpunkt von Löfflers Analyse ist die Gegenüberstellung der „kosmopolitischen“ und „kommunitaristischen“ Anschauung, damit auch die Unterscheidung zwischen den Menschenrechten und den Rechten der Staatsangehörigen. Das Problem Löfflers ist dabei, dass es den kulturell homogenen, souveränen Nationalstaat, wenn er denn je existierte, nicht mehr gibt; ob nun Weltbank, NATO, WHO, EU, Google…- die Globalisierung hat längst die die klassische Deckungsgleichheit von Bevölkerung, Staat und Gebiet überholt.
Es ist vielleicht die größte Errungenschaft des letzten Jahrhunderts, dass Bürgerrechte nicht mehr exklusiv auf Staatsangehörige beschränkt sind. Die UN-Pakte über soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Rechte (auf die Löffler gar nicht eingeht) formulieren dies doch klar und verbindlich. Längst haben bürgerschaftliche UND globale Player, nicht zuletzt eben auch NGOs wie die Seenotrettungsdienste dafür gesorgt, dass die Menschenrechte auch über nationale Grenzen hinweg forciert werden.
Fazit
Löffler macht überzeugend klar, dass mit dem historischen, immer noch zögerlichen Schutz von verfolgten Personen allein der dramatschen Notlage von Millionen Menschen weltweit nicht beizukommen ist. Das gilt auch für Bürgerrechte, welche die Nationalstaaten gerne ihren Staatsangehörigen vorbehalten wollen. Ohne bürgerschaftliches Engagement, Entwicklungszusammenarbeit und grenzüberschreitende Solidarität werden die allseits bedrohlichen Dimensionen von Migration weiter zunehmen.
Löfflers hat eine inhaltsschwere, doch gut lesbare, filigrane, kritische, mitunter auch polemische Bestandsaufnahme vorgelegt, die eine auf- und anregende Lektüre verspricht – und hält.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Wolfgang Berg. Rezension vom 30.08.2021 zu:
Berthold Löffler: Flucht nach Deutschland. Wie Migration Politik und Gesellschaft verändert. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2020.
ISBN 978-3-17-032377-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28044.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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