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Hendrik Streeck: Hotspot

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 18.03.2021

Cover Hendrik Streeck: Hotspot ISBN 978-3-492-07103-1

Hendrik Streeck: Hotspot. Leben mit dem neuen Coronavirus. Piper Verlag GmbH (München) 2021. 192 Seiten. ISBN 978-3-492-07103-1. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 24,50 sFr.

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Thema

Thema sind die Erkenntnisse, die seit seiner Entdeckung zur Verbreitung des Coronavirus erzielt wurden. Dabei stehen hier die vom Autor geleiteten Regional- bzw. Gemeindestudien im ‚Hotspot‘ Landkreis Heinsberg bzw. der Gemeinde Gangelt im Mittelpunkt, über die streckenweise tagebuchähnlich ein nahezu unmittelbarer Eindruck gewährt wird. Der Untertitel verweist auf die ebenfalls präzise dargelegten Implikationen, die sich daraus für den gesellschaftlichen Umgang mit einer Pandemie ergeben. Denn im Jahr 2020 waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für politische Entscheidungsprozesse wie selten zuvor gefragt und öffentlich präsent. Streeck macht auch das Selbst- und Rollenverständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hinsichtlich von Politikberatung zum Thema und gibt hierzu Einblicke aus erster Hand.

Autor

Prof. Dr. med. Hendrik Streeck ist Professor für Virologie und seit Oktober 2019 Direktor des Institutes für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn.

Entstehungshintergrund

Wie einige der Virologen, die der Öffentlichkeit im Laufe des Jahres 2020 bekannt wurden, kommt Streeck aus der AIDS-Forschung, wo er sich neben virologischen Kenntnissen auch ein Verständnis für die gesellschaftspolitischen Implikationen einer Pandemie erworben hatte, welche nicht gänzlich ausrottbar ist, sondern mit der die Gesellschaft zu leben lernen muss und dies auch kann. Das HIV-Pandemiemanagement sei ein Beispiel dafür, wie man in weltweiter Kooperation Therapien und Enabling-Strategien entwickeln könne, um Infektionen auch langfristig zu verhindern. Im Gegenzug sind vor dem Hintergrund vorangegangener gesellschaftlicher Ausgrenzungs- und Stigmatisierungstendenzen gegenüber Infizierten und Erkrankten entsprechende Parallelen im Umgang mit Coronainfizierten und -kranken nicht nur von Sozialwissenschaftlern und Historikern, sondern auch von solchen Virologen wie Streeck bereits im Ansatz erkennbar. Beispiele sind etwa Donald Trumps Stilisierung des „chinesischen Virus“ und alle jene Ausprägungen des „Phänomen, nicht den Erreger als Feind zu erkennen, sondern die Infizierten dazu zu machen“ (S. 26). Streeck gibt als zusätzlichen persönlichen Hintergrund für seinen Entschluss, sich umgehend für die Durchführung der derart bekannt gewordenen Gemeindestudie Heinsberg/​Gangelt zu engagieren, seine Erfahrungen als Arzt im südafrikanischen Township Soweto an. Als Arzt habe er stets die unmittelbare Erfahrung gesucht, was Krankheit für die Menschen nicht nur medizinisch, sondern auch psychisch und sozial bedeutet. Auch habe er in Afrika gelernt, global zu denken.

Aufbau

Der Band besteht aus sechs Kapiteln, die im Wesentlichen chronologisch aufeinander aufbauen, beginnend mit dem Auftauchen des ersten Coronafalls, der Erkrankung eines bei Webasto in München Beschäftigten, und des ersten großen Ausbruchsgeschehen in Gangelt im Landkreis Heinsberg nach einer Karnevals-Kappensitzung (Kapitel 1 „Ein neues Virus“). Die Kapitel 2 bis 5 stellen die Organisation und Durchführung der verschiedenen Studienteile der Regionalstudie im ‚Hotspot‘ dar. Diese teilweise tagebuchähnlichen Situationsberichte lesen sich regelrecht wie ein Abenteuerroman. Auch hier sind aber Reflexionen eingestreut, die im letzten Kapitel und in einem Ausblick nochmals verdichtet werden.

Inhalt

Indem Streeck „Heinsberg als einzigartige Chance“ erkannte, umgehend eine Regionalstudie den örtlichen Verantwortlichen vorschlug und in atemberaubendem Tempo deren Finanzierung und Organisation bewerkstelligte, trug er mit seinem Team dazu bei, in der allerersten Phase der Coronapandemie, als es noch sehr wenig Erkenntnisse jeglicher Art zu dieser gab, Erkenntnisse zu erzielen, die in Laborforschung nicht erzielbar sind und für die eigentlich ein Robert-Koch-Institut unterhalten wird. Dieses begann aber erst zu einem späteren Zeitpunkt repräsentative Studien, von denen allerdings wenig vernehmbar ist; ohne solche sind jedoch die wahre Inzidenz und Sterblichkeit gar nicht bestimmbar, wohingegen die derzeit täglich mitgeteilten Fallzählungen des amtlichen Krankheitsmeldesystems auf anlassabhängigen Tests statt auf systematischen repräsentativen Erhebungen basieren.

Die verschiedenen Teilstudien, denen jeweils ein einzelnes Kapitel gewidmet ist, erzielten in der Frühphase der Pandemie eine Reihe beachtlicher Ergebnisse. Nicht alle mögen längerfristigen Bestand haben, da seitdem eine Vielzahl auch anderer Ergebnisse erzielt wurden, was wichtig für das Lernen über die neue Krankheit ist. Einige der Heinsberg-Studienergebnisse werden aber voraussichtlich von durchaus bleibendem Wert sein, wie jedenfalls die Abschätzungen zu Aerosol-Übertragungswegen bei einer Großveranstaltung in einem geschlossenen Raum, zum symptomlosen Verlauf und zur Dunkelziffer, zur nicht zwangsläufigen Ansteckung in einem Haushalt und besonders die Statistiken zur Krankheitshäufigkeit und Fallsterblichkeit, welche zuvor – aufgrund fehlender geeigneter Daten – massiv überschätzt, aber auch dramatisiert worden waren. Keine Wissenschaftlerin und kein Wissenschaftler, auch nicht Streeck, würden jemals eine Lokalstudie verallgemeinern, andererseits sind Lokalstudien, gerade zum Zeitpunkt eines Hotspots, unverzichtbar und Streeck führt die Heinsberg-Studie derzeit auch in einer weiteren Teilstudie fort.

Im Zusammenhang mit der öffentlichen Präsentation der Zwischenergebnisse in der Staatskanzlei Düsseldorf ergab sich noch eine weitere Facette in der Kommunikation von Forschung und zwischen Wissenschaft und Politik. Vorwürfe eines Virologen-Kollegen, der zu diesem Zeitpunkt als der deutsche Virologen-Star aufgebaut war, zur unorthodoxen Veröffentlichung einerseits, wissenschaftlichen Studiendetails andererseits wurden plötzlich öffentlich aufgegriffen und führten zu einem regelrechten „Shitstorm“ (S. 122) sowie Verwicklungen in parteipolitische Spielchen; über hier wahrlich unappetitliche Details berichtet Streeck in einem Unterabschnitt des vierten Kapitels und führt hier die Unhaltbarkeit der wissenschaftlichen Vorwürfe aus (S. 122–129). Hinsichtlich eines Details aber gesteht der Autor einen Fehler ein: der Zusammenarbeit mit einer PR-Agentur bei der Präsentation in der Staatskanzlei. Die PR-Agentur Storymachine habe zwar aus Freundschaftsgründen und unentgeltlich gearbeitet, er selbst habe aber wohl „zu lange in den USA gelebt, um die Brisanz dieser Sache in Deutschland verstehen zu können“ (S. 129). Man kann mutmaßen, aufgrund dieses Shitstorms habe sich Streeck, vielleicht auch mittels dieses Buches, nunmehr legitimieren müssen oder wollen.

Die Kompetitivität im Wissenschaftsbetrieb, die Streeck als Strukturmerkmal anmerkt, wirft ein Licht auf diese Affäre. Daneben gibt Streeck aber zu der Affäre auch eine Diagnose an, die über die Wissenschaftsszene hinausgeht und mehr die Politik betrifft. „Und so beschlich mich irgendwann der Eindruck, dass die vehemente Kritik tatsächlich damit zusammenhängen könnte, dass ich Daten hatte, die niemand haben wollte. Jede Information, die dazu führen könnte, die harten Lockdownmaßnahmen infrage zu stellen, war schlichtweg nicht willkommen“ (S. 128).

Diskussion

Dieses Buch, ein großes Beispiel für Wissenschaftskommunikation unserer Tage, trägt teilweise Tagebuch- und Werkstattcharakter und ist im besten Sinne populärwissenschaftlich, verfasst unter Mitarbeit der freiberuflichen Lektorin Margret Trebbe-Plath. Gleichwohl erfüllt es alle Kriterien dessen, was an Wissenschaftskommunikation und für den Diskurs von Wissenschaft und Politik zu fordern ist. Alle erforderlichen Sachinformationen werden in durchaus wissenschaftlichen Ansprüchen genügender Weise erfüllt. Gleichzeitig wird ein Rahmen vorgeschlagen, wie ein Diskurs und eine gesellschaftliche Strategie langfristig und global zu entwickeln und zu führen wären.

Fazit

Anfang März 2020 kam es in Deutschland zu einem ersten großen Ausbruch von COVID-19 im Kreis Heinsberg. Hendrik Streeck sah dies als einzigartige Gelegenheit, mit seinem Team das dortige Infektionsgeschehen mit dem neuartigen Sars-CoV-2-Virus in einer Gemeindestudie zu erforschen. In dem Buch berichtet er von seinen Erfahrungen mit dem Virus und in der Pandemie, ausgehend von dieser Gemeindestudie. Dabei zeichnet er die Entwicklung in Deutschland nach, erläutert Testverfahren, Infektionswege, die Auswirkungen auf das Immunsystem und erklärt, was sich daraus für den Umgang mit einer Krankheit ableiten lässt, mit der die Gesellschaft lernen muss zu leben.

Das Buch ist unbedingt empfehlenswert für alle an Wissenschaft, Politik und Corona Interessierten.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management

Es gibt 28 Rezensionen von Thomas Elkeles.

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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 18.03.2021 zu: Hendrik Streeck: Hotspot. Leben mit dem neuen Coronavirus. Piper Verlag GmbH (München) 2021. ISBN 978-3-492-07103-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28057.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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