Svenja Kück: Heimat und Migration
Rezensiert von Prof. Dr. Erika Steinert, 10.02.2022

Svenja Kück: Heimat und Migration. Ein transdisziplinärer Ansatz anhand biographischer Interviews mit geflüchteten Menschen in Deutschland.
transcript
(Bielefeld) 2021.
296 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5511-7.
D: 48,00 EUR,
A: 48,00 EUR,
CH: 58,60 sFr.
Reihe: Sozial- und Kulturgeographie - 43.
Thema
Die Autorin beschäftigt sich mit dem Heimatbegriff und seiner wissenschaftlichen Nutzung im Kontext von Flucht und Migration. Es geht um in Deutschland lebende geflüchtete Personen und wie sie „Heimat“ herstellen. Die Autorin führte biographische Interviews in einem innovativen transdisziplinären Reallaborsetting durch und entwickelt auf Grundlage dieser Daten einen offenen, kontextabhängigen Heimatbegriff. Sie zeigt auf, in welchem Spannungsfeld die interviewten Geflüchteten Heimat immer neu aushandeln, bewahren und anpassen. Disziplinär verortet wird die Studie in der geografischen Migrationsforschung.
Autorin
Svenja Kück lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte in Göttingen und Aix-en-Provence Kulturanthropologie und Französisch. An der Universität Osnabrück studierte sie am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) den Masterstudiengang Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (IMIB). Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Stadtgeographie und Geographie Nordamerikas in dem inter- und transdisziplinären Reallabor-Forschungsprojekt „Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region“. Im Teilprojekt „Dezentrales Wohnen“ untersuchte sie unter anderem die Hürden und Chancen dezentraler Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen, schwerpunktmäßig in den Kommunen Heidelberg und Sinsheim.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch basiert auf Svenja Kücks Promotion, die sie im April 2020 unter dem Titel „Heimat und Migration. Analyse eines Spannungsfeldes anhand biographischer Interviews mit geflüchteten Menschen in Deutschland“ erfolgreich abschloss.
Aufbau
In sieben Kapiteln werden Forschungsstand, Theorieannahmen, empirische Durchführung, Analyse und verallgemeinerte Aussagen dargelegt. Abschließend wird resümierend die eigene Forschungsleistung als bedeutsamer Beitrag für künftige geographische Migrations- und Heimatforschungen eingeschätzt; raumtheoretische Ansätze werden ebenso wie die Prinzipien und Ansätze der transdiziplinären Reallaborforschung hervorgehoben.
In den ersten zwei Kapiteln wird der Begriff Heimat als kulturhistorisches Produkt und als analytisches Instrument eingeführt. In Kapitel 3 werden die wesentlichen semantischen Bedeutungen von Heimat herausgearbeitet, während im 4. Kapitel die methodologische Herangehensweise erfolgt. Die transdisziplinäre Reallaborforschung wird dabei hervorgehoben; sie ermöglichte es, dass sich Forschungsteam und Interviewte vor der Befragung bereits kennenlernen konnten, womit eine gute Basis für die Erhebungsmethode der Biografieforschung geschaffen werden konnte. In Kapitel 5 und 6 werden die Erkenntnisse des empirischen Forschungsprozesses entlang der zentralen Fragestellungen dargestellt.
Ausgewählte Inhalte
Anliegen ist es, die persönlichen Bedeutungen von Heimat für geflüchtete Personen zu rekonstruieren. Damit soll ein empirischer Beitrag zu einem bisher hermeneutisch und theoretisch ausgerichteten Forschungsfeld geleistet werden.
Bearbeitet werden die folgenden Fragestellungen: Welche Bedeutung hat Heimat für Geflüchtete? Was beeinflusst die Gestaltung von Heimat und den Umgang damit? Die empirisch ermittelten Ergebnisse sollen zu Charakteristika eines offenen Heimatbegriffs verdichtet werden, und schließlich soll das Potenzial der Beschäftigung mit Heimat für die empirische geographische Migrationsforschung verdeutlicht werden.
Im Zentrum der Studie steht der empirische Teil in Kapitel 5 mit seinen biographischen Fallrekonstruktionen und Feinanalysen, die fallübergreifend in eine Typologie münden. Neun biographisch-narrative Interviews, mit acht männlichen und einer weiblichen Geflüchteten geführt, bilden die empirische Basis, von denen acht ausgewertet wurden. Auf einer Tabelle sind die Analyseergebnisse mit Blick auf die zentralen Analysekategorien schematisch zusammenfassend dargestellt (S. 244) und erleichtern den Überblick.
Das Konzept der Migrationsregime als eine spezifische Konstellation individueller, kollektiver und institutioneller Akteure, die an der Herstellung von Migration beteiligt sind, angepasst an die untersuchungsleitenden Fragestellungen, ermöglicht einen Einblick in das Wechselverhältnis von einerseits Einflussnahmen und andererseits den Handlungen und Entscheidungen der Geflüchteten. Die kurze Darstellung der einzelnen Lebensgeschichten (Kap. 5.1) ist die Basis für die feinanalytische Interpretation (Kap. 5.2), die zu drei Typen verdichtet wird (5.3).
Eine Gegenüberstellung zweier Fallstudien sei erwähnt, um die darauf basierende Typenbildung nachvollziehbar zu machen:
Maximal kontrastieren zwei Befragte in ihren Selbstrepräsentationen. Yochanan, ein Befragter aus Gambia, ca. 30 Jahre alt, beschreibt sein Handeln mit den Worten „me being me, I continue“. Damit wird eine Kontinuität, die von seiner Kindheit bis zur Gegenwart reicht, in der Selbstdarstellung „als aktiver, gestaltender und erfolgreicher Akteur seines eigenen Lebens“ (S. 151) deutlich, der stets bemüht ist, nicht nur seine eigene Situation, sondern auch die anderer Menschen zu verbessern, so als Sprachrohr für geflüchtete Menschen oder als Vermittler zwischen ihnen und Entscheidungsträger*innen. Aus der Beobachtungsperspektive der Migrationsregime wird seine Fähigkeit herausgearbeitet, sich unabhängig von auferlegten Beschränkungen, von Rassismuserfahrungen und Diskriminierung aufgrund seiner Hautfarbe zu machen; vielmehr möchte er daran wachsen. Er verdeutlicht seinen produktiven, autonomen und strategischen Umgang mit fremdbestimmten Teilen seiner Lebenslage. Heimat ist für ihn transportabel im Anschluss an globale und transnationale linke Bewegungen und Leitbilder, verortet in der Gegenwart und Zukunft. Yochanans Erzählung steht mit der eines anderen Befragten für den Typ „Heimat ist transportabel.“
Eine weibliche Befragte aus dem Iran, Yasmina, ca. 45 Jahre alt – sie ist die einzige weibliche Interviewte – bringt ihre Selbstbeschreibung auf die Kurzform „I think that I lose that strong woman“. Aus der Beobachtungsperspektive der Migrationsregime werden schwierige Lebensbedingungen als geflüchtete Frau und Alleinerzieherin in Deutschland geschildert, auf die sich Yasmina mit einem wiederkehrenden Gefühl der Ohnmacht bezieht, während sie sich komplementär dazu im Herkunftsland als starke, selbstbewusste und lebhafte Frau (S. 127) beschreibt. Sinnstiftung bietet die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft und ebenso das Schreiben.
Yasminas Erzählung steht mit denen zweier anderer Befragter für den Typ 2: „Heimat als Nische“.
Typ 3 trägt die Bezeichnung „Heimat als Mosaik“. Erinnerungsfragmente werden selektiv ausgewählt und produktiv für die Gestaltung von Heimat verwendet. Beispielsweise dienen verklärte Erinnerungen an die Orte der Kindheit als Bezugspunkte für die emotionale Einordnung des jetzigen Lebens.
Diskussion
Die Fallstudien geben einen differenzierten Einblick in den Erfahrungsraum der interviewten Geflüchteten. Eine untersuchungsleitende Fragestellung lautet, welche Bedeutung Heimat für Personen mit Fluchterfahrung hat, eine zweite, wie Heimat von ihnen gestaltet, bewahrt und immer neu ausgehandelt wird, welche Mechanismen sie im Umgang mit beeinflussenden Dynamiken entwickeln. „Heimat“ wird dabei als eine anthropologische Konstante gesetzt, als ein Bedürfnis nach Vertrautheit, Zugehörigkeit – ein Zustand, der gerade für geflüchtete Menschen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Aber kann denn eine Gestaltung, Bewahrung und Aushandlung von Heimat – eine handlungsbasierte Beheimatung – stets vorausgesetzt werden? Werden hier nicht Vorannahmen einfach bestätigt? Kann die „Vorstellung von Heimat-haben und Heimatverlust (tatsächlich) zurückgewiesen“ (S. 256) werden? Wenn „Heimatempfinden als Assemblage zu verstehen ist und eben nicht als ganzheitliche Empfindung“ (S. 258), ist dann nicht „alles“ Heimat? Gibt es keine Differenz zu einem „Nichtbeheimatetsein“?
Ein akteurszentrierter Begriff von Heimat wird in der Studie zugrunde gelegt; Ausgangspunkt sind die Heimatdeutungen als emotionale und subjektive Konstruktionen in den Selbstaussagen Geflüchteter (71f). In den Interviewsequenzen fällt das Wort Heimat von den Befragten explizit allerdings eher selten. Wie muss dieser Sachverhalt interpretiert werden? Wie wird der „breite“ und „offene“, empirisch basierte Heimatbegriff operationalisiert? Wie wird er von Begriffen wie Lebenswelt oder Identität, die mit ihm eine Schnittmenge aufweisen, abgegrenzt?
Fazit
Trotz aller offenen Fragen mag die Studie „für den humangeographischen Ansatz und die Verknüpfung der Themenkomplexe Heimat und Migration (…) eine Pionierleistung“ darstellen. Es ist eine stringent angelegte theoriebasierte empirische Studie, die gerade für mit Migrationsarbeit befasste Menschen hilfreiche Einblicke in die unterschiedlichen Lebenslagen und Wahrnehmungen von Geflüchteten zu geben vermag und Verstehen erleichtert. Das Reallabor als Forschungsmodus und Zugang zum Feld hat sich bewährt, ebenso die transdisziplinäre Anlage.
Die Lektüre kann nicht nur für Studierende der Humangeographie empfohlen werden, anregend ist sie auch für Studierende und Praktiker*innen der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit.
Rezension von
Prof. Dr. Erika Steinert
Prof. i. R., Hochschule Zittau/Görlitz
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