Holger Herma: Bezugsräume des Selbst
Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost, 23.06.2021
Holger Herma: Bezugsräume des Selbst. Praxis, Funktion und Ästhetik moderner Selbstthematisierung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2019.
248 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3974-0.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 40,10 sFr.
Reihe: Edition Soziologie.
Autor und Thema
Holger Herma ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Hildesheim, Fach Soziologie. Der Autor erforscht das Selbst in spätmodernen Gesellschaften, indem er sich den kommunikativen Darstellungen widmet und durch (Fall-) Analysen Erkenntnisse über deren Konstitution in (einigen) Bezugsräumen gewinnt. Er stellt die Frage, welche Kontingenzen und Frei- bzw. „Umsetzungen“ (S. 14) soziale Räume (gerade) in der (Spät-)Moderne bieten und wie sie angesichts der geänderten Entscheidungsoptionen genutzt werden können. Dabei greift er den Rahmen des Online-Tagebuchs, Paarbeziehungen, Generationszusammenhänge und die Popkultur auf. Entsprechend der Forschungsfragen lautet der (Unter-)Titel „Praxis, Funktion und Ästhetik moderner Selbstthematisierung“ und behandelt ansatzweise (in einem Kapitel) soziologische Konzepte über Identität, Subjektwerdung und Subjektivität.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt im ersten Kapitel mit einem Aufriss über Selbstthematisierung. Die Spätmoderne zeichnet sich durch mangelnde Gewissheiten und Präskripte im Lebenslauf aus, bedarf folglich vermehrt eigenen Selbstthematisierungen. Soziale Verortung und sinnhafter Weltbezug werden nun stärker vom Individuum selbst erstellt, sind nicht (mehr) über die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft reguliert. Der reflexive und kommunikative Bezug auf das Selbst, seine Geschichte und sein Gewordensein, sind wesentliche Elemente. Selbstthematisierungen benötigen aber (moderne) Institutionen, die sie konstituieren und ermöglichen: „Das heißt, ein Selbst artikuliert sich immer als Teil kultureller, sozialer und historischer Prägungen“ (S. 207). Gleichzeitig erscheint es aber wichtig, wie der Autor ausführt, sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu entwerfen. Tendenzen der Selbstoptimierung und -ökonomisierung in vielen Handlungsfeldern legen das nahe. In diesem einführenden Kapitel werden noch Funktionen und Phänomene von Selbstthematisierungen diskutiert. Der Autor lenkt dabei die Aufmerksamkeit u.a. auf Merkmale wie Privatheit und Authentizität, wobei er bei letzterem auch einen Bogen zum Habituskonzept von Bourdieu spannt (S. 30 ff.).
In Kapitel zwei werden der Gegenstand und die Blickpunkte der Betrachtung genauer herausgearbeitet. Zunächst werden zentrale Begriffe soziologischer Diskurse, die im Kontext des Selbst verwendet werden, und zwar Person, Identität, Individualität, Individuum und Subjektivität näher geklärt. Um Identität – und zwar sich über Zeit und Situation hinweg als einheitlich zu verstehen – näher zu bestimmen, bringt der Autor u.a. Überlegungen von Luhmann, Goffman oder Mead ein. In der Diskussion verweist er auf den nunmehr eher in den Mittelpunkt gerückten Prozesscharakter, der die Vorstellung von „essentialistischen“ und unveränderlichen Identitäten abgelöst hat. In Vorstellungen von narrativer, situativer oder transitorischer Identität geht diese Bedeutungsveränderung ein. Nach Ausführungen über das Individuum bzw. Individualität und Subjektivierung grenzt der Autor seinen Fokus nochmals genauer ab und erläutert die Auswahl der vier „Bezugsräume“, in denen sich das Selbst thematisiert. In Form von (exemplarischen) Fallanalysen empirischen Materials stellt er dann in den nächsten Kapiteln die Selbstthematisierungen in diesen Resonanzräumen dar.
Biographische Selbstreflexion in einem Internet-„Blog“ ist der erste „Fall“ bzw. Bezugsraum („Biographisches Sprechen“), der in Kapitel drei analysiert wird. Ausführungen über die Differenz von Lebenslauf und Biografie leiten die Analyse eines Textes ein, der aus dem (Internet-)Tagebuch eines Studenten entnommen ist. Er ist als junger Erwachsener an einem Tumor erkrankt – einige Jahre später wurde die Unheilbarkeit der Erkrankung festgestellt. Er begann mit einem Internet-Blog, in dem er die Verarbeitung des nahen Sterbens und das Leben bis zu seinem Tod thematisiert. Der Text entsteht als Blog in Auseinandersetzung mit Kommentaren und wird vom Autor hermeneutisch orientiert (extensiv) interpretiert, um die Struktur in der Selbstthematisierung aufzuzeigen.
In Kapitel vier wird ein weiterer Bezugsraum des Selbst, nämlich enge Bindungen, abgehandelt. Interessant ist dieser Bezugsraum, weil sich das Selbst in nahen, persönlichen Beziehungen (u.a. Familien, Paarbeziehungen) konstituiert und auch der „Weltbezug“ zu wesentlichen Anteilen in solchen Kontexten abgesichert wird. Abgehandelt werden dabei die Funktion von Familie in der Moderne sowie die Erwartung von „romantischer Liebe“ in Paarbeziehungen – letzter Aspekt genauer über Fallanalysen. Grundlage der Analysen sind Interviews aus einem Lehrforschungsprojekt, in dem auf Übergänge in die „Wir-Identität“ einer sich konstituierenden Zweierbeziehung eingegangen wurde. Forschungsfragen waren, wie die Paarbeziehung zustande kam und sich das Bewusstsein um diese Bindung (jeweils) herausbildete. Der Autor analysiert zwei Fälle ausführlicher, wobei insbesondere der Darstellungs- und Interaktionsverlauf im Interview rekonstruiert wurde.
Kapitel fünf beschäftigt sich mit dem Generationszusammenhang, der in Selbstthematisierungen zum Vorschein kommt. Die Zugehörigkeit zu einer Generation bewirkt eine kollektive Form der Sicht der Welt. Eine Idee, ein Zeitgeist oder eine Problemlösung entsteht durch kollektiv prägende Ereignisse prägt das Denken einer Generation. Herausgegriffen und besonders fokussiert wird im vorliegenden Buch die Generation Y. Diese zwischen 1985 und 2000 geborene Gruppe ist von Globalisierung, der Finanzkrise sowie beruflicher Prekarisierung betroffen. Darüber hinaus ist sie in einer stärker digitalisierten sozialen Welt aufgewachsen, d.h. das Selbst wird vermehrt im digitalen sozialen Raum thematisiert und bewertet. Infolge einer multioptionalen, sich permanent verändernden Gesellschaft wird der Generation ein opportunistischer und flexibel agierender Lebensstil zugeschrieben, bei dem der Eigengewinn im Zentrum steht. Der Autor möchte nun am Beispiel dieser Generation reflektieren, inwieweit in (individuellen) Selbstthematisierungen die historische Zeit abgebildet wird. Dazu werden Literatur – eine Essaysammlung – und Filme fallanalytisch reflektiert sowie das (digitale) Unterhaltungsangebot „PowerPoint-Karaoke“ einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Der Autor entwickelt Thesen rund um den Problemhorizont der Generation, die sich u.a. auf „vorweggenommene Abstiegssorgen“ und offener „Angst vor sozialer Exklusion in einer kompetitiven Gesellschaft“ (S. 225) beziehen.
Im sechsten Kapitel wird der letzte in der Arbeit reflektierte Bezugsraum behandelt. Popkultur bietet besonders für Jugendliche und junge Erwachsene Anregungen, sich anders als die Mehrheit zu sehen und auszulegen: sie kann eine ästhetische (Probe) Bühne außerhalb des Alltags und seiner Verpflichtungen darstellen, produziert aber auch gemeinsame Handlungspraxis und Werthaltungen. Der Autor diskutiert in diesem Kapitel Selbstverhältnisse und Verhaltenstechniken, die in Popkunst zum Ausdruck kommen. Danach analysiert er anhand eines Textes „das Populäre im Popsong“ (S. 153 ff.), die Geschlechtercodierung und (das Subjekt der) Liebe in der Popmusik. Abschließend widmet er sich dem Kommentarbereich im Online-Forum eines Liedes und verweist darauf, dass Popkultur den „Status eines Refugiums“ und „Angebotsraum für Imaginäres“ darstellt (S. 228), dadurch neben der Unterhaltungsbedeutung Prozesse der Bildung des Selbst mitträgt.
Diskussion
Mit einem Resümee, das sich im letzten Teil besonders auf die Merkmale der Kohärenz und Individualität des modernen Selbst bezieht (S. 228 ff.), beschließt der Autor das Buch. Zunächst hebt er nochmals die Probleme hervor, die bei Selbstreflexion und – thematisierung in den jeweiligen Bezugsräumen zu lösen sind und verweist auf Konvergenzen bzw. Divergenzen zwischen den Bezugsräumen (z.B. Verknüpfung von Popkultur und Generationszusammenhang). Auch diskutiert er die Materialsorten, z.B. Online-Tagebuch und literarische Selbstdarstellung (S. 229). Letztlich stellt er unter dem Titel „Vom Narrativ zum Performativ?“ die zentrale These auf, dass das Selbst heute „mit gelassener Souveränität“ navigiert wird und die zentrale Kompetenz nicht mehr jene der (richtigen) Selbstdarstellung ist, vielmehr die „Suche nach dem inneren Kern“ hinter der gekonnten Expression zurücktritt, genauso wie die Kongruenz zwischen innerer Erfahrungs- bzw. Erlebnisverarbeitung und äußerer Darstellung (S. 236 f.). Bedeutend erscheint die Fähigkeit, die Selbstdarstellung anschlussfähig zu machen und ihr „Gehör und Bestätigung im Außen zu verleihen“ (S. 237).
Vorneweg: das Buch ist – trotz der vielfältigen sozialtheoretischen und methodischen Bezüge – anregend zu lesen. Die Struktur der Arbeit und die oftmals in Übergängen (selbst gestellten) Fragen, denen dann Ausführungen folgen, finden beim Rezensenten Anklang. Der aufgespannte inhaltliche Rahmen, die Analysen und Reflexionen sind per se interessant, insbesondere für Biographieforschung, die sich bekanntlich mit Selbstthematisierungen beschäftigt. Die Fälle sind extensiv analysiert, bleiben aber exemplarisch. Die zentrale These, der Bedeutung eines performativen, expressionistischen Selbst, ist empirisch in dieser Generalisierung schwer belegbar und könnte zum Teil doch stärker milieutypisch geprägt sein. Allerdings sind die (verallgemeinerten) Erkenntnisse vorsichtig und thesenhaft formuliert.
Fazit
Aus der Sicht des Rezensenten wird in dem Buch eine interessante Perspektive entwickelt, die (Spät-)Moderne mit Blick auf Struktur und Form von Selbstthematisierungen zu reflektieren. Es handelt sich dabei nicht um eine „klassische“ Form biographisch interpretativer Sozialforschung, Selbstthematisierungen werden exemplarisch und mit Blick auf verschiedene Bezugsräume des Selbst analysiert. Trotz der anspruchsvollen Analysen und Reflexionen ist das Buch aufgrund des Aufbaus und Schreibstils sehr ansprechend zu lesen.
Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 23 Rezensionen von Gerhard Jost.
Zitiervorschlag
Gerhard Jost. Rezension vom 23.06.2021 zu:
Holger Herma: Bezugsräume des Selbst. Praxis, Funktion und Ästhetik moderner Selbstthematisierung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2019.
ISBN 978-3-7799-3974-0.
Reihe: Edition Soziologie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28063.php, Datum des Zugriffs 05.10.2024.
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