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Michael Grosche, Jasmin Decristan et al. (Hrsg.): Sonderpädagogik und Bildungsforschung - Fremde Schwestern?

Rezensiert von Prof. Dr. Roland Stein, 17.03.2022

Cover Michael Grosche, Jasmin Decristan et al. (Hrsg.): Sonderpädagogik und Bildungsforschung - Fremde Schwestern? ISBN 978-3-7815-2419-4

Michael Grosche, Jasmin Decristan, Karolina Urton, Nina C. Jansen, Gunnar Bruns et al. (Hrsg.): Sonderpädagogik und Bildungsforschung - Fremde Schwestern? Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2020. 378 Seiten. ISBN 978-3-7815-2419-4. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR.
Reihe: klinkhardt forschung. Perspektiven sonderpädagogischer Forschung.

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Thema

Dieser Herausgeberband fokussiert das Spannungsfeld, welches mit dem Bild „fremder Schwestern“ gekennzeichnet wird – zwischen der Sonderpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin zum einen und der Bildungsforschung zum anderen. Dabei wird dieses Spannungsfeld zum einen durch Gemeinsamkeiten und Überschneidungen gekennzeichnet – zum anderen aber auch durch Unklarheiten und Entfremdungen.

Autor*innen

Die Tagungsinitiatoren Michael Grosche, Jasmin Decristan, Christian Huber, Friedrich Linderkamp sowie Karolina Urton kommen – in interdisziplinärer Zusammensetzung der beiden Seiten des Themas – alle aus dem Institut für Bildungsforschung (IfB) der Bergischen Universität Wuppertal – ebenso die Herausgebenden des Tagungsbandes.

Entstehungshintergrund

Die Sektion Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft veranstaltet jährlich Tagungen an unterschiedlichen Universitäten und Hochschulen. Die Tagung im Jahr 2019 an der Universität Wuppertal stand unter dem Titel „Sonderpädagogik und Bildungsforschung – Fremde Schwestern?“ Dieser Herausgeberband versammelt die Beiträge zu der großen Veranstaltung mit etwa 200 Gästen. Im Buch finden sich insgesamt 61 Beiträge, die sich aus den Keynotes, Einzelvorträgen, Symposien sowie Postern dieser Tagung ergeben haben. Tagung wie Buch gehen von dem Spannungsfeld „fremder Schwestern“ aus. Im Rahmen der Tagung 2019 sowie des aus dieser entstandenen Bandes 2020 geht es darum, dieses wichtige, aber nicht einfache Verhältnis in seinen Facetten näher auszuloten.

Aufbau und Inhalt

Der Band beinhaltet die 61 im Nachgang der zugrunde liegenden Tagung eingereichten und angenommenen Beiträge. Eine weitere Untergliederung wird nicht vorgenommen. Vorangestellt sind die Beiträge zu den drei Keynotes.

Grundsätzlich orientieren sich die Beiträge am vorgegebenen Tagungsthema „Sonderpädagogik und Bildungsforschung“. Allerdings greift das inhaltliche Spektrum der Artikel insgesamt wesentlich weiter und bietet einen sehr breiten Überblick sonderpädagogischer Forschung sowie Theorie-, Konzept- und Methodenentwicklung.

Alle Beiträge sind recht kurz. Während die Beiträge zu den Keynotes 11 bis 13 Seiten umfassen, liegt der Umfang aller weiteren Beiträge zwischen 4 und 7 Seiten.

Exemplarisch sollen hier die Beiträge zu den drei Keynotes hervorgehoben werden:

Elisabeth Moser Opitz setzt sich mit der Frage des Verhältnisses von Sonderpädagogik und Bildungsforschung als verpasster Chancen auseinander. Dabei geht sie von der realistischen Wendung nach Roth 1962 aus und fokussiert selbst damit insbesondere empirische Bildungsforschung, beschreibt den entsprechenden Diskurs in der Erziehungswissenschaft und erörtert den aus ihrer Sicht fehlenden Diskurs in der Sonderpädagogik. Im Hinblick auf dessen Verursachung rekurriert sie auf die Theorie des Denkstils von Fleck. Knapp wird skizziert, wie der Diskurs zukünftig (stärker) geführt werden könnte.

Birgit Werner beschreibt, auch auf Basis eigener Forschung, mögliche Annäherungen zwischen Sonderpädagogik zum einen sowie Bildungsforschung und Fachdidaktik zum anderen. Diese thematische „Trias“ wird anhand des Blickes auf Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen aus Lage-Scale-Assessment-Daten des IQB-Bildungstrends konkretisiert und beleuchtet. Gegenstand ist Mathematik sowie die Brücke zur entsprechenden Fachdidaktik. Knapp werden zum Ende notwendige disziplinäre Verschiebungen zwischen den drei betrachteten Bereichen sowie zugleich zwischen den Polen Standardisierung sowie Heterogenität andiskutiert.

Jürgen Budde fragt in seinem Beitrag nach möglichen Leistungen rekonstruktiver Inklusionsforschung zur Bearbeitung des Spannungsfeldes zwischen Sonderpädagogik und Bildungsforschung. Dabei problematisiert er die Aufgabenverteilung beider Bereiche, welche er als Sonderpädagogik einerseits sowie empirisch ausgerichtete Bildungsforschung andererseits bezeichnet. Das identifizierte Spannungsfeld wird diskutiert, um dann den Beitrag rekonstruktiver Inklusionsforschung herauszuarbeiten – spezifisch für die Spannungslinie zwischen Kategorisierung und Rekategorisierung, wobei abschließend weitere Spannungsfelder ins Spiel kommen. Die Entwicklungsanforderungen richten sich spezifisch an die Sonderpädagogik.

Diskussion

Die Herausgeberinnen und Herausgeber haben sich der Mühe gestellt, auf Basis der Sektionstagung Sonderpädagogik in Wuppertal einen Tagungsband zu ermöglichen. Hierzu ist eine sehr große Fülle von Beiträgen eingegangen, was offenbar, um einen bestimmten Umfang des Buches nicht zu überschreiten, zu klaren Limitationen des jeweiligen Beitragsumfanges geführt hat.

Während Sonderpädagogik seitens des Lesers recht klar konturiert werden kann, bleibt das Verständnis von Bildungsforschung eher offen und wird auch im sehr knappen Vorwort nicht geklärt, in dem von deren „schneller Entwicklung“ die Rede ist: Meint dies spezifisch (quantitativ) empirische Forschung, meint es die Fachdidaktiken – oder sind (auch) die Theoriebildung und -entwicklung zu Bildung gemeint? In den Beiträgen wird auf diese Frage recht unterschiedlich reagiert – was möglicherweise seitens der Veranstalter und Herausgeber ja auch intendiert war.

Zugleich ist das Buch durch den Charakter eines Tagungsbandes geprägt, wie häufig der Fall: Die Orientierung am Tagungsthema ist sehr unterschiedlich eng. Gerade die Keynotes, aber auch etliche weitere Beiträge beziehen sich direkt hierauf. Jenseits davon finden sich aber auch viele Beiträge mit mittlerer oder auch geringer Passung. Dies ist zum Teil im Rahmen solcher Tagungen auch intendiert, im Sinne der Offenheit, zum anderen geschieht es einfach – und führt hier wie an anderer Stelle zugleich zu einer erheblichen Heterogenität der Anbindung an das Rahmenthema sowie der Inhalte als solcher.

Nichtsdestotrotz finden sich verschiedene Beiträge, die sich in interessanter und inspirierender Weise mit den im Motto adressierten Bezügen sowie auch möglichen Spannungsfeldern auseinandersetzen. Und darüber hinaus sind auch verschiedene Beiträge zu finden, die weitere spannende inhaltliche Auseinandersetzungen und Impulse bieten. Deutlich wird auch zweierlei: zum einen die große Dominanz von „Inklusionsfoschung“ in der Sonderpädagogik (bei mehr als einem Drittel der Beiträge erscheint dieser Begriff bereits im Titel) – sowie zum anderen der nach wie vor sehr erhebliche Fokus sonderpädagogischer Forschung auf das Feld Schule. Eine gewisse Limitation fachlicher Darstellungstiefe besteht durchweg in der notwendigen Kürze aller Artikel.

Was dieser Tagungsband in jedem Falle leistet, ist ein breiter und zugleich differenzierter Überblick aktueller sonderpädagogischer Forschung, Theoriebildung, Konzeptentwicklung und methodischer Fragen.

Der Leser hätte sich gewünscht, dass die Beiträge im Buch durch die Herausgeberinnen und Herausgeber inhaltlich im Buch subgegliedert worden wären. Zwar sind teilweise inhaltlich homogene Gruppen zu erkennen, aber insgesamt wirken die Beiträge eher aneinandergereiht. Das erschwert für die Leser den Überblick und auch die Möglichkeit, sich gezielt für bestimmte Themenblöcke zu interessieren, die eher mühsam herausgesucht werden müssen.

Fazit

Dieses Buch ist aus der DGfE-Sektionstagung Sonderpädagogik 2019 in Wuppertal heraus entstanden. Die jeweils sehr kurzen Beiträge orientieren sich mehr oder weniger eng am Tagungsmotto „Sonderpädagogik und Bildungsforschung – Fremde Schwestern?“. Der Band bietet jedoch zugleich einen sehr guten, inhaltlich breiten Einblick in die aktuelle sonderpädagogische Forschung sowie Theoriebildung und Konzeptentwicklung. Insofern kann er, für einen solchen Ein- und Überblick, allen Forschenden in der Sonderpädagogik und den Bildungswissenschaften empfohlen werden – sowie darüber hinaus auch Personen in pädagogischer Praxis, die am aktuellen wissenschaftlichen Diskurs, hier spezifisch zu den im Tagungsmotto adressierten Bezügen, interessiert sind.

Rezension von
Prof. Dr. Roland Stein
Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik - Pädagogik bei Verhaltensstörungen
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Es gibt 32 Rezensionen von Roland Stein.

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ISSN 2190-9245