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Gero Bauer, Maria Kechaja et al. (Hrsg.): Diskriminierung und Antidiskriminierung

Rezensiert von Dr. Tino Plümecke, 08.09.2021

Cover Gero Bauer, Maria Kechaja et al. (Hrsg.): Diskriminierung und Antidiskriminierung ISBN 978-3-8376-5081-5

Gero Bauer, Maria Kechaja, Sebastian Engelmann, Lean Haug (Hrsg.): Diskriminierung und Antidiskriminierung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. transcript (Bielefeld) 2021. 282 Seiten. ISBN 978-3-8376-5081-5. D: 35,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 42,70 sFr.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - 60.

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Thema

Der von vier Kultur-, Erziehungs- und Sozialwissenschaftler*innen der Universität Tübingen sowie des Tübinger Vereins adis e.V. herausgegebenen Band versammelt eine große Bandbreite leicht zugänglicher Texte zum Themenbereich Diskriminierung. Die Beiträge reichen von einführenden Überblicksdarstellungen über praxisbezogene Reflexionen, Interviews mit Akteur*innen der Antidiskriminierungsarbeit und -beratung bis hin zu detaillierten Studien einzelner Diskriminierungsaspekte. Ziel des Bandes ist es, ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Aufsätzen und Erfahrungsberichten aus der Praxis zusammenzubringen und damit die intersektionale Auseinandersetzung mit (Anti-)Diskriminierung anzuregen.

Hintergrund und Aufbau

Hervorgegangen ist der Band aus einer Ringvorlesung des Tübinger Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Erziehungswissenschaft und dem Verein adis e.V., einem Träger für Antidiskriminierungsarbeit und Fachstelle zum Thema Diskriminierung in Baden-Württemberg. Die 16 Texte von Autor*innen aus Erziehungswissenschaft, Ethik, Kultur- und Sozialanthropologie, Kultur-, Politik- und Rechtswissenschaft, Soziologie, Theologie und verschiedenen institutionellen Bereichen der praktischen Antidiskriminierungsarbeit sind thematisch entlang der Stränge Grundlagen, Räume und Dimensionen der (Anti-)Diskriminierung gruppiert.

  • Teil 1 (Grundlagen) präsentiert definitorische Klärungen des Konzepts Diskriminierung und erläutert einführend relevante Aspekte zum Verständnis von Diskriminierung.
  • Teil 2 (Räume) stellt die Perspektiven feministischer Praxis, des Diskriminierungsschutzes an Hochschulen, der politischen, queeren Hochschuldidaktik sowie Diskriminierungsproblematiken im Kontext von Digitalisierung, Medizin und katholischer wie evangelischer Kirche vor.
  • Teil 3 (Dimensionen) versammelt Studien zu den Themen Trans*, Behinderung, Traumata aufgrund von Rassismuserfahrungen, jüdisch-muslimische Allianzen sowie Armut/​Klassismus.

Inhalt

Debatten über Diskriminierung haben in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. Hintergrund dessen sind einerseits rechtliche Regelungen auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland, die in den letzten beiden Jahrzehnten in Kraft traten sowie die zunehmende gesellschaftliche Delegitimierung von Benachteiligungen im Zusammenhang mit Behinderung, Sexualität, Geschlecht und Rassismus. Andererseits formierte sich gegen diese rechtlichen Regelungen sowie gegen die Arbeit von Antidiskriminierungsinstitutionen eine enorme Angriffsfront aus Teilen des rechten und rechtspopulistischen Spektrums. Diese attackieren etwa die Gender und Queer Studies, die Rassismusforschung und -kritik sowie Beratungs- und Empowermentprojekte. Überraschenderweise steht der politischen Brisanz der Debatten über Diskriminierung im deutschen Sprachraum eine überraschend geringe Anzahl an Studien und Praxisreflexionen gegenüber. Zudem ist die wissenschaftliche Forschung zu Diskriminierung/​Antidiskriminierung bisher vergleichsweise wenig institutionalisiert. Davon zeugt etwa, dass bisher keine Professur mit entsprechender Denomination besteht, dass es in den Sozialwissenschaften keine Sektionen, Sonderforschungsbereiche oder Graduiertenkollegs zum Thema Diskriminierung existieren oder dass bisher relativ wenig Publikationen mit Fokus auf (Anti-)Diskriminierung erschienen sind. Der rezensierte Sammelband will zur Schließung dieser Lücke beitragen und „vielfältige Anknüpfungspunkte für die Debatte in verschiedenen Themenfeldern“ (S. 14) bieten.

Die Beiträge im Band widmen sich aus zahlreichen Perspektiven zwei zentralen Fragestellungen: Erstens, was überhaupt unter Diskriminierungen zu verstehen ist und welche Ursachen und Wirkungen diese haben. Zweitens, wie wissenschaftliche und handlungspraktische Diskriminierungskritik und Antidiskriminierungsarbeit erweitert werden können. Besonders zu diesem zweiten Fragekomplex präsentiert der Band Texte aus der aktivistischen und beratenden Antidiskriminierungsarbeit.

Einen grundlegenden Zugang leistet der Beitrag des Freiburger Soziologen Albert Scherr zur „gesellschaftlichen Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik“. Er definiert Diskriminierung als sozialen Mechanismus, der der Herstellung, Aufrechterhaltung und Rechtfertigung von Machtunterschieden dient und hierfür Individuen als Teil eines Kollektivs fasst, das negativ von anderen Kollektiven abgegrenzt wird. Im Weiteren erörtert Scherr die gesellschaftliche Funktionalität von Diskriminierung sowie vier Dimensionen sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik von Diskriminierung. Einführend fungiert auch der Text von Lean Haug, Borghild Strähle und Maria Kechaja zur Beratungs- und Empowermentarbeit des Vereins adis e.V., der einige Erfahrungen, aber auch Schwierigkeiten in der konkreten Unterstützungsarbeit in Diskriminierungskontexten erörtert. Einen konzeptbezogenen Überblick zur Beschäftigung mit Diskriminierung bietet zudem der Beitrag von Maria Kechaja und Andrea Foitzik. In Form eines Gesprächs werden in diesem grundlegende Funktionsweisen und Aspekte, wie Othering, Interaktion und Struktur, Machtverhältnisse, Verletzlichkeit/​Vulnerabilität, Empowerment, Privilegien und Powersharing dargestellt.

Grundlegenden Charakter haben auch der Text von Jessica Heesen, Karoline Reinhardt und Laura Schelenz zu Diskriminierung durch Algorithmensowie Renate Baumgartners Artikel zu diskriminierenden Effekten Künstlicher Intelligenz in der Medizin. Ersterer führt aus, weshalb und aus welche Weise Algorithmen häufig Frauen sowie Angehörige minorisierter bzw. marginalisierter Gruppen diskriminieren. Anhand von Beispielen diskutieren die Autorinnen Probleme der automatischen Mustererkennung, die Voreingenommenheit von Programmierer*innen, die nichtrepräsentative Datenauswahl sowie fehlerhafte Ergebnisinterpretationen, aber auch Instrumente der Minimierung von Diskriminierung durch Algorithmen. Der zweite Beitrag bietet einen Einblick in die aktuellen Debatten um Möglichkeiten und Gefahren des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen in der Medizin. Er plädiert für eine dezidierte Betrachtung der sowohl aus der Technik als auch aus der Interaktion resultierenden Ungleichheitsprobleme im Gesundheitssystem.

Drei Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit antidiskriminatorischen Praxen an Hochschulen. Rebecca Hahn, Anya Heise-von der Lippe und Nicole Hirschfelder zeigen mehrere systemische Probleme des strukturellen Sexismus an Universitäten auf. Sie porträtieren typische diskriminierende Handlungsweisen wie mansplaining, manterrupting, male echo oder bropriating und stellen aktivistische Projekte vor, mit denen intersektional-feministische Prinzipien umgesetzt werden sollen. Sebastian Engelmann und Gero Bauer loten die Veränderungsmöglichkeiten der Lehr-, Lern- und Lebenswelten an Hochschulen unter Zuhilfenahme der Queer Theory aus. Sie nutzen dazu Queer als grundlagenkritischen Ansatz, als Instrument einer dezidierten Identitäts-, Normen- und Machtkritik, mit der sich institutionelle Diskriminierungen rekonstruieren sowie eine Umwertung normalisierender Werte und Normen realisieren lassen. Im dritten Beitrag erörtern Nathalie Schlenzka und Andreas Foitzik in einem Gespräch die Möglichkeiten und Begrenzungen von Diskriminierungsschutz durch Instrumente wie Beratungsstellen, Beschwerdeverfahren, Empowerment-Workshops etc. an Hochschulen. Diese scheinen zwar, vor allem aufgrund des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes geboten, sind aber in der Realität mal mehr, mal weniger institutionalisiert.

Im zweiten Teil (Räume) befassen sich zwei Texte jeweils sehr detailliert mit Aspekten von Diskriminierung im Kontext der christlichen Kirchen. Michael Schüßler untersucht an der Katholischen Kirche, mit welchen Überzeugungen und Narrativen genderbezogene Differenzierungen und Diskriminierungen legitimiert werden. Er diagnostiziert, wie sich in einer Doppelbewegung aus „verbaler Überzeugungsstarre bei gleichzeitiger Verhaltensoffenheit“ (S. 172) einerseits ein liberales Paradigma verbreite, während gleichzeitig eine misogyne und homofeindliche Geschlechterordnung verteidigt werde. Als Alternative fordert Schüßler eine kritisch-theologische Geschlechter- und Männlichkeitsforschung. Am Beispiel der Evangelischen Landeskirche in Württemberg untersucht Birgit Weyel Debatten über die gleichgeschlechtliche Ehe. Sie zeigt den Widerspruch zwischen dem innerkirchlichen Anspruch, jegliche Form von Diskriminierung abzulehnen, und der Fortführung von Diskriminierungen durch die Verweigerung symbolisch-ritueller Gleichstellung.

Der dritte Teil (Dimensionen) versammelt eine Reihe sehr unterschiedlicher Texte, die entweder einen Überblick über spezifische Diskriminierungsaspekte bieten oder sich (teilweise als Einzelstudien) einzelnen Problembereichen oder Detailfragen widmen. In ihrem zeitgeschichtlichen Artikel dokumentieren Ozan Zakariya Keskinkılıç und Armin Langer Facetten einer Auseinandersetzung von 2017 bis 2019 im Jüdischen Museum Berlin über jüdisch-muslimische Begegnungen auf Veranstaltungen und Tagungen des Museums sowie über Positionierungen von Repräsentant*innen des Museums zum Israel-Palästina-Konflikt. Der Text von Petra Flieger und Volker Schönwiese bietet einen Überblick über viele Details von Diskriminierungen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind. Ähnliches gilt für ein Gespräch zwischen Mari Günther und Barbara Stauber über Diskriminierungen von Trans*-Personen. Sie erörtern die beschränkenden rechtliche Rahmensetzungen, Transfeindlichkeit in Alltagssituationen sowie Möglichkeiten von Beratung.

Zwei Texte widmen sich der Profession der Sozialen Arbeit. Teresa Cersan und Maria Kechaja diskutieren in ihrem Beitrag detailreich psychische Folgen von Rassismuserfahrungen. Diese setzten sie in Beziehung zum psychopathologischen Konzept des Traumas und stellen dar, welche Rolle die Soziale Arbeit bei der Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen spielen kann. Ebenso detailreich beschreibt Lea Hezel in ihrem Beitrag über Armut als Diskriminierung Problematiken im Zusammenhang von Armut und Klassismus. Neben zahlreichen Missständen, Ambivalenzen und Kritiken diskutiert Hezel auch zahlreiche Ansatzpunkte für die Praxis der Sozialen Arbeit, um Mythen über Armut zu begegnen und Handlungsstrategien für Betroffene zu entwickeln.

Diskussion

Debatten über Diskriminierung haben in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. Hintergrund dessen sind einerseits rechtliche Regelungen auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland, die in den letzten beiden Jahrzehnten in Kraft traten sowie die zunehmende gesellschaftliche Delegitimierung von Benachteiligungen im Zusammenhang mit Behinderung, Sexualität, Geschlecht und Rassismus. Andererseits formierte sich gegen diese rechtlichen Regelungen sowie gegen die Arbeit von Antidiskriminierungsinstitutionen eine enorme Angriffsfront aus Teilen des rechten und rechtspopulistischen Spektrums. Diese attackieren etwa die Gender und Queer Studies, die Rassismusforschung und -kritik sowie Beratungs- und Empowermentprojekte. Überraschenderweise steht der politischen Brisanz der Debatten über Diskriminierung im deutschen Sprachraum eine überraschend geringe Anzahl an Studien und Praxisreflexionen gegenüber. Zudem ist die wissenschaftliche Forschung zu Diskriminierung/​Antidiskriminierung bisher vergleichsweise wenig institutionalisiert. Davon zeugt etwa, dass bisher keine Professur mit entsprechender Denomination besteht, dass es in den Sozialwissenschaften keine Sektionen, Sonderforschungsbereiche oder Graduiertenkollegs zum Thema Diskriminierung existieren oder dass bisher relativ wenig Publikationen mit Fokus auf (Anti-)Diskriminierung erschienen sind. Der rezensierte Sammelband will zur Schließung dieser Lücke beitragen und „vielfältige Anknüpfungspunkte für die Debatte in verschiedenen Themenfeldern“ (S. 14) bieten.

Einschränkend muss leider auch gesagt werden, dass der Band weitgehend eine Sammlung von Texten darstellt, die sich nur wenig aufeinander beziehen und deren Systematik nicht immer direkt nachvollziehbar ist. So ist die Zuordnung der Texte zu den drei Strängen (Grundlagen, Räume, Dimensionen) nicht immer leicht nachzuvollziehen und eine Differenzierung von Texten, die einzelne Diskriminierungsphänomene behandeln, wäre sicher auch für eine bessere Handhabbarkeit sinnvoll gewesen. Alles in allem ist dieses Manko ist jedoch vernachlässigbar, da das Buch eine Reihe sehr gut zugänglicher Texte versammelt, die eben mit etwas Durchsicht des gesamten Bandes eine facettenreichen Einführung in das Feld der Diskriminierungsforschung und -kritik bieten. Schön sind die von den sonst üblichen akademischen Textformen abweichenden Gespräche, die insbesondere für Einsteiger*innen in die Thematik einen leichten und verschiedene Aspekte aufgliedernden Zugang ermöglichen.

Fazit

Für Praktiker*innen, für die Ausbildung von Erzieher*innen, für Hochschulseminare in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Sozialen Arbeit finden sich sehr gute Texte für einen ersten Zugang zum Themenspektrum Diskriminierung und Antidiskriminierung sowie speziell zu Praxen der Unterstützung und des Widerstands. Insgesamt ist der Band daher ein wichtiger Beitrag, der die noch immer ausbaunotwendige Forschung- und Publikationslandschaft im deutschsprachigen Raum bereichert.

Rezension von
Dr. Tino Plümecke
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Es gibt 2 Rezensionen von Tino Plümecke.

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Zitiervorschlag
Tino Plümecke. Rezension vom 08.09.2021 zu: Gero Bauer, Maria Kechaja, Sebastian Engelmann, Lean Haug (Hrsg.): Diskriminierung und Antidiskriminierung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. transcript (Bielefeld) 2021. ISBN 978-3-8376-5081-5. Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - 60. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28077.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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