Julia Kerstin Maria Siemoneit: Schule und Sexualität
Rezensiert von Prof. Dr. Torsten Linke, 04.10.2021
Julia Kerstin Maria Siemoneit: Schule und Sexualität. Pädagogische Beziehung, Schulalltag und sexualerzieherische Potenziale.
transcript
(Bielefeld) 2021.
336 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5492-9.
D: 45,00 EUR,
A: 45,00 EUR,
CH: 54,90 sFr.
Reihe: Pädagogik.
Thema
In der Publikation wird die Vermittlung von sexualitätsbezogenen Inhalten im Kontext Schule theoretisch und empirisch untersucht und diskutiert. Dabei fokussiert die Autorin nicht nur auf den Sexualkundeunterricht, sondern richtet den Blick auf Schule als Sozialraum und informellen Lernort im Kontext der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler*innen.
AutorIn und Entstehungshintergrund
Siemoneit praktiziert als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, lehrt zum Schwerpunkt Gender History an der Universität Köln und hat zum Themenbereich Schule und Sexualität promoviert. Die vorliegende Publikation wurde 2020 als Dissertation unter dem Titel: „Sexualität und Schule. Eine Deutungsmusteranalyse von Interviews mit Gymnasiallehrkräften“ an der Universität Köln angenommen.
Aufbau und Inhalt
Die Monographie gliedert sich in acht Kapitel. Einer Einleitung folgen drei Kapitel in denen eine theoretische Gründung der Arbeit vorgenommen wird, in den daran anschließenden drei Kapiteln erfolgt die Darlegung des Forschungsdesigns und die Auswertung der empirischen Ergebnisse bevor die Arbeit mit einem Resümee endet.
In der Einleitung (S. 7–17) geht die Autorin auf die Ausgangslage ein, die die Wahl des Themenfeldes begründet. Sie führt zwei für sie wesentliche Punkte an (1) die durch die Aufdeckung sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten 2010 begonnene Auseinandersetzung und Aufarbeitung zum Umgang mit Sexualität in pädagogischen Institutionen und (2) die Debatte in Bezug auf den Umgang mit sexualpädagogischen Veranstaltungen in der Schule, speziell mit Themen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt sowie deren Verankerung in Bildungsplänen.
Siemoneit formuliert ausgehend von aktuellen Studien zum Themenfeld Sexualität und Schule ein Forschungsdesiderat. Dieses sieht sie vor allem in der aus ihrer Sicht unzureichenden Aufarbeitung der Struktur pädagogischer Beziehungen im Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnis sowie einer Verkürzung von Sexualität als Unterrichtsstoff im schulischen Kontext. Davon ausgehend entwickelt die Autor*in Forschungsfragen denen sie in der Arbeit nachgehen möchte (S. 16) und mit denen Siemoneit zu einer „gründliche[n] Erarbeitung von Sexualität als Gegenstand sowie [einer] Verhältnisbestimmung von Sexualität, Schule und Pädagogik“ beitragen möchte (S. 17).
In Kapitel 2. Sexualität: Begriffs- und wissensgeschichtliche Annäherungen (S. 19–46) legt Siemoneit eine Entwicklung der Sexualwissenschaft dar. Sie arbeitet heraus, dass die Begriffsbildung zu Sexualität und vorgenommene Kategorisierungen eng mit der Entwicklung der modernen (westlichen) Wissenschaften verknüpft und mit religiösen Aspekten sowie weltlichen Machtaspekten verwoben sind. Im Gegensatz zu einer bis in das Mittelalter hinein existierenden sprachlichen Vielfalt in Bezug auf sexuelle Themen im Kontext der realen Lebenswelten, wird eine zunehmende biologistisch-naturalistische und damit eingrenzende Perspektive beschrieben, die sich ab dem 18. Jahrhundert durchsetzte. Vor allem die von Linné anhand seiner Forschung an Pflanzen vorgenommene Einordnung hinsichtlich einer männlich-weiblichen Dichotomie und deren heterosexuelle Bezogenheit wird als prägend angeführt, woraus sich die Konstruktion menschlicher Sexualität als einer Fortpflanzungssexualität ergab. Siemoneit arbeitet im weiteren anhand der Entwicklung der Sexualwissenschaft (sie nimmt u.a. Bezug auf Sexualwissenschaftler wie Freud, Moll, Kinsey, Sigusch und Schmidt) heraus, dass Sexualität eine komplexe Konstruktion verschiedener Aspekte und gesellschaftlich eingebettet ist. Mit den im Band angeführten Forschungsentwicklungen wurden einerseits vorhergehende Sichtweisen in Bezug auf Punkte wie das Geschlechterverhältnis, sexuelle Vielfalt, sexuelle Orientierung und sexuelle Praktiken wie Selbstbefriedigung wissenschaftlich (längst) revidiert, andererseits zeigt sich eine anhaltende Wirkung und Adaption in gesellschaftlichen Kontexten. So können die gerade genannten Punkte historisch wie aktuell als sensible Themen in Bezug auf Sexualerziehung, -aufklärung und -pädagogik bezeichnet werden, da sie die gesellschaftliche Normierung von Sexualität am Beispiel der Erziehung und Bildung von Kindern deutlich machen.
Im Kapitel 3. Zur pädagogischen Bearbeitung von Sexualität im Kontext Schule (S. 47–89) geht die Autor*in auf diese Frage des pädagogischen Umgangs mit Sexualität ein. Sie nimmt dabei die Schule in den Blick und damit das Spannungsfeld zwischen staatlichem Bildungsauftrag und elterlichem Erziehungsrecht. Siemoneit betrachtet Schule sowohl als formalen Bildungsort, als auch informellen Lernort. Aus dieser Perspektive sind die Schüler*innen nicht nur Bildungsadressat*innen eines staatlich vorgegebenen Bildungskanons, sondern auch Akteur*innen in einer Lebenswelt in der sie (informelle) Lerninhalte mit beeinflussen. Das heißt auch, Schüler*innen agieren als Sexualwesen in der Schule und tauschen sexualitätsbezogenes Wissen aus. Dieser Umstand trifft auf einen Ort, der sich als Institution weitgehend sexualfrei präsentiert und Sexualität nur in kurzen temporären Phasen als formales (und sehr eingegrenztes) Bildungsthema aufruft und damit zulässt. Bereits die, auch von Simoneit zitierte, Studie „Scham in der schulischen Sexualaufklärung“ (Blumenthal, Sara 2014) zeigt auf, dass Sexualität auch im pädagogischen Verhältnis eine Rolle spielt und dieses (bspw. im Kontext von Scham und Beschämung als Erziehungsmittel) beeinflusst. Siemoneit führt das Phänomen des sogenannten heimlichen (verdeckten/​verborgenen) Lehrplans an, der durch die subjektive Sicht von Lehrkräften auf Sexualität bestimmt wird und die Behandlung offizieller Unterrichtsthemen sowie den Umgang mit sexuellen Themen durch die Lehrkraft beeinflusst. Hier kommen wieder die bereits o.g. Punkte in den Blick. Vor allem die in der Sexualpädagogik als sogenannte heißen Eisen bezeichneten Themenbereiche wie sexuelle Vielfalt, sexuelle Orientierung, Selbstbefriedigung, Schwangerschaftsabbruch aber auch differenzierte Sichtweisen auf sexualisierte Gewalt können (in normativer Hinsicht) hiervon in ihrer inhaltlichen Behandlung berührt sein oder erfahren im schulischen Kontext eine Dethematisierung bis hin zur Tabuisierung.
Im Kapitel 4. Die pädagogische Beziehung: Zum Verhältnis von Profession, Generation, Geschlecht und (Berufs-)Biografie von Lehrer*innen (S. 91–120) geht Siemoneit auf die pädagogische Beziehung ein und verweist darauf, dass diese nicht nur von professionellen Kriterien, sondern auch persönlichen Merkmalen wie Alter und Geschlecht beeinflusst wird. Einen Schwerpunkt im Kapitel bildet die Ausführung zum Verhältnis von Biografie, Sexualität und Profession. Ausgehend davon, dass sowohl Lehrkräfte wie Schüler*innen in der Schule auch als sexuelle Wesen auftreten, ergibt sich die Herausforderung des Umgangs mit diesen persönlichen Anteilen im Kontext der institutionellen Kultur. Lehrkräfte müssen permanent ein Nähe-Distanz-Verhältnis gestalten, in dem sie auch in Ihrer Intimität berührt und mit diffusen Beziehungsdynamiken konfrontiert werden. Die Autor*in verweist dabei auf die Bedeutung der Biografie, insbesondere der eigenen Anerkennungsgeschichte, der Lehrkräfte für die Gestaltung der pädagogischen Beziehung. Ebenso von Bedeutung für die Wissensvermittlung zu sexuellen Themen sind die persönlichen Wissensbestände der Lehrkräfte und die Frage, wie sie im Rahmen ihrer professionellen Rolle darauf zugreifen und diese einbringen. Damit sind wichtige Punkte wie Reflexivität und eine (damit im besten Falle einhergehende) Sensibilisierung in Bezug auf sexuelle Themen sowie das Wirken als pädagogische Fachkraft verknüpft. Die sich aus der eigenen (Sexual-)Biografie von Lehrkräften ergebenden Deutungen zu Sexualität und Schule sind, so Siemoneit, wichtiger Bestandteil der pädagogischen Beziehung.
In Kapitel 5. Forschungskonzeption und methodisches Vorgehen (S. 121–157) legt die Autor*in ihr methodisches Vorgehen dar und begründet dieses. Siemoneit beschreibt transparent ihren Ansatz und Prozess hinsichtlich Erhebung, Feldzugang und Auswertung, die abschließend reflektiert werden. Die Autor*in führte in ihrer Studie 13 Expert*inneninterviews mit Lehrkräften an Gymnasien durch. Die Autor*in orientiert diese an der Form der problemzentrierten Interviews nach Witzel. Interessant im Kontext des Forschungsthemas erscheint, dass der formale Zugang zum Feld über den offiziellen Weg der Anfrage an Schulleitungen und Vorstellung im Gesamtkollegium keine Rückmeldungen erbrachte. Die Interviews kamen durch eine persönliche, informelle Unterstützung (Bekannte, Gatekeeper) zu Stande. Hier könnte sich, wie von Siemoneit auch aufgegriffen, der Umstand der Intimität bzgl. des Themas und der o.g. Faktor der eigenen Deutungen bemerkbar machen. Die Stichprobe beschränkt sich hauptsächlich auf vier Gymnasien in Großstädten in Nordrhein-Westfalen (N=12) und wird durch ein Interview an einem mittelstädtischen Gymnasium in Baden-Württemberg ergänzt.
Die Kapitel 6. Deutungsmuster zu Begehren jenseits von Heteronormativität und 7. Deutungsmuster zu Körpern in der Schule sind eine umfassende Ergebnisdarstellung der qualitativen Forschung. Simoneit fokussiert in Kapitel 6 auf Heteronormativität. Ausgehend vom Lehrplan in Nordrhein-Westfalen wird die Frage aufgeworfen und dieser in den Interviews nachgegangen, inwieweit sexuelle Vielfalt und sexuelle Orientierung, die über Heterosexualität hinausgeht, Teil des (fächerübergreifenden) Unterrichtes sind, wie sich dies praktisch abbildet und wie diese Themen allgemein in der Lebenswelt Schule auftreten und verhandelt werden. Mit Blick auf die Institutionenkultur greift Siemoneit Punkte des Umgangs mit lesbisch oder schwulen Kolleg*innen im Kollegium auf, geht auf Diskriminierungen von Schüler*innen durch Lehrkräfte ein und blickt auf den Umgang mit der eigenen Sexualität in professionellen Beziehungsverhältnissen. Dabei kommt die Autor*in zu dem Schluss, dass Homosexualität vor allem als männliches Begehren assoziiert und problematisierend behandelt wird. Im Kontext sprachlicher Diskriminierungen (bspw. schwul als Schimpfwort) gehen Lehrkräfte folglich vor allem auf diese Bereiche ein und intervenieren weniger bei anderen sexuellen Themen die mit Abwertungen verbunden sind oder bei denen es zu Beleidigungen kommt. Zudem wird deutlich, dass Lehrkräfte eher erzieherisch disziplinierend eingreifen und auf eine stärkere Selbstkontrolle der Schüler*innen setzen und weniger die Möglichkeit eines Bildungsanlasses sehen.
Im Kapitel 7 fokussiert Siemoneit auf Deutungsmuster zu Körpern und geht differenziert auf das Sprechen über Schüler*innnenkörper und das über Lehrer*innenkörper ein. Bereits eingangs wird anhand einer Interviewsequenz die mögliche sexuelle Aufgeladenheit einer schulischen Situation beschrieben und der Versuch des professionellen Umgangs damit sowie werden die danach vorgenommenen Deutungen herausgearbeitet. Neben dem Blick auf Körper geht die Auto*in auch auf den damit verbundenen Aspekt der Kleidung ein. Dabei wird deutlich herausgestellt, hier richtet sich der Blick der befragten Lehrkräfte vor allem auf Mädchen und die Frage, ob deren Kleidung aus Sicht der Lehrkräfte angemessen erscheint. Diese geschlechtsspezifische Einschränkung geht, so die Autor*in, mit einer Normierung und Disziplinierung des weiblichen Körpers und des Verhaltens der Mädchen einher. Die Sicht auf „Bekleidung als Zeichen einer weiblichen, modischen Selbstinszenierungspraktik, zumindest aber als Ausdruck persönlichen Geschmacks und damit auch Bestandteil von Vielfalt“ (S. 277) ist unzureichend vorhanden.
Die Arbeit schließt mit dem Kapitell 8. Resümee. Siemoneit fasst ihre Arbeit zusammen und stellt abschließend noch einmal heraus, dass Schule als Ort sexualitätsbezogener Aushandlungsprozesse betrachtet werden muss. Das von der Autor*in in der Arbeit eingangs beschriebene Forschungsdesiderat, dass in den bisher vorliegenden Studien die Unterrichtssituation im Kontext des Sexualaufklärungsunterrichtes stand und nicht die Schule als Lebensort an dem Sexualität gelebt wird, führte zu dem Forschungskonzept, Lehrkräfte nach ihren Deutungsmustern zu befragen. Damit will die Autor*in die von ihr ausgemachte Leerstelle schließen. Ableitend wird formuliert, dass Sexualerziehung in der Schule umfassender zu denken ist als eine bisher in den Lehrplänen vorgesehene und auf den Unterricht begrenzte Sexualaufklärung. In der Arbeit zeigt sich, das die institutionelle Kultur eine wichtige Rolle spielt und damit verbunden die Frage, wie, wo und worüber wird im Kollegium gesprochen und mit wem kann gesprochen werden. In diesem Sinne macht Simoneit das Lehrer*innenzimmer als Diskursraum zur Verhandlung über sexuelle Themen aus. Im Kontext damit steht, dass Lehrkräfte sowohl gegenüber Schüler*innen wie Kolleg*innen versuchen mit einem möglichst „geschlechtsneutralen Lehrkörper“ (S. 288) aufzutreten und als solcher wahrgenommen zu werden. Hier scheint vor allem die Sorge leitend, damit einer möglichen negativen Wahrnehmung und abnehmenden Anerkennung in Bezug auf die professionelle Rolle und die Fachlichkeit entgegenwirken zu wollen. Die Autor*in verweist am Ende auf zwei Punkte, die sie in der Arbeit nicht vertiefend aufgegriffen hat und zu denen sich keine (oder nur begrenzte) Aussagen im empirischen Datenmaterial finden. In der Themengründung der Arbeit bezieht sich Simoneit u.a. auf Vorfälle zu sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten, ohne dies in der Arbeit weiter zu vertiefen. Ein weiterer Punkt, der von der Autor*in im Band eingangs problematisierend in Bezug auf Besorgte Eltern und auch mit Blick auf das Spannungsverhältnis Schule-Eltern eingeführt wird, ist das Verhältnis von Lehrkräften und Eltern speziell zu Fragen der schulischen Sexualaufklärung, den Siemoneit ebenfalls nicht theoretisch und empirisch bearbeitet, jedoch als ein zukünftiges Forschungsthema benennt.
Diskussion
Siemoneit liefert zweifellos einen weiteren wichtigen Beitrag zum Themenfeld Schule und Sexualität. Die Autor*in nimmt eine Perspektivenerweiterung über das zentrale Unterrichtsgeschehen hinaus vor und sensibilisiert dafür, Schule als Lebensort zu verstehen an dem informelle Lernprozesse stattfinden an denen Lehrkräfte beteiligt sind. Diese bringen Sexualität dabei nicht nur als formalen Lehrstoff im Rahmen ausgewählter Veranstaltungen ein und behandeln diesen in ihrer professionellen Rolle, sondern greifen dabei auf persönliche Wissensbestände zurück und beeinflussen durch ihre persönliche Einstellung und ihr Verhalten die pädagogische Beziehung. Dabei spielen die biografischen Erfahrungen und Einordnungen bzgl. sexueller Themen eine entscheidende Rolle, da diese wiederum die Deutungen im Schulalltag beeinflussen. Simoneit fokussiert dabei vor allem auf den Umgang mit nicht-heteronormativen Inhalten und die Wahrnehmung und das Sprechen über Körper – hier liefert der Band wichtige empirische Erkenntnisse aus der subjektiven Sicht von Lehrkräften. Die von der Autor*in selbst kritisch vorgenommene Diskussion hinsichtlich des zu beforschenden Feldes (S. 139 f.), lässt sich auch auf die vorgelegte Studie erweitern. Die empirischen Ergebnisse beziehen sich auf die Schulform des Gymnasiums, der Sozialraum beschränkt sich auf (mit einer Ausnahme) den großstädtischen Kontext. Damit ist eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Institution Schule nur begrenzt möglich was sich auch auf mögliche Ableitungen für die Praxis bezieht (Dies ist allerdings methodisch im Kontext einer bei qualitativen Arbeiten entstehenden Theorie begrenzter Reichweite begründet und mit Blick auf die Größe der Stichprobe auch in den für eine Dissertationsarbeit begrenzten Ressourcen). So ist davon auszugehen, dass in einer anderen Schulform; und hier spielen u.a. Kriterien wie die Durchlässigkeit des Bildungssystems und die soziale Herkunft eine Rolle, wobei sich letztere auch auf die familiäre Sexualkultur ausprägt; oder in ländlichen Regionen andere Herausforderungen entstehen könnten (siehe bspw. Wellgraf, Stefan 2012, Hauptschüler; van Essen, Fabian 2013, Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus). Zwei Beispiele: 1) Mit Blick auf Schüler*innen könnten sich hinsichtlich der Schulformen differenziertere Positionierungen, Inszenierungen und Präsentationen hinsichtlich des Geschlechts zeigen und auch andere Bedarfe hinsichtlich einer sexuellen Bildung. 2) Mit Blick auf Lehrkräfte könnten sich im ländlichen Bereich die in der Arbeit diskutierten Überschneidungen zwischen Privatperson und professioneller Rolle und der Umgang mit Intimität und eigener Sexualität, u.a. in Bezug auf die in der Publikation aufgeworfene Frage zum Coming-Out von Lehrkräften, qualitativ anders ausprägen. Ein weiterer Punkt unter dem die Ergebnisse der Arbeit diskutiert werden können ist der Einbezug von allen professionell (und auch ehrenamtlich) tätigen Erwachsenen im schulischen Kontext. Wenn Schule als Lebensort begriffen wird an dem sich eine eigene schulische Sexualkultur bildet und alle dort Anwesenden daran beteiligt sind, so wäre neben Schüler*innen, Lehrkräften und Eltern auch der Einbezug von allen dort weiteren pädagogisch wie nicht-pädagogisch tätigen Erwachsenen in den Blick zu nehmen. Wird die Befassung mit Sexualität in Bezug auf die Etablierung von Schule als diskriminierungssensibler Ort und im Kontext des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt betrachtet, scheint dies unumgänglich für weitere Forschungsarbeiten zu diesem Feld.
Fazit
Die vorliegende Publikation ist empfehlenswert für die Beschäftigung mit Sexualerziehung und -aufklärung und die Sensibilisierung zu sexuellen Themen im schulischen Kontext im Rahmen einer wissenschaftlichen Beschäftigung. Damit bietet sie sich für das Studium der Erziehungswissenschaft an, da insbesondere angehende Lehrkräfte an dieses intime und sensible Themenfeld herangeführt werden können und Einblicke in subjektive Sichtweisen erhalten. Auch für den Studiengang der Sozialen Arbeit ist der Band anschlussfähig, da sich auch hier (sowohl in der Einzel- wie der Gruppenarbeit) diffuse Beziehungsdynamiken entwickeln können, deren Reflexion für die Entwicklung eines professionellen Handelns von Bedeutung ist. Auch die Frage der Wirkung der eigenen (Sexual-)Biografie auf die professionelle Rolle und das sozialpädagogische Handeln ist in diesen Kontexten von Bedeutung sowie die Reflexion sich in der Arbeit ergebender Deutungen. Die enthaltenen Interviewsequenzen können zur Reflexion und Diskussion genutzt werden oder zu einer Fallbearbeitung in Seminaren. Der forschungsmethodische Teil bietet einen exemplarischen Blick in die Konzeption und Durchführung einer Studie – dies kann sowohl für Studienkontexte wie Promotionsvorhaben eine Quelle sein.
Rezension von
Prof. Dr. Torsten Linke
Hochschule Zittau/Görlitz - Fakultät Sozialwissenschaften
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Zitiervorschlag
Torsten Linke. Rezension vom 04.10.2021 zu:
Julia Kerstin Maria Siemoneit: Schule und Sexualität. Pädagogische Beziehung, Schulalltag und sexualerzieherische Potenziale. transcript
(Bielefeld) 2021.
ISBN 978-3-8376-5492-9.
Reihe: Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28078.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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