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Verena Kreilinger, Winfried Wolf et al.: Corona, Krise, Kapital

Rezensiert von Christopher Grobys, 07.02.2022

Cover Verena Kreilinger, Winfried Wolf et al.: Corona, Krise, Kapital ISBN 978-3-89438-739-6

Verena Kreilinger, Winfried Wolf, Christian Zeller: Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie. PapyRossa Verlag (Köln) 2020. 277 Seiten. ISBN 978-3-89438-739-6. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR.
Reihe: Neue kleine Bibliothek - 293.

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Thema

Ausgangspunkt des Plädoyers ist der Ausbruch des Coronavirus (SARS-COVID-2) und dessen Auswirkungen auf die globalen gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Klimawandel, die andauernde wirtschaftliche Rezession kulminieren zusätzlich durch die Ausbreitung des Virus und verdichten dadurch die schon bestehende multiple Krise des globalen Kapitalismus. Die Autor:innen betrachten diese Auswirkungen jedoch nicht als ein Resultat eines externen Schocks durch das neuartige Virus, sondern stellen fest, dass die Zusammenhänge den inhärenten Krisentendenzen der kapitalistischen Produktionsweise entspringen. Auf diesem Fundament bewerten die Autor:innen die sich zuspitzenden globalen Widersprüche dieser Produktionsweise einerseits als gesamtgesellschaftliche Herausforderung und andererseits als historisches Gelegenheitsfenster einer notwendigen ökosozialistischen Transformation. Hierfür skizzieren sie eine solidarische und umweltfreundliche Perspektive, deren Voraussetzung die Entwicklung gesellschaftlicher Macht von unten ist.

Autor:innen

Verena Kreilinger ist Medienwissenschaftlerin und aktiv in der Salzburger Klimabewegung sowie bei Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative.

Winfried Wolf ist Politologe und Mitbegründer von FaktenCheck: Corona. Außerdem ist er Chefredakteur von Lunapark 21, Bücher zur Weltwirtschaft, Verkehr und Stuttgart 21. Christian Zeller lehrt an der Universität Salzburg Wirtschaftsgeographie und Global Studies und engagiert sich für eine transnationale ökosozialistische Bewegung von unten.

Aufbau und Inhalt

Das Buch beginnt mit einem Vorwort (S. 7–9) der Autor:innen, in dem sie das Anliegen des Plädoyers darlegen: Sie weisen dezidiert den Begriff der Corona-Krise zurück, weil dieser als ideologisches Narrativ impliziert, dass das Virus als externer Faktor eine wirtschaftliche Krise erzeuge. Stattdessen wollen sie aufzeigen, dass beides – die Entstehung und Ausbreitung des Virus sowie die Wirtschaftskrise – der kapitalistischen Produktionsweise entspringt. Daran anschließend fragen sie: „Wann, wenn nicht jetzt muss auf eine ökologische, soziale und solidarische Ökonomie orientiert werden“ (S. 9)?

Im ersten Kapitel (S. 10–17) beschreiben die Autor:innen ihren wissenschaftlichen Zugang zum Thema und ihre Kernthesen. Sie kritisieren erstens die bisher angewandten politischen Strategien im Umgang mit der Pandemie als Politiken, die einem solidarischen Umgang zuwiderlaufen und primär auf die Aufrechterhaltung der Akkumulationslogik des Kapitals abzielen. Zweitens machen sie deutlich, dass auch die Klima- und die Wirtschaftskrise mit der epidemischen Ausbreitung des Coronavirus zusammenhängen und nur gemeinsam bearbeitet werden können. Drittens verstehen sie die Pandemie nicht als Gesundheitsproblem, sondern als gesamtgesellschaftliche Krise des globalen Kapitalismus und schlussfolgern deshalb die Notwendigkeit eines Bruchs mit der kapitalistischen Produktionsweise hin zu einer ökosozialistischen Alternative.

Der Beginn der Pandemie in Hubai und die Eindämmungsstrategien von China im Kontrast zu den europäischen Ländern werden im zweiten Kapitel (S. 18–21) untersucht. Die Autor:innen heben die erfolgreichen Maßnahmen der chinesischen Regierung hervor, wie zum Beispiel eine lückenlose Testung, Aufstockung der Quarantänemaßnahmen und Ärzt:innen und das konsequente Verfolgen von Infektionsketten. Sie resümieren, dass mit dem Ergreifen solcher Maßnahmen in Europa nach dem Auftreten der ersten Corona-Positiv-Fälle, eine Ausbreitung von Anfang an effizient eindämmbar gewesen wäre. Der von den Autor:innen erhobene Zuspruch der Maßnahmen von China, verbleibt auf einer technischen Ebene und soll keinesfalls die damit einhergehenden autoritären Maßnahmen der chinesischen Regierung rechtfertigen.

Im dritten Kapitel (S. 25–45) erläutern die Autor:innen ihre These warum der Kapitalismus als gesamtgesellschaftliche globale Totalität in Beziehung zur Corona-Pandemie, ja sogar als eine Ursache der pandemischen Ausbreitung des Virus gesetzt werden muss. Ihr Kernargument ist dabei, dass pandemische Ausbreitungen von Viren immer im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet werden müssen. Mit Verweis auf Rob und Rodrick Wallace erklären sie, dass es einen Zusammenhang zwischen dem global etablierten industriellen Agrarsystem und Zoonosen gibt. Durch dieses Agrarsystem im Zusammenhang mit imperialistischen Landnahmen wurden Ökosysteme zerstört. Diese Tendenz sei durch den Klimawandel nochmals verstärkt wurden, wodurch sich das Potenzial von Zoonosen nochmals exponentiell steigere. Diese Kommodifizierung von Land als auch von Wildtieren, durch deren Zucht und Verkauf sich ebenfalls die Entstehung von Zoonosen erhöhen, könne laut den Autor:innen als biosoziales Fundament für die Ausbreitung die Entstehung des Virus betrachtet werden. Deshalb müsse die Ausbreitung im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise betrachtet werden. Der mit dieser Produktionsweise sich entwickelnde internationale Handel schuf zusätzlich das Potenzial einer schnellen epidemischen Verbreitung. In diesem Zusammenhang kritisieren die Autor:innen: „Die Menschen sterben nicht an Covid-19, sondern am Kapitalismus“ (S. 41) und verschieben damit die Perspektive von Ursache und Wirkung von einer biologistischen auf eine gesellschaftliche Ebene.

Dass schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie verschiedene Maßnahmen hätten getroffen werden können und laut internationaler Gesundheitsorganisationen hätten getroffen werden müssen, erörtern die Autor:innen im vierten Kapitel (S. 46–61). Hierfür verweisen sie auf die fünf Lehren, welche die UN-Organisation WHO aus der SARS-Epedemie 2002/2003 geschlussfolgert hatte, jedoch bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie nicht umgesetzt wurden. Diese umfassten folgende: Erstens könnten Epidemien nur lokal verhindert werden, wenn es eine absolute Transparenz gibt und schnell auf internationaler Ebene koordiniert reagiert wird. Zweitens müsse für eine schnelle Abschottung des Landes oder der Region der Flugverkehr eingestellt werden. Drittens hätte ein global ausgebautes öffentliches Gesundheitssystem, das konsequente Nachvollziehen von Kontakten sowie die Quarantäne und Isolierung von positiven Personen eine globale Ausbreitung verhindern können. Viertens plädierte die WHO für das Auflösen von Wildtiermärkten oder zumindest deren Kontrolle. Fünftens benötige es zur Eindämmung von Pandemien eine glaubwürdige und starke internationale Institution, wie es die WHO im Fall von SARS war. Bemerkenswert ist, dass diese Lehren nicht nur international bekannt waren, sondern die deutsche Regierung und der Bundestag schon explizit im Jahr 2013 gewarnt wurden. Seit der Veröffentlichung der von der damaligen Bundesregierung 2012 in Auftrag gegebenen Studie mit dem Titel Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 kannte auch die deutsche Regierung Vorhersagen und Gegenstrategien, ohne nachhaltige Gegenmaßnahmen für den 2020 eingetretenen Fall vorzubereiten.

Im fünften Kapitel (S. 62–75) gehen die Autor:innen näher auf die Transformation des Gesundheitssektors im Kapitalismus ein. Die jahrelangen Austeritäts- und Kürzungspolitiken haben diesen soweit deformiert, dass eine adäquate Reaktion auf die Pandemie nicht möglich war. Die kommodifizierenden Tendenzen – die Inwertsetzung von Gesundheit als Ware – problematisieren die Autor:innen. Durch einen künstlich geschaffenen Markt, einer Wegrationalisierung von Pflegekräften um Kosten zu sparen und das damit verbundene Konkurrenzverhältnis zwischen Krankenhäusern haben auch hierzulande zu starken Defiziten in puncto Gesundheitsversorgung geführt, welche sich im Rahmen der Pandemie zusätzlich zuspitzten. Abschließend verweisen die Autor:innen in dem Kapitel darauf, dass diese Entwicklung gestoppt werden könne durch eine Organisierung der Krankenhausbeschäftigten und einer aktiven Unterstützung der Zivilbevölkerung.

Im sechsten Kapitel (S. 76–116) gehen die Autor:innen der Frage nach, warum die Pandemie global solche umfassenden Auswirkungen hat. Dafür vergleichen sie von verschiedenen Ländern die Maßnahmen und Strategien im Umgang mit der Ausbreitung des Virus und resümieren, dass trotz aller Unterschiedlichkeiten alle Länder dem gleichen strategischen Ziel folgen: Der Aufrechterhaltung der Produktion und somit der profitorientierten Wirtschaft.

Im siebten Kapitel (S. 117–140) fokussieren die Autor:innen „[…] einige besondere Aspekte der Pandemie in den abhängigen Ländern und skizzieren ihren Verlauf in so unterschiedlichen Metropolen wie Guayaquil in Ecuador, Manaus in Brasilien, Kano in Nigeria und im Bundesstaat Kerala in Indien“ (S. 117 f.). Sie nehmen dabei eine parteiische Klassenperspektive der Subalternen des globalen Südens ein, welche die Konsequenzen der Pandemie als Folge eines globalen Kapitalismus am unmittelbarsten zu spüren bekommen.

Welche Auswirkungen die verschiedenen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse wie Klasse, Geschlecht und weitere im Kontext der gegenwärtigen Corona-Krise haben und wie sich diese verschärfen zeigen die Autor:innen im achten Kapitel (S. 141–162).

Im neunten Kapitel (S. 163–179) setzen sich die Autor:innen explizit mit der Mitte 2020 umgesetzten Exitstrategie aus dem Lockdown vieler EU-Staaten auseinander. Sie kritisieren dabei die Fokussierung des Primats der Wirtschaft und die Sekundarisierung der Gesundheitsversorgung: „Die Befindlichkeit des Kapitals wird zum Gradmesser für Umfang und Dauer jeglicher Eindämmungsstrategie des Virus“ (S. 165), formulieren sie deutlich. Deshalb stellen sie in Aussicht, dass diese politische Handlungsstrategie eine zweite Ausbreitungswelle mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge haben könnte. Abschließend skizzieren die Autor:innen in diesem Kapitel, dass im Sinne einer solidarischen und emanzipatorischen Politik Lockerungen klassenpolitisch und demokratisch zwischen verschiedenen sozialen Gruppen ausgehandelt werden sollten, weil sich die Folgen unterschiedlich auswirken. Außerdem seien alternative Parameter, welche als Indikatoren für Lockerungen dienen könnten, notwendig, um weitere Wellen der Ausbreitung zu vermeiden, wie zum Beispiel konsequentes Testen, Nachverfolgen und Isolieren von Corona-positiven Personen. Des Weiteren plädieren die Autor:innen dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und nicht ökonomische Kennziffern richtungsweisend für politische Handlungen seien sollten.

Im zehnten Kapitel (S. 180–192) diskutieren die Autor:innen die Argumente der sogenannten Corona-Leugner:innen und entkräften eine Auswahl ihrer gängigen Thesen und Begründungen. In der Auseinandersetzung mit diesen Argumentationen diskreditieren sie diese nicht einfach nur auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern prüfen sie zugleich aus einer aufgeklärten und humanistischen Perspektive.

Die Autor:innen verlassen im darauffolgenden elften Kapitel (S. 192–203) die globale Perspektive und fokussieren im Konkreten die Europäische Union. Sie argumentieren, dass der relativ spontane und unkontrollierte Shutdown der Wirtschaft, wie er vom März bis April 2020 stattfand, einen größeren volkswirtschaftlichen Schaden nach sich gezogen habe, als ein geplanter und konsequenter. Zugleich konstatieren sie, dass letzteres jedoch durch die Wachstumslogik und dem Demokratiedefizit in der Wirtschaftssphäre im Kapitalismus unmöglich sei. Die Autor:innen kritisieren in diesem Zusammenhang die EU als ein bankrottes transnationales Projekt. Es war laut ihnen zu keinem Zeitpunkt der Pandemie in der Lage die Strategien der Regierungen zu koordinieren. Darüber hinaus wurde von der EU bis Anfang 2020 an der neoliberalen Wirtschaftspolitik festgehalten und ab März des selben Jahres sind finanzielle Zuschüsse in unvorstellbarer Höhe in Wirtschaft und Finanzsektor geflossen. Dies begünstige laut den Autor:innen eine weitere anhaltende und vermutlich sich zuspitzende Austeritätspolitik in der EU.

Im zwölften Kapitel (S. 204- 226) stellen die Autor:innen heraus, dass die sogenannte Corona-Krise mit den historischen Weltwirtschaftskrisen von 1873 und 1929 vergleichbar sei. Schon vor dem epidemischen Ausbruch des Virus habe sich eine weitere Wirtschaftskrise nach dem fragilen Aufschwung im Anschluss an die Finanz- und Eurokrise (2011-2015) abgezeichnet. Deshalb konstatieren die Autor:innen: „Auch ohne die Corona-Epedemie hätte es eine weltweite Rezession und wohl auch die Gefahr einer tiefen Krise mit Finanzcrash gegeben“ (S. 206). Damit argumentieren sie wieder stichhaltig gegen das ideologische Narrativ, dass das Virus als externer Faktor ausschließlich für die gegenwärtige Krise ursächlich sei. Welche Auswirkungen die Krise hat, ist letztlich laut den Autor:innen auch eine Frage des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Um dieses zugunsten der Subalternen zu verschieben, benötige es laut den Autor:innen soziale Bewegungen an der Basis, deren Verbundenheit mit den Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Zwar gebe es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches noch keine kapitalismuskritische Massenbewegung von unten, aber die Autor:innen betonen, „[…] dass sich solche Bewegungen in Krisen wie der gegenwärtigen schnell aus einzelnen Kämpfen entwickeln können und dass dann hinsichtlich Erfolg und Misserfolg eine Rolle spielt, ob ein solcher Kampf auf ein 'schwaches Kettenglied' in der kapitalistischen Herrschaft trifft“ (S. 226).

Im dreizehnten Kapitel (S. 227–261) unterbreiten die Autor:innen eine programmatische Perspektive, um auf die multiple Krise zu reagieren. Diese Perspektive fußt auf fünf Säulen:

  1. Säule: Strategie die Pandemie einzudämmen
  2. Säule: Grundlegender Umbau des Gesundheitssystems
  3. Säule: Substantielle Umverteilung des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums
  4. Säule: Solidarität von lokaler bis globaler Ebene
  5. Säule: Sozialökologische Transformation bis zum ökosozialistischen Bruch

Damit wollen sie eine Diskussion zu einem „solidarischen Dringlichkeitsprogramm zur Bekämpfung der Ausbreitung des Corona-Virus anregen“ (S. 228).

Im vierzehnten Kapitel (S. 262–268) machen die Autor:innen deutlich, dass es aus einer emanzipatorischen Perspektive notwendig ist, die Pandemie und ihre Einbettung in die gesellschaftlichen Verhältnisse im öffentlichen Diskurs kritisch zu beleuchten. Dafür erörtern sie drei Gründe: Erstens seien die Länder in der Peripherie am stärksten von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Zweitens „[…] handelt es sich um ein Geschehen, bei dem die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems und dessen Unfähigkeit, elementaren menschlichen Bedürfnissen selbst für die Menschen im globalen Norden gerecht [zu] werden, in besonders krasser Weise – erkennbar für hunderte Millionen Menschen – dokumentiert wird“ (S. 263). Drittens handelt es sich bei der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus um eine multiple Krise, welche womöglich die tiefste Zäsur in der Menschheitsgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg darstellt.

Die Autor:innen nehmen wahr, dass der Staat zuweilen gezwungen war, den Kapitalinteressen zu widersprechen, um den Gesamtreproduktionsprozess der Nationalökonomie nicht zu gefährden. Zugleich machen sie wieder deutlich, dass die Staatshandlungen nicht ausschließlich von regierenden Akteur:innen entschieden werden, sondern auch eine Frage des Kräfteverhältnisses der Klassen und des Drucks von unten bleibt. Deshalb sei laut ihnen eine bewegungsförmige Organisierung der Lohnabhängigen notwendig. Die Autor:innen schließen ihr Buch mit einem Appell: „Darum gilt es umgehend, die Weichen für einen Bruch mit dem kapitalistischen Akkumulations- und Profitzwang und für eine umfassende Umgestaltung unserer Gesellschaft zu stellen. Es geht darum, zu einer Gesellschaft zu kommen, die weniger und bedürfnisgerecht produziert, ihren Stoffwechsel mit der Natur vernünftig organisiert, gerecht teilt, die soziale Reproduktion kollektiv organisiert und in der die Menschen gemeinsam entscheiden. Das ist eine ökosozialistische Gesellschaft“ (S. 268).

Diskussion

Die analytische Einflugschneise einer Kritik der politischen Ökonomie erscheint als notwendiges Korrektiv zu vorherrschenden Diskursen, welche die Pandemie lediglich als externen Schock abhandeln und die Funktionslogik und Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise nebensächlich oder gar nicht thematisieren. Gleichzeitig versuchen die Autor:innen ihre Analyse so global wie möglich darzustellen. Es liegt deshalb auf der Hand, dass einerseits verschiedene Aspekte nur kurz anskizziert oder angedeutet werden können. Deshalb entsteht hin und wieder nur einen oberflächlichen Eindruck über die globale gesellschaftliche Entwicklung zu erhalten. Andererseits schaffen es die Autor:innen dadurch den Leser:innen einen Gesamtüberblick zu verschaffen, welcher je nach Schwerpunkt mit weiterführender Literatur vertieft werden kann. Besonders positiv hervorzuheben sind die eingebauten Exkurse zu verschiedenen Themen, zum Beispiel die Entwicklung des Gesundheitssektors oder der Neuinfektionen (N) und Reproduktionszahl (R), welche die Argumentation und Darstellungsweise der Autor:innen auch ohne Vorkenntnisse nachvollziehbar werden lassen. Insgesamt bietet das Plädoyer deshalb einen kritischen Einstieg in die Thematik.

Es zeichnet die Entwicklung der Pandemie vom Ausbruch der ersten Corona-Positiv-Fälle bis zur globalen Ausbreitung Mitte 2020 nach und bewertet diese. Damit bleibt die Schrift zwar eine gewisse Momentaufnahme einer sich fortwährend weiterentwickelnden Situation, dennoch bleiben verschiedene Thesen der Autor:innen aus heutiger Sicht weiterhin aktuell: Denn nach wie vor handeln die europäischen Staaten primär im Interesse der Wirtschaft und nur sekundär in Interesse der Gesundheit des Großteils der Bevölkerung. Auch ihre Mahnung hat sich bestätigt, dass bei keiner nachhaltigen politischen Intervention, vor allem in der Wirtschaftssphäre, weitere Ausbreitungswellen folgen würden. Das Plädoyer bleibt deshalb auch gegenwärtig lesenswert und bietet den Leser:innen nicht nur eine Kritik an den politischen Interventionen, sondern entwickelt daran auch eine grundlegende Gesellschaftskritik der kapitalistischen Produktionsweise.

Ihre Argumente einer notwendigen Transformation über die Funktionslogik des Kapitalismus hinaus, hin zu einem Ökosozialismus sind schlüssig und werden auch von anderen kapitalismuskritischen Autoren geteilt (vgl. Zelik 2020, vgl. Deppe 2021, vgl. Dörre 2021, vgl. Eva von Redecker 2021 ff.). Die von ihnen aufgeworfene strategische Perspektive, dass nur eine kapitalismuskritische Organisierung von unten in der Lage wäre genug (Gegen-)Macht aufzubauen, um diese Transformation umzusetzen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Ihre Argumentation, warum sie diese Strategie für entscheidend halten, ist schlüssig und nachvollziehbar. Jedoch blieben solche progressiven sozialen Bewegungen, welche eine antikapitalistische Mobilisierungsmacht entwickeln könnten, bis jetzt in Europa größtenteils aus (vgl. Friedrich 2021). Zwar existieren einige, aber eine im weitesten Sinne ökosozialistische Bewegung von unten lässt sich gegenwärtig nicht erkennen. Stattdessen gewinnen auch hierzulande verschwörungstheoretische und rechte Mobilisierungen an Stärke (vgl. Müller 2021). So wünschenswert eine solidarische gesellschaftliche Organisierung von unten auch wäre, sie wird sich vermutlich nicht nur durch eine Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entwickeln. Hinzu kommt erschwerend, dass auch schon vor der Pandemie demobilisierte Klassengesellschaften in den westlichen Ländern diagnostiziert wurden, welche die mannigfaltige Linke vor langfristige Aufgaben stellt (vgl. Dörre 2020: 24 ff.). Es bleibt daher eine offene Frage des Plädoyers wie kapitalismuskritische soziale Bewegungen von unten entstehen und welchen Beitrag bestehende progressive Akteure dafür im Hier-und-Jetzt leisten könnten. Gramsci´s organische Intellektuelle, als Vermittlungsakteure und organisierende Kraft könnten diese Leerstelle füllen und eine Orientierung bieten, worauf auch Deppe in seinem aktuellen Buch Sozialismus hinweist (vgl. Deppe 2021: 348 f.). Andere Autor:innen wie Malm sehen mehr strategisches Potenzial in der Eroberung der Staatssphäre – einem ökologischen Leninismus – um transformative Entwicklungspfade zu ermöglichen (vgl. Malm 2020: 222 ff.). Für eine Diskussion über die möglichen Wege hin zu einer ökologischen und sozialen Gesellschaft offenbart die Schrift zwar eine Option, diskutiert jedoch wenig andere strategische Möglichkeiten. Dennoch leisten die Überlegungen einen bereichernden Beitrag für eine linke Strategiedebatte.

Fazit

Das Buch ist eine lesenswerte analytische Momentaufnahme der globalen gesellschaftlichen Entwicklung bis Mitte 2020 und stellt zugleich einen wertvollen Versuch dar, durch das Aufzeigen der inhärenten Widersprüche des Kapitalismus und deren Kulmination im Kontext der Corona-Pandemie, Eckpunkte einer ökosozialistischen Transformation aufzuzeigen. Das Buch eignet sich als Einstiegswerk, weil es einen kritischen Gesamtüberblick über die damalige Situation bietet. Zugleich entwerfen die Autor:innen eine Skizze für eine progressive Perspektive mit utopischen Überschuss. Deshalb kann es als eine Bereicherung für die Diskurse einer kritischen Politikwissenschaft bewertet werden.

Literatur

Deppe, F. (2021): Sozialismus. Geburt und Aufschwung – Widersprüche und Niedergang – Perspektiven. Hamburg: VSA Verlag.

Dörre, K. (2020): In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Dörre, K. (2021): Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.

Friedrich, S. (2021): Ohnmächtig wie die Linke ist in dieser Pandemie niemand. online verfügbar https://www.freitag.de/autoren/​der-freitag/​ohnmaechtig-wie-die-linke-ist-in-dieser-pandemie-niemand; zuletzt aufgerufen am 30.12.2021.

Malm, A. (2020): Klima/x. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.

Müller, B. (2021): Corona-Proteste: Schnittmengen zwischen den Beteiligten Milieus. online verfügbar https://www.heise.de/tp/features/​Corona-Proteste-Schnittmengen-zwischen-den-beteiligten-Milieus-6311527.html; zuletzt aufgerufen am 30.12.2021.

Zelik, R. (2020): Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Rezension von
Christopher Grobys
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Zitiervorschlag
Christopher Grobys. Rezension vom 07.02.2022 zu: Verena Kreilinger, Winfried Wolf, Christian Zeller: Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie. PapyRossa Verlag (Köln) 2020. ISBN 978-3-89438-739-6. Reihe: Neue kleine Bibliothek - 293. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28080.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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