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Matthias Wieser: Medienkultur als kritische Gesellschaftsanalyse

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.03.2021

Cover Matthias Wieser: Medienkultur als kritische Gesellschaftsanalyse ISBN 978-3-86962-521-8

Matthias Wieser: Medienkultur als kritische Gesellschaftsanalyse. Festschrift für Rainer Winter. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2021. 720 Seiten. ISBN 978-3-86962-521-8.
Reihe: Alltag, Medien und Kultur - 18.

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Der Brückenschlag zwischen Sozial- und Kulturwissenschaft

Individuelle, kollektive, lokale und globale Veränderungsprozesse im existentiellen, kulturellen, moralischen und ethischen Leben der Menschheit bestimmen die Conditio Humana. Es ist der notwendige, natürliche und humane Perspektivenwechsel, der das bestimmt, was in der „Globalen Ethik“, der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948), als oberste Prämisse des erdbewussten und kosmischen Menschseins postuliert wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Der mit dem Sammelband geehrte Rainer Winter kann zu einen der deutschsprachigen Wissenschaftler gezählt werden, die im anglophonen Raum entwickelten Theorien und Praxen der „Cultural Studies“ als kritische Theorie und Gesellschaftsbetrachtung aufgenommen und eingeführt haben. Wie in der Moderne umgehen mit Wandlungsprozessen? Die Kulturwissenschaften bieten dafür differenzierte, interdisziplinäre Zugangsmöglichkeiten (Stephan Conerman, Hg., Was ist Kulturwissenschaft?, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12965.php).

Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Matthias Wieser und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Elena Pilipets, beide an der Universität in Klagenfurt tätig, geben den Sammelband „Medienkultur als kritische Gesellschaftsanalyse“ heraus. Sie lassen darin 56 Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die „die Rolle der Medien in der Gesellschaft als einen rationalen Prozess (verstehen)… Medien repräsentieren den Alltag nicht nur, sondern erzeugen ihn auch aktiv mit“.

Aufbau und Inhalt

Neben dem einführenden Text – „Vom eigensinnigen Gebrauch der Medien und anderen Dingen“ – durch das Herausgeberteam, wird der Sammelband in vier Kapitel gegliedert und mit einem Nachwort des Geehrten abgeschlossen: Im ersten Kapitel – „Cultural Studies als kritische Intervention“ – reflektieren 13 ExpertInnen die Zielsetzungen und Zusammenhänge, wie sie sich in der qualitativen Sozialforschung zeigen, nämlich „dass das in der Theorie produzierte Wissen einen dekonstruktiven, situierten und performativen Charakter anstreben sollte“. Im zweiten Kapitel wird dezidiert auf „Film als Gesellschaftsanalyse“ eingegangen; zehn AutorInnen setzen sich damit auseinander. Im dritten Kapitel thematisieren elf Fachleute „Digitale Medienkultur und die Transformation der Öffentlichkeit“. Und im vierten Kapitel setzen sich 14 WissenschaftlerInnen mit Aspekten von „Widerspenstige(n) Kulturen und (der) Politik populären Vergnügens“ auseinander.

Lawrence Grossberg von der University of North Carolina macht sich mit dem englischsprachigen Text „In Defense of Critique in Desperate Times“ auf die Suche nach (Aus-)Wegen aus den nationalen und internationalen Wirrnissen der Jetzt-Zeit: „We need to find ways to go on thinking, ways that enable us to live with difference, ways of organizing the chaos of multiplicities, without succcumbing to new forms of political absolutism, fundamentalism and authoritarinanism“.

Der Medienwissenschaftler von der University of Tampere, Mikko Lethonen, fragt in dem ebenfalls englischsprachigen Beitrag – „A Crisis of Truth or What?“ nach Wahrheiten, Wirklichkeiten und Fake News: „Knowledge and truth are always both continent and real… So… the crisis of knowledge is … a crisis of comensuration“.

Der Soziologe von der University of London, Mike Featherstone, stellt „Reflections on Aesthetic Cosmopolitanism“ an: „Aesthetic cosmopolitanism opens up a number of agendas that could potentially take us beyond global consumer culture“.

Der Kunstwissenschaftler von der University of Southampton, Ryan Bishop, bringt mit seinen Überlegungen – „Adventures in Analog/​Digital/​Post-Digital Making and Theory: Art, Technology, Media“ – Licht in den „rollback oft he possibility of alternative epistemologies and politics in the contemporary moment“.

Scott Lash, ebenfalls Soziologe und Kulturwissenschaftler von der Londoner Universität, knüpft mit seinem Beitrag – „Critical Theologie, Chinese Virtue“ – an Rainer Winters wissenschaftliche Arbeiten über die unterschiedlichen, morgen- und abendländischen, ontologischen Wertevorstellungen an.

Der chinesische Kulturtheoretiker von der „Chinese Academy of Social Sciences“ Jin Huimin, nimmt den interkulturellen Diskurs mit dem Beitrag „‘Es gibt Sein‘ in the Course of Time: Ecological Dialogism and the Paintings of HuijianYu“ auf und verweist auf gleichlautende globale und unterschiedliche lokale Zusammenhänge.

Der Londoner Bildende Künstler und Philosoph Zeigam Azizov argumentiert mit dem Beitrag „Contingeny of Cultures, Cultures of Contigency“, dass „culture is contingent, and that culture ist he conditionv of ist own making“.

Die Klagenfurter Kommunikationswissenschaftlerin Brigitte Hipfl fragt „What is going on“, indem sie die „Herausforderungen für die Praktiker*innen der Cultural Studies“ diskutiert. Sie zeigt in Fallbeispielen auf, wie kollektive, wissenschaftliche Reflexionen und Analysen konfrontativ, kontrovers und konkret zum Ausdruck kommen.

Der Augsburger Soziologe Reiner Keller verdeutlicht mit dem Beitrag „Diskurskulturen der Gegenwart zwischen Absperrung und diskursiver Kosmopolitik“ die Perspektiven im wissenssoziologischen Denken. Er verweist darauf, „dass einerseits eine Auflösung bestehender moderner Diskursordnungen beobachtet werden kann, die zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherungslage führen…, andererseits Formen der Umordnung…“ entstehen lassen.

Der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril geht mit dem Beitrag „Migrationsforschung als Kritik“ auf die pädagogischen und erziehlichen Herausforderungen ein. Es sind die ambivalenten Motive und Möglichkeiten der Macht-, Herrschafts- und Dominanzausübung, die in der kritischen Migrationsforschung und Gesellschaftsanalyse gefragt sind.

Der Entwicklungspsychologe von der Hochschule Magdeburg-Stendal, Günter Mey, fordert: „Qualitative Forschung performativ denken“. Er zeigt auf, dass in der „Performativen Sozialwissenschaft“ analytisches und methodisches Arbeiten immer auch Erkenntnisinteresse und -prozess umfasst.

Der Magdeburg-Stendaler Medienwissenschaftler Marc Dietrich informiert mit dem Beitrag: „Visuelle Jugendkulturforschung als Ort der Vermittlung zwischen Qualitativer Forschung und Cultural Studies“ über inter-, transkulturelle und interdisziplinäre Forschungsarbeiten. Er zeigt auf, dass theoretische und praktische Elemente der Cultural Studies in der Jugendforschung ihren Platz haben.

Der Medienpädagoge von der Universität in Gießen, Alexander Geimer, erläutert mit dem Beitrag: „Soziomedial umkämpfte Subjektivität als Herausforderung für die kritische Medienpädagogik“, wie bei (öffentlichen) Videos, You-Tube-Clips und Apps „De-/Codierungen, die Kontingenzerfahrungen und Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen ermöglichen“, aber auch Ambivalenzen verdeutlichen.

Den zweiten Teil beginnt Rainer Winter mit dem aufgezeichneten Gespräch, das er 2012 mit dem Trierer Soziologen Alois Hahn über „Soziale Wirklichkeiten des Films“ geführt hat. Es ist ein Umkreisen von Theorie- und Praxisaspekten, die im wissenschaftlichen Diskurs geplant und als Trial und Error-Elemente hervortreten.

Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin von der Universität Mannheim, Angela Keppler, erweitert die filmanalytischen Fragestellungen mit dem Beitrag: „Über die Deutung von Deutungen“. Deutlich wird: „Die normativen Perspektiven der jeweiligen Filme und Filmfamilien können nicht ohne Rückgriff auf eigene ästhetische und politische Bewertungen und deren Befragung erfasst werden“.

Carsten Heinze von der Universität Hamburg berichtet mit dem Text „Aktuelle Perspektiven der deutschsprachigen Filmsoziologie“ über Zielsetzungen und Erfahrungen, wie sie bei den Diskursen in der von der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ etablierten „AG Filmsoziologie“ deutlich werden.

Der Bremer Medienwissenschaftler Irmbert Schenk bekundet mit seinem Beitrag „Paralipomena zur Filmanalyse“ seine (nachholenden) Eindrücke und Einflüsse über seinen „Lieblingsfilm“: Agnès Vardas „Le bonheur“ (1964). Es ist ein „Loblied der Ambivalenz“, das im Diskurs über Filmanalyse angestimmt und danach gefragt werden kann und muss, welche „kontextuelle Faktoren kultureller, politischer (psychologischer, JS) und soziologischer Natur die Produktion sowie die Erfahrung und das Erleben von Filmen bestimmen“.

Marcus Stieglegger von der Berliner DEKRA-Hochschule für Medien, setzt sich im Beitrag „Begehrte Objekte, exponierte Körper. Blick, Macht und Warenfetisch im Genrekino“ mit den Körperdarstellungen im Film auseinander. An Beispielen verdeutlicht er die Zusammenhänge und Konstruktionen des Körpers als Ware; etwa im Film „Goldfinger“, wenn durch Macht-, Kapital- und sexuelle Gefühle der Wert und die Existenz nur noch auf sich selbst verweist.

Die Salzburger Soziologin Kornelia Hahn zieht mit dem Beitrag „‘The Sound of Love‘. Zur Diffusion von Liebescodierungen zwischen Salzburg und Hollywood“ Parallelen. Es ist die historische Verbindung zwischen Maria und Georg von Trapp, die im Film „Sound of Music“ exemplarisch für filmische Liebesdarstellungen stilisiert wird und Fragen zur Rezeptionsanalyse aufwirft.

Die Mediensoziologin Anja Peltzer greift mit ihrem Text „Into the Wild – Vom filmischen Blick auf Gesellschaft“ die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen „um den fiktiven Film als soziale Tatsache“ auf. Sie analysiert den Film von Scan Penn „Into the Wild“ aus dem Jahr 2007. „Filme sind Speicher des Zeitgeistes. Sie spielen mögliche Handlungswirklichkeiten durch und etablieren darüber Reflexionsflächen für die sozialen Begebenheiten, aus welchen sie hervorgegangen sind“.

Der Friedrichshafener Kommunikations- und Kölner Sportwissenschaftler Jörg-Uwe Nieland referiert über „Visuelle Sportkultur“, indem er filmsoziologische Betrachtungen über den Motorsport anstellt. Es sind Anregungen, in der „Medialisierung des Sports“ die bei den Cultural Studies fokussierten Aspekte einzubeziehen.

Der Potsdamer Filmwissenschaftler Lothar Mikos kritisiert mit dem Beitrag „Netflix und digitaler Plattform-Kapitalismus“ Macht und Wirkungen des globalen und hybriden Online-Streaming-Dienstes und deckt die sich im Umlauf befindlichen und gesteuerten Mythen: „Netflix verändert das Fernsehen insgesamt nicht, es verändert die Distribution“.

Die Klagenfurter Medienexpertin Daniela Bruns analysiert mit dem Text „Androiden als Spiegelung der Menschen“ die Strukturen, Inhalte und Aussagen des Videospiels „Detroit: Become Human“. Die zunehmende Popularität und Nutzung von Videospielen hat auch deren wissenschaftliche Erforschung befördert. Die Analyse zeigt, dass Vergleichs- und Erlebensmaßstäbe zwischen menschlichem realen und maschinellem virtuellen Vorstellungs- und Verhaltensweisen fließend sind.

Das dritte Kapitel beginnt der Soziologe Tilmann Sutter von der Universität Bielefeld mit dem Beitrag: „Massenkommunikationsforschung im Zeitalter des Internets“. Öffentlichkeitswirkungen, Einflüsse und Manipulationen bedingen, dass „die massenmedial hergestellte Öffentlichkeit ( ) nicht durch internetgestützte Formen der Öffentlichkeit abgelöst oder tiefgreifend umgewälzt, sondern durch weitere Formen von Öffentlichkeit ergänzt (wird)“.

 Der Kulturanthropologe von der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Manfred Fassler, präsentiert mit dem Beitrag „Konformitätsmaschinen“ Notizen „aus dem Zettelkasten der Digitalisierungskritik“. Es sind nachdenkenswerte und notwendige Hau-Rucks, die im kritischen Mediendiskurs einbezogen werden sollten, wie z.B. Einstellungen und Mentalitäten: „Mach, was du willst“ – „Anpassung statt Widerstand“ – „Eigensinn“ – „Gültig- und Wertigkeit“ – „User-Blase“…

Udo Göttlich von der Zeppelin-Universität liefert eine „Skizze zu einer Ortsbestimmung der Mediensoziologie im Medienwandel“. Er thematisiert die vielfältigen traditionellen und neuen Wandlungsprozesse und stellt in fünf Thesen die auf das Individuum und das Kollektiv bezogenen Veränderungen fest: Soziologische und soziale Interdependenzen – Sprachverwirrung – Handlungsutopien – Kommunikationsfallen und -sperren – Kooperation und interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Der Medienwissenschaftler von der Universität Basel, Klaus Neumann-Braun, bringt als Beispiel für fortschreitende Deregulierung des klassischen Rezeptionsmodells vom ‚produktiven ‚Zuschauer‘ „Fake News oder de(n) Verlust von Vertrauen und Gemeinwohlorientierung“ ins Spiel. Es sind die „Deepfakes“, die das Selbstdenken und die Objektivität im öffentlichen Umgang der Menschen miteinander stören und behindern.

Die Mediensoziologen Karsten Pieper und Josef Wehner, beide an der Universität in Bielefeld tätig, diskutieren mit dem Beitrag „Politik der Verdatung“ die positiven und negativen Entwicklungen, wie sie sich seit dem „digital turn“ der Massenmedien vollziehen. Es sind markt-, kapital- und konsumbezogene Vermessungen und Verdatungen, die Nutzerinnen und Nutzer von Online-Angeboten zu Statisten und Verfügungsmassen machen können.

Die Mediensoziologin Nicole Zillen und der Konsumforscher Gerrit Fröhlich setzen sich mit dem Beitrag „Maschinerien zur Herstellung von Zukunft“ mit Aspekten der digitalen Selbstvermessung im Wechselspiel zwischen offener Zukunft und geschlossenen Daten auseinander. Anhand von zwei Fallbeispielen werden die verfügbaren und genutzten Technologien der Selbstvermessung und -information diskutiert. Im Zusammenspiel von technischer und sozialer Praxis „gewinnt … eine neue ‚Produktivkraft‘ an Kontur: ein kulturell mitgeprägtes Repertoire an Wissen und Können, das die Verbindung zwischen technischer Vorgabe und praktischer Nutzung herstellt und rahmt“.

Der Oldenburger Interaktions- und Kommunikationstheoretiker Stefan Müller-Doohm macht sich Gedanken zum „Tabu, zum Geheimnis und zum Privaten“. Es sind die grenzenlosen, verschwimmenden und vergessenen Sphären des Eigenen, Intimen mit dem Öffentlichen, Präsenten, die zur Zerstörung des Objektiven und Sozialen führen können und Aufklärung verhindern: „Sind die Subjekte erst einmal massenhaft geoffenbart, das heißt geheimnislos, geht die soziale Bindungsfähigkeit verloren“.

Der Trierer Soziologe Roland Eckert greift mit seinem Beitrag „Individualisierung, Emotionen und politische Konflikte im Wandel der Medien“ die Veränderungsprozesse bei individuellen und gesellschaftlichen Einstellungen und Verhalten auf. Er stellt zwei Nähe-Distanz-Theorien gegenüber: Martin Heideggers Auffassung von Nähe als „räumliche Nachbarschaft“ (1950), und Vilem Flussers „selbstgewählte Bindung“ (1991). Die Hoffnung, dass im Zwist zwischen individuellem und kollektivem Wollen und Sollen ein „Allmende“- (Gemeinwohl-)Bewusstsein entsteht, bleibt.

Die Siegener Medienwissenschaftlerin Dagmar Hoffmann diskutiert mit dem Zitat „Was sich alle wieder aufregen…“, Formen der Empörungskommunikation im Netz. Die „Sozialfigur des Empörers“, als einerseits notwendige, kritische, aktive und positive, demokratische Position von Teilnahme, wird andererseits als alles-verneinendes, zerstörendes Gegeneinander und „Ohne-mich-Verhalten“ zur gesellschaftlichen Gefahr.

Der Klagenfurter Kulturanthropologe Klaus Schönberger fragt mit seinem Zwischenruf „Kritik der Medienkritik“ danach, wer im ästhetischen und kulturellen Kapitalismus sich artikulieren und sprechen darf. Wie äußert sich Selbstrepräsentation? Welche system- und ordnungsbestimmten Realitäten befördern oder regulieren die kapitalistischen Status- und Machtkämpfe?

Die Klagenfurter Wissenschaftler, der Scientist Denis Voci und der Medienexperte Matthias Karmasin rufen auf: „Globalisierung revisited“. Sie zeigen auf, dass besonders die Digitalisierung des Medienbereichs durch Deterritorialisierung und Entmaterialisierung die Entwicklung der globalen Entgrenzung befördert hat. Es kommt darauf an, die medialen Wirksamkeiten human und menschwürdig zu gestalten, und zwar als „Media Governance und Media Accountability“.

Der Soziologe von der RWTH Aachen, Karl H. Hörning leitet den vierten Absatz ein mit dem Beitrag: „Der lange Atem der Theorie“. Er reflektiert und erinnert an den „langen Sommer der Theorie“, als der französische Autor Michel de Certeau (1925 – 1986) aufforderte zum „réemploi“: Umarbeiten, Anderswerden, Verschieben, Umformen, Wiederaneignen. Vergangenes Hoffen oder gegenwärtiges und zukünftiges Wollen?

Der Philosoph von der Universität Hildesheim, Andreas Hetzel, vermittelt mit dem Beitrag „Gehen als ästhetische Praxis“ die körperbezogene und geistige Bewegung des Homo erectus als „Praxeologie des Gehens“. Er nimmt dabei die Theorien und Praxen von Henry David Thorau (1817 – 1862), Walter Benjamin (1892 – 1940) und Michel de Certeau auf, als „widerständiges Gehen“ ( vgl. z.B. dazu auch: Karsten Michael Drohsel, Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20872.php ).

Der Philosoph von der University of North Florida, Hans-Herbert Kögler stellt mit dem Beitrag „Zur Logik des kulturellen Eigensinns“ einen hermeneutischen Zusammenhang zu den Cultural Studies her. Die Wintersche „Kritik der Macht“ verweist auf kultursoziologische und ontologische Verbindungen. Es sind reflexive und kreative Zugänge, in denen deutlich wird: „Kritische Hermeneutik rekonstruiert die sozialpragmatische Logik … und entfaltet aus der dialogischen Situation eine Anerkennung der irreduziblen moralischen Subjektivität“.

Die Kölner Erziehungs- und Kultursoziologin Julia Reuter und die Bielefelder Geschlechtersoziologin Diana Lengersdorf sind beteiligt an dem von der EU mit dem Motto „People are the Territory – Learn more“ initiierten wissenschaftlichen Kommunikationsprojekt „Performigrations“, mit den Stationen in Montreal (4/2015), Bologna (6/15), Klagenfurt (7/15), Vancouver (8/15), Athen (9/15), Toronto (10/15), Lissabon (2/16) und La Valetta (3/16). Es geht um die Auslotung von Möglichkeiten und Grenzen der Performativität beim Sprechen und Handeln, und, das ist die Erzählung der Autorinnen: Es geht (auch) darum, „überhaupt dabei zu sein!“.

Der Klagenfurter Waldorfianer Andreas Hudelist ist überzeugt vom „Eigensinn der Kunst“. Weil Cultural Studies davon ausgehen, dass die Welt, wie sie um und mit uns ist, mit, durch und von uns sozial konstruiert ist, kommt dem ästhetischen und künstlerischen Schaffen eine besondere Aussagekraft zu: „Dadurch sind Bildungsprozesse und Veränderungen möglich, die ‚nicht im Sinne einer revolutionären Umwälzung‘ zu verstehen sind, sondern als ‚oft kurze, räumlich oder zeitlich gebundene Akte der Selbstermächtigung‘“.

Der Klagenfurter Literaturwissenschaftler Peter V. Zima schlägt mit dem Beitrag „Zivilisation, Kultur und Rebarbarisierung“ den kommunikativen Bogen von Max Weber (1864 – 1920) hin zu Norbert Elias (1897 – 1990). Es ist der Diskurs, wie er sich von den ethnischen, nationalen hin zu den globalen Zivilisationsprozessen vollzieht, in der Spannweite von naturgegebenen und -abhängigen hin zu menschengemachten Übersteigerungen verläuft, und in der anthropogenen Falle landet?

Der Duisburg-Essener Politikwissenschaftler Manfred Mai erinnert an „Fünfzig Jahre nach Woodstock“ und fragt, was sie wollten, was sie wurden. Es ist der (notwendige und brauchbare) Mythos dieser historischen Phase der (vereinzelten?) Aufbruchstimmung, die „immer wieder aufs Neue dazu anregt, über Alternativen zur verwalteten Welt nachzudenken und dabei nicht zu vergessen, wie man daran erfolgreich scheitern kann“.

Der Kommunikationswissenschaftler und Texttheoretiker von der Berliner Universität der Künste, Thomas Düllo, greift mit seinem Beitrag „Pop-Artisten unter der Zirkuskuppel“ in das Pop-Archiv und setzt sich mit den musikalischen und ästhetischen Wirkungen auseinander, wie sie von Bob Dylan, Ronnie Lane und den Rolling Stones in Gang gesetzt wurden.

Der Paderborner Musikwissenschaftler Christoph Jacke nimmt mit dem Beitrag „‘Keine Gefangenen‘ oder ‚Hyper Hyper‘“ die Kommunikationsprozesse auf, wie sie sich in der gesellschaftlichen Transformation ereignen. In der sich immer interdependenter und entgrenzender (Einen?) Welt kommt der digitalen Vernetzung eine neue Herausforderung zu. Sie wurden und werden gedacht, kommuniziert und (scheiternd?) erhofft.

Der Erziehungswissenschaftler von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität, Olaf Sanders, setzt im Beitrag „Deleuze surft nicht, Dud kaum noch“, reale und virtuelle Surfbewegungsbilder zusammen. Es ist das Wellenreiten, und es sind die philosophischen Gedanken, was ein Surfer macht, wenn es keine Wellen gibt? Da bleiben nur Gedankenexperimente, die sich in der sibyllinischen Deutung ausdrücken lässt: „Eins sind Gehirn und Leinwand als zwei Seiten einer Falte“.

Der Klagenfurter Sozialphilosoph Sebastian Rauter-Nestler spürt mit dem Beitrag „Künstler im Sattel?“ Vorstellungen, Haltungen, Mythen, (Lebens-)Kunst und Gouvernementalität in den Videos des Radsportlers Patrick Seabase nach. In den Aktivitäts-, (Re-)Produktivitäts-, Erlebens- und Machens-Ansprüchen kristallisieren sich „neoliberale Subjektivierungsstrategien“ heraus.

Der Soziologe Waldemar Vogelsang thematisiert „Brauchkulturelle Vergesellungen auf dem Land“, indem er auf Traditionspflege und populärem Event verweist. Es sind „Orte der Geselligkeit und Produktion beziehungsweise Stabilisierung von Wir-Bewusstsein“ wirkenden Lebensbereiche, „Bühne für jugendeigene Selbstinszenierung und Gruppenpräsentation“ und „Treffpunkte und Begegnungsräume … zwischen Jung und Alt“ präsente Stätte.

Der Berliner Medien- und Kommunikationswissenschaftler Marcus S. Kleiner steuert mit seinem Beitrag „Leben in Szenen. Die Subkultur Psychobilly geht aus“, eine persönliche Erinnerung an (seine) Zeit der Jugend-Pop-Kultur bei, verbunden mit dem Hinweis, dass Cultural Studies nicht mit Popular Cultural oder Subcultural Studies gleichzusetzen seien. Er rät, „Jugendkulturen immer zunächst in ihren lokalen Kontexten zu betrachten, um herauszuarbeiten, wie sie sich eigensinnig und widerständig… funktionieren“.

Gewissermaßen als Nachwort zum Sammelband formuliert Carsten Winter von der Hannoverschen Hochschule für Musik, Theater und Medien eine Laudatio: „Rainer Winters offene, kritische, kollaborative und generativ interventionistische Medien-Kultur-Gesellschafts-Studien“. Es ist der Prozess der in den Cultural Studies grundgelegten, stabilisierten und veränderungsbewussten qualitativen Sozialforschung, die ein offenes, kritisches, kollaboratives, generativ interventionistisches, wissenschaftliches Denken und Handeln erfordert.

Diskussion

Festschriften zu runden Geburtstagen und Berufsjubiläen sind einerseits ehrenvolle Gaben für verdienstvolle, innovative und kreative WissenschaftlerInnen, andererseits können sie auch Bestandsaufnahmen und Rundblicke für deren Schaffen sein. Der 1960 in Karlsruhe geborene Psychologe und Kulturwissenschaftler vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt, Rainer Winter, kann in seinen beruflichen, akademischen Tätigkeiten auf Jahrzehnte aktiven, interdisziplinären Wirkens zurückschauen. Die zu seinem 60. Geburtstag von SchülerInnen, KollegInnen und Freunden vorgelegte Festschrift thematisiert und diskutiert seine wissenschaftlichen, theoretischen und empirischen Arbeiten zur Bedeutung des kulturellen und interkulturellen Denkens und Handelns im Gestern, Hier und Heute, und setzt sich mit den medientheoretischen und -praktischen Innovationen auseinander. Es ist die soziologische, psychologische und kulturelle kritische Gesellschaftsanalyse, die kulturelles Denken und Handeln in all den Imponderabilien und Widersprüchen aufnimmt.

Fazit

Der Sammelband gestaltet sich als eine presente Bestandsaufnahme für ein neuzeitliches Bewusstsein über Präsentationen, Wirkungen und Gefahren von medienkulturellen, lokalen und globalen Entwicklungen. Sie sind hilfreich für alle diejenigen, die in der medialen Welt den Lebenskompass für ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Dasein der Menschheitsfamilie nicht verlieren wollen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1575 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.03.2021 zu: Matthias Wieser: Medienkultur als kritische Gesellschaftsanalyse. Festschrift für Rainer Winter. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2021. ISBN 978-3-86962-521-8. Reihe: Alltag, Medien und Kultur - 18. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28093.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.


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