Kristin Kieselbach, Stefan Wirz et al. (Hrsg.): Multimodale Schmerztherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 01.07.2022
Kristin Kieselbach, Stefan Wirz, Michael Schenk (Hrsg.): Multimodale Schmerztherapie. Ein Praxislehrbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 560 Seiten. ISBN 978-3-17-034653-6. 99,00 EUR.
Thematischer Hintergrund
Parallel zu ähnlichen Entwicklungen in der Palliativ- oder Notfallversorgung hat sich auch die Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie (IMST) in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten sehr stark entwickeln können. Das vorliegende ‚Praxislehrbuch‘ ist ein gewichtiges Dokument für den erreichten Stand der Etablierung dieses teamorientierten Behandlungsansatzes. Es zeigt nun erstmals in einer umfassenden Weise den Stand der ‚grundlegenden Therapieform zur Behandlung schmerzkranker Patienten‘ (p. 28). Dazu konnten die Herausgeber über 50 ausgewiesene Fachleute für Beiträge gewinnen.
Herausgeber
Die drei Herausgeber – Kristin Kieselbach, Stefan Wirz und Michael Schenk – sind als ärztliche Schmerztherapeuten langjährig in eigener Praxis tätig. Sie arbeiten wissenschaftlich zum Themenkomplex ‚chronische Schmerzen‘ und engagieren sich in verschiedenen Fachgesellschaften und Fachbeiräten dafür, adäquate Versorgungsstrukturen für Menschen mit chronischen Schmerzen auf- und auszubauen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in 13 Kapitel gegliedert, der thematische Bogen reicht von den begrifflichen und geschichtlichen Grundlagen über die verschiedenen Versorgungsformen, die Beiträge der verschiedenen Disziplinen und die Besonderheiten von spezifischen Schmerzsyndromen bis hin zu gesundheitsökonomischen und versicherungsrechtlichen Aspekten.
Kapitel 1 leitet das Buch mit einer Zielbestimmung ein. In Deutschland gibt es 2,2 Millionen chronifizierte Schmerzpatienten, die einer IMST bedürfen. Das Ziel des Buches ist es, für deren Versorgung eine ‚praktische Handlungsgrundlage‘ zur Verfügung zu stellen. Dabei ist es dem Ansatz einer integrativen Medizin verpflichtet, die zu einer nachhaltigen und erfolgreichen Behandlung durch eine Überwindung des abgrenzenden und dichotomen Handelns in der Medizin kommen will.
Kapitel 2 zeichnet die Entstehung der IMST historisch nach. Mit dem Bedarf an Versorgung von Kriegsverwundungen begann Mitte des 20. Jahrhunderts ein Aufschwung der Schmerzmedizin. Der Anästhesist John Bonica erkannte in seiner Arbeit mit Veteranen die Unzulänglichkeit von isolierten medizinischen Behandlungsansätzen und entwickelte erste Konzepte einer IMST. Er war auch der Gründungspräsident der IASP (International Association for the Study of Pain), die heute die bedeutendsten Fachzeitschriften zur Schmerzbehandlung herausgibt. Inhaltlich entwickelten sich die Konzepte von der unimodalen zu multimodalen und von der monoprofessionellen über die multiprofessionelle zur interdisziplinären Versorgung mit den Kerndisziplinen der (Schmerz-)Medizin, der Physiotherapie und der Psychotherapie. Die erste Schmerzklinik in Deutschland wurde in Mainz 1970 eröffnet. Die Überlegenheit des interdisziplinären Ansatzes für die Bewältigung chronischer Schmerzen konnte vielfach gezeigt werden. Aktuelle Entwicklungen sind eine genauere Bestimmung der Abgrenzung der interdisziplinären von der multidisziplinären Arbeit, die Einbeziehung von Patienten und Selbsthilfegruppen sowie die Curriculum-Entwicklung für die verschiedenen Professionen.
Kapitel 3 behandelt den Begriff des chronischen Schmerzes als eigenständiger Erkrankung, die vom Akutschmerz abzugrenzen ist. Gegenüber letzterem hat der chronische Schmerz seine Warnfunktion verloren. Man spricht von chronischem Schmerz ab einer Dauer von drei Monaten. Er entsteht in einem Wechselspiel von somatischen, psychischen und sozialen Faktoren. Der Prozess der Chronifizierung wird durch ein Modell des Mainzer Schmerzmediziners Hans Ulrich Gerbershagen beschrieben. Die Forschung konnte eine Reihe von Prädiktoren der Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms erarbeiten, die als ‚Yellow Flags‘ bekannt sind. Zu ihnen zählen auch ein niederer Sozialstatus und die Lifestyle-Merkmale, die mit diesem überdurchschnittlich häufig verbunden sind.
Kapitel 4 erläutert das abgestufte Modell der Schmerzbehandlung ausgehend von der hausärztlichen Versorgung. Für die IMST werden die vollstationäre, teilstationäre und ambulante Form vorgestellt, wobei insbesondere das ambulante Modell über einige Pilotprojekte noch nicht hinausgelangt und in den aktuell gültigen Leistungskatalogen noch nicht monetär darstellbar ist.
Kapitel 5 ist mit Abstand das umfangreichste Kapitel des Buches. Es stellt die IMST als Umsetzung der standardisierten Behandlungsprozeduren der OPS-Codes 8-91c (teilstationär) und 8–918 (vollstationär) vor. Dabei wird auf medizinische Inhalte, ökonomische Rahmenbedingungen und formelle Regelungen eingegangen. Die einleitenden Beiträge erläutern detailliert die von den Codes geforderten Struktur- und Prozessbedingungen. Ab 5.4 steht das Assessment aus der Perspektive der beteiligten Professionen im Mittelpunkt. In 5.5 erläutern Vertreter der medizinischen Fachgebiete von der Anästhesiologie bis zur Rheumatologie ihren spezifischen Beitrag zur Diagnostik und Behandlung im Rahmen der IMST. Bei der Neurologie wird zum Beispiel eine besondere Kompetenz in der Diagnostik von Kopfschmerzen, bei der Psychiatrie in der Diagnostik und Behandlung von komorbiden psychischen Störungen hervorgehoben. Etwas außerhalb dieser Systematik werden im Beitrag zur Rheumatologie das Konzept und die Wirksamkeit der multimodalen rheumatologischen Komplexbehandlung (MRKB), eines parallelen OPS-Codes (8-983), vorgestellt. 5.6 behandelt die aktiven Therapieverfahren. Sie sind wegen ihrer Bedeutung für die aktive Krankheitsbewältigung in der IMST zu bevorzugen. Vorgestellt werden mit erheblicher Detailtiefe die Schmerzpsychotherapie, die Physiotherapie, Entspannungsverfahren, das sensomotorische Training, die Sporttherapie, künstlerische Therapien, das Biofeedback sowie der Beitrag der Pflegefachkräfte. Der Abschnitt zu den passiven Behandlungsverfahren – 5.7 – bietet einen kompakten Überblick über die Pharmakotherapie, die Massagetherapien, minimalinvasive operative Verfahren sowie Verfahren der Neuromodulation durch Stimulationsgeräte. 5.8 hebt die Bedeutung der Sozialberatung und der Patientenselbsthilfe in einem umfassenden Ansatz hervor. Die Sozialberatung vervollständigt das Angebot, um dem bio-psycho-sozialen Schmerzmodell zu entsprechen, sie stellt aber keine Forderung der OPS dar. Ihre gesetzliche Grundlage bezieht sie aus § 112 SGB V und den Landeskrankenhausgesetzen. Die alternativmedizinischen Ansätze der Anthroposophie und der Traditionellen Chinesischen Medizin bilden den Abschluss des Kapitels. Auch hier finden sich wieder detaillierte Angaben zum Beispiel zur Phytotherapie mit einer Anleitung zur Herstellung eines Schafgarbe-Leberwickels bei Lebermetastasen oder zu den Haupt- und Zusatzpunkten für die Akupunktur verschiedene Schmerzsyndrome.
Kapitel 6 behandelt das Thema der Kommunikation in der IMST. Es beginnt mit einer philosophischen Reflexion zu den Grundlagen der gelingenden Kommunikation und erläutert dann geläufige kommunikationspsychologische Konzepte. Der chronische Schmerz wird als existentielle Herausforderung charakterisiert, die eine ‚Schmerzarbeit‘ mit der Entfaltung von möglichen impliziten Sinngehalten der Schmerzerfahrung erfordert. Bezugspunkte sind hier die Arbeiten von Viktor von Weizsäcker, Viktor Frankl und Aaron Antonovsky. Für die Teamkommunikation wird eine aktive Feedback-Kultur empfohlen.
Kapitel 7 heißt ‚Prädiktoren für den Therapieerfolg‘. Im ersten Teil werden Zielkonflikte und ihre Bearbeitung beschrieben. Dabei geht es um die drei Konflikte mit den zentralen Themen ‚Sicherstellung von Sozialleistungen‘, ‚Nähe-Distanz-Regulation‘ und ‚Selbstwertstabilisierung‘. Der zweite Abschnitt stellt Outcome-Indikatoren vor, vor allem den Kerndatensatz aus dem Projekt KEDOQ-Schmerz, mit dem Ergebnisse für den Behandlungsverlauf in der Tagesklinik gezeigt werden. In interkultureller Perspektive werden im dritten Abschnitt Untersuchungen mit dem Persönlichkeitskonstrukt des ‚schmerzlichen‘ und ‚nicht-schmerzlichen Patienten‘ in verschiedenen Kulturen erläutert.
Kapitel 8 ist das zweite große Hauptkapitel des Buches. Es differenziert den Ansatz der IMST für die wichtigsten Schmerzerkrankungen: Nicht-spezifischer Kreuzschmerz, Kopfschmerzen, CRPS, chronische Tumorschmerzen bei Langzeitüberlebenden, psychosomatische Aspekte chronischer Schmerzen, Fibromyalgie, Schmerzen bei älteren Menschen sowie Sucht und medikamentös induzierten Schmerzen. Letztere sind ebenfalls mögliche Indikationen für eine IMST, Beispiele sind eine Opiatabhängigkeit oder ein durch Übermedikation induzierter Kopfschmerz. Dabei wird beispielsweise im Kapitel zum CRPS eine phänomenologische Schilderung gegeben, die Geschichte des Syndroms (Morbus Sudek und Kausalgie) wird knapp dargestellt, es folgen Abschnitte zur Epidemiologie, zur Klinik, kurz auch zur Pathophysiologie, zur relativ schwierigen Diagnostik und sodann zur Therapie. Hier wird einleitend die (magere) Studienlage resümiert, ehe die medikamentöse und die nicht-medikamentöse Therapie, die Psychotherapie und die invasiven Strategien bei CRPS besprochen werden. Auch neuere Therapiestrategien wie die pain-evoking physical therapy finden dabei Erwähnung. Der Einsatz der IMST beim CRPS bildet mit Hinweisen zur Prognose und einer ausführlichen Kasuistik den Abschluss.
Kapitel 9 geht auf finanzielle Aspekte der IMST aus der Sicht der Leistungserbringer ein. Hier wird gezeigt, wie die Einordnung in das DRG-System zu einem Fehlanreiz für kürzere Verweildauern in der stationären IMST führt, durch die bei schweren Chronifizierungen nicht geholfen werden kann. Mehrere Autoren zitieren hier einen empirischen Befund, nach welchem erst bei eine Behandlungsintensität von über 100 Stunden eine schwere Chronifizierung beeinflussbar wird. Um dieser Verkürzungstendenz gegenzusteuern hat die DSG einen Lösungsvorschlag erarbeitet, der u.a. eine Mindestbehandlungsdauer von 14 Behandlungstagen vorsieht. Für die Planungen des Krankenhausmanagements werden hier auch detaillierte Kostenanalysen der IMST vorgestellt.
Die Kapitel 10 und 11 geben Hinweise zur Dokumentation und Qualitätssicherung der IMST.
Kapitel 12 behandelt die Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst und die typischen Streitpunkte zwischen Leistungserbringern und Prüfdienst wie primäre und sekundäre Fehlbelegungen.
Das abschließende Kapitel 13 geht auf weitere Perspektiven ein. So wird die ICD-11 verbesserte Kodierungsmöglichkeiten für chronische Schmerzen bringen. Die strukturellen Probleme der transsektoralen Versorgung stehen dem Aufbau vor allem der ambulanten IMST entgegenstehen. Das Modell der SASV, der Spezialisierten Ambulanten Schmerzversorgung in Anlehnung an die SAPV könnte hier eine Verbesserung bringen.
Diskussion
Das Buch ist das erste umfassende Lehrbuch zum Thema. Medizinische, physiotherapeutische oder psychologische Lehrbücher zur Schmerztherapie gibt es seit langem, auch Bücher zur multimodalen Therapie einzelner Schmerz-Erkrankungen, aber die IMST in ihrer ganzen Breite darzustellen, das ist bislang nicht unternommen worden. Das ist das Neue dieses außerordentlich gelungenen Buches. Die Leistung der Herausgeber ist dabei enorm. Die Einwerbung einer so großen Zahl von Fachbeiträgen ist eine nervenaufreibende Tätigkeit. Die Redaktion, bei der allzu viele Wiederholungen vermieden werden müssen (ganz geht das aber nie) und vor allem die interdisziplinäre Leserschaft im Blick gehalten werden muss, kann auch nicht leicht gewesen sein. Wie gut vor allem die Ausrichtung auf Fachleute anderer Disziplinen gelungen ist, wird paradoxerweise genau dort deutlich, wo ein Autor, der Rheumatologe Uwe Lange, den interdisziplinären Anspruch des Buches einen kurzen Abschnitt lang völlig aus den Augen verliert und in seine spezifische Fachlichkeit abdriftet (p. 173). Das ist glücklicherweise nur einmal vorgekommen bzw. mir nur einmal aufgefallen. Aber man kann an diesem Ausrutscher sehen, wie schwierig es ist, ein Buch für eine interdisziplinäre Leserschaft zusammenzustellen, und auch wie schwer es überhaupt ist, über die Fachgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Das mit seiner geisteswissenschaftlichen Grundierung sehr schöne Kapitel 6 von Eduard Zwierlein zur Kommunikation in der IMST steht von daher nicht zu Unrecht in der Mitte des Buches.
Die Beteiligung der in Frage kommenden Disziplinen ist umfassend. Wie sehr hier ein ganzheitlicher Blick gelingt, zeigt sich auch darin, dass die soziale Seite angemessen berücksichtigt wird, obwohl die OPS-Codes, wie wir gesehen haben, das auf der Ebene der disziplinären Beteiligung gar nicht erfordern. Chronische Schmerzen sind in niedrigeren sozialökonomischen Milieus überrepräsentiert. Die Soziale Arbeit ist hier ebenso wie die anderen Disziplinen gefordert, mit ihren Mitteln zur Bewältigung von chronischen Schmerzen beizutragen, und findet daher zu Recht in dem Band einen Platz.
Auch der Blick auf die Rahmenbedingungen ist Teil der ganzheitlichen Sichtweise, die hier umfassend berücksichtigt wird. Die Schmerztherapie soll ja nicht nur Modell bleiben, sondern Versorgungswirklichkeit und Versorgungsstandard sein. Dafür müssen auch geeignete Rahmenbedingungen gewährleistet werden. Dass die aktuellen Fehlanreize die adäquate Versorgung eher behindern, obwohl äußerlich mit einem beinahe flächendeckenden Angebot an IMST die Versorgung sehr gut gesichert erscheint, ist eine wichtiger Befund. Daneben sind die Informationen, die aus ökonomischer Sicht im letzten Teil des Buches beigesteuert werden, für die Krankenhausgeschäftsführungen Gold wert. Auch diesem Teil ausreichend Platz eingeräumt zu haben, ist ein besonderes Verdienst des Buches und kann die nachhaltige Etablierung der IMST sehr stark fördern.
Die Darstellungsweise ist durchweg ansprechend. Überall findet sich eine befriedigende Detailtiefe trotz der Vielzahl der behandelten Aspekte. Sehr schön sind die gelegentlich eingestreuten Fallvignetten oder die Darstellung der Arbeitsproben aus der Kunsttherapie.
Einen einzigen kleinen Kritikpunkt möchte ich zu der Einteilung des Buches vorbringen. Die Aneinanderreihung der 13 Kapitel überzeugt mich nicht ganz. Eine Gliederung in drei oder vier Hauptabschnitten hätte ich übersichtlicher und orientierender gefunden.
Fazit
Das Buch ist eine umfassende und sehr überzeugende Präsentation des auch in sozialer Hinsicht hoch relevanten Themas der Behandlung chronischer Schmerzen. Es bietet in der Darstellung ein schönes Beispiel für eine gelungene interdisziplinäre Arbeit, die es auch inhaltlich mit dem Ansatz der IMST vertritt.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 01.07.2022 zu:
Kristin Kieselbach, Stefan Wirz, Michael Schenk (Hrsg.): Multimodale Schmerztherapie. Ein Praxislehrbuch. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-17-034653-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28094.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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