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Jochen Schweitzer, Christina Hunger-Schoppe et al.: Soziale Ängste

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 30.06.2021

Cover Jochen Schweitzer, Christina Hunger-Schoppe et al.: Soziale Ängste ISBN 978-3-8497-0195-6

Jochen Schweitzer, Christina Hunger-Schoppe, Rebecca Hilzinger, Hans Lieb: Soziale Ängste. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2020. 159 Seiten. ISBN 978-3-8497-0195-6. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: Störungen systemisch behandeln - Band 17.

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Thema

Thema dieses Buchs ist die systemische Behandlung von Menschen mit Sozialer Angststörung.

Systemische Therapie ist erst vor kurzen „Richtlinienverfahren“ geworden und unterwirft sich somit den Kriterien des wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie [1] zur Überprüfung ihrer Wirksamkeit. Dafür ist es notwendig, die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode, nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin zu erbringen. Zur Zeit bedeutet das, Studien durchzuführen, bei denen die StudienpatientInnen, randomisiert unterschiedliche Behandlungspfade zugewiesen, mit kontrollierten Interventionen nach einem Therapiemanual behandelt werden (RCT-Studien). Der Erfolg der Behandlung muss über alle Studienarme mit den gleichen standardisierten (oft psychometrischen) Verfahren erhoben werden; die statistische Wirksamkeit/​sogenannte Effektstärke wird dabei oft auschließlich auf der Grundlage von Symptomchecklisten errechnet. Dieses Verfahren stammt ursprünglich aus der Pharmatherapieforschung und soll verhindern, das nutzlose Medikamente auf den Markt kommen. Gegen diese Methode, die Qualität von Psychotherapie zu bewerten (und in Folge den Zugang von PatientInnen zu Hilfeangeboten zu ermöglichen oder zu erwehren), haben sich vor allem VertreterInnen der humanistischen und psychodynamischen Orientierungen heftig zu Wehr gesetzt, aber auch SystemikerInnen. Vor dem Hintergrund des drohenden Ausschlusses aus dem Leistungskatalog der sozialen Krankenversicherung haben nach und nach die psychotherapeutischen Fachgesellschaften nachgegeben und aufwändige Studien zur Evaluierung ihrer Verfahren ins Werk gesetzt.

Die Behandlung von Menschen mit Sozialer Angststörung wurde in den letzten Jahren in einer großen (fast 500 TeilnehmerInnen) randomisierten kontrollierten Therapiestudie (SoPhoNet) für die psychodynamische Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie untersucht.

Für den hier besprochenen Text werden die Ergebnisse der in den Jahren 2013-16 durchgeführten vergleichenden Untersuchung eines kognitiv-behavioralen mit einem systemischen Studienzweig verglichen (Sopho-CBT/ST) vgl. Hunger-Schoppe, Hilzinger, Schweitzer (vgl. Hunger et al. 2016). Neben diesen evidenzbasierten Daten bezieht der Text sich vor allem auf die jahrelangen Erfahrungen von Hans Lieb, verhaltenstherapeutischer und systemischer Therapeut, Dozent und Supervisor. Aus diesen Quellen speist sich das Heidelberger systemische Therapiemanual zur Behandlung Sozialer Angststörungen dessen Anwendung im Zentrum der hier besprochenen Arbeit steht.

Autor:innen

  • Jochen Schweitzer, Jg. 1954, Professor Dr. rer soc., Dipl. Psych, war Leiter der Sektion Medizinische Organisationspsychologie am Institut für Medizinische Psychologie; PP und KJP, veröffentliche zahlreiche Texte zum Thema Systemische Therapie und diverse Artikel, u.a. das maßgebliche Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung (2 Bände) zusammen mit Arist von Schlippe, Mitherausgeber der Zeitschrift Psychotherapie im Dialog.
  • Christina Hunger-Schoppe, Jg. 1976, Prof. Dr. phil, M. Sc., Dipl. Psych., ist Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Privatuniversität Witten/Herdecke. PP in VT und ST, Lehrtherapeutin in Systemischer Therapie (SG/DGSF); sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätskinikum Heidelberg.
  • Rebecca Hilzinger, Pädagogin (MA), wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung SozialpädagogikI der Universität Trier, systemische Beraterin und Therapeutin, KJP in Ausbildung, ist Doktorandin an der Uni Heidelberg, Institut für Medizinische Psychologie.
  • Hans Lieb, Jg. 1953, Dipl-Psych, Dr. phil., PP in VT und ST, arbeitet als niedergelassener Psychotherapeut, Dozent und Supervisor in VT und ST, Psychotherapiegutachter der KBV; zahlreiche Publikationen, Mitherausgeber der Reihe Störungen systemisch behandeln im Carl Auer Verlag.

Entstehungshintergrund

Die multizentrische Psychotherapiestudie Sopho-Net [2] wurde ursprünglich als RCT-Studie mit einem psychodynamischen Arm, einen kognitiv-verhaltenstherapeutischem Arm und mit einer unbehandelten Vergleichsgruppe durchgeführt. Sie belegte für das Störungsbild Soziale Angststörung die Wirksamkeit einer Kurztherapie von 25 Stunden mit vergleichbaren Ergebnissen, wobei die eigentliche Stärke psychodynamischer Behandlungen, nämlich die Nachhaltigkeit psychodynamisch erarbeiteter Wirkungen, nicht überprüft werden konnte, da psychodynamische Behandlungen in der Praxis beträchtlich länger dauern.

Das Ansinnen, die Ergebnisse zu replizieren in einer Gruppe randomisiert zugewiesener Patienten, die mit systemischer Therapie bzw. kognitiv behavioraler Therapie behandelt wurden, zielt auf eine erneute große RCT-Studie ab. Nach der Manualentwicklung erfolgte die Entwicklung eine systemischen Adhärenzskala, die die Manualtreue der Behandler kontrolliert (Phase 1) Es wurden (in Phase2) 38 Patienten in zwei Studienarmen behandelt. Die Systemische Behandlungsgruppe schnitt besser ab in den Dimensionen, Reduktion der Symptomatik und allgemeines psychosoziales Funktionsniveau. Beide Verfahren erwiesen sich als wirksam in der Potenz, sozialphobische Ängste zu reduzieren sowie das allgemeine, psychologische, interpersonelle und systembezogene (?) Funktionsniveau zu verbessern. Die Behandlungszeit war maximal 26 Stunden. In Phase 3 soll eine große RCT Studie entstehen: Ob diese Studie zustande kommt und wann die Ergebnisse publiziert werden, ist dem Rezensenten nicht bekannt.

Obwohl die eigentliche Hauptstudie aussteht, halten wesentliche systemische KlinikerInnen die Ergebnisse der Pilotstudie doch für so relevant, dass sie sich in ihrem Grundlagenwerk zur störungsspezifischen Behandlung sozialphobischer Patienen wesentlich darauf stützen.

Aufbau

Der Text ist in 6 Kapitel eingeteilt: Im ersten Kapitel werden soziale Ängste und Angststörungen beschrieben. Im 2. Kapitel werden Erklärungsmodelle Sozialer Angststörungen präsentiert, in einem kognitiv verhaltenstherapeutischem Modell, einem psychodynamischen Modell, einem systemischen und einem biologischen Modell. Im 3. Kapitel wird das Konzept der systemischen Therapie beschrieben, um dann 4. das Heidelberger Therapiemanual darzustellen; letzteres erfolgt auf 53 Seiten und nimmt somit ein Drittel des Buchumfangs ein. Im 5. Kapitel folgen zwei Falldokumentationen manualisiert behandelter Patienten und im 6. Kapitel wird die Wirksamkeit Systemischer Therapie bei Angststörungen erläutert.

Inhalt

Den Hauptteil des Textes nimmt das Heidelberger Therapiemanual zur systemischen Therapie der Sozialen Angst ein. Es umfasst die Beschreibung der 15 Sitzungen des dreiphasigen Manuals, die in Einzel- und Doppelstunden aufgeteilt sind. Es ist eine der Besonderheiten, dass in systemischen Sitzungen auch konkrete Situationen szenisch gespielt werden. Spezifische systemische Interventionen wie zirkuläres Befragen, Genogramm- und Skulpturarbeit, Hausaufgaben, aufsuchende Arbeit finden Raum.

Die Handlungsansätze sind denen in modernen VT-Interventionen sehr ähnlich; einige der beschriebenen systemischen Interventionen könnten gut in einer solchen Klinik als multimodalen Therapie auftauchen. Natürlich gibt es auch Besonderheiten aus der Tradition der Familientherapie, etwa die sehr genaue Auftragsverhandlung, die Familiengespräche, für die jeweils Doppelstunden vorgesehen sind, die genaue Bilanzierung (wurde das Ziel erreicht, was ist jetzt anders, woran merken Sie das?), das Verlassen des Behandlungszimmers.

Diskussion

Das erste systemische Therapiemanual, das ich gelesen habe, war Gunthard Webers und Helm Stierlins: „In Liebe entzweit“, die Heidelberger Familientherapie der Magersucht. Damals war ich so begeistert, dass ich mich für eine systemisch-familientherapeutische Ausbildung anmeldete. Wenn das neue Manual auch, der zeitgenössischen Versorgungslogik entsprechend, viel bürokratischer daherkommt, so hat es doch den Vorteil empirisch wesentlich solider geprüft zu sein (die evidenzbasierte Medizin scheint genau mit diesem Nachteil behaftet: Sie stört Spontanität und Lebendigkeit und führt selbst die „Nonkonformisten“ von früher ans Gängelband der Manualsierung).

Möglicherweise muss diese Restriktion für das Wohl der Allgemeinheit hingenommen werden wie ein Tempolimit auf der Autobahn.

20 Jahre nach meiner Erstlektüre habe ich auch eine psychoanalytische Weiterbildung absolviert und vermisse seitdem in der systemischen Arbeit das kleinteilige Durcharbeiten der Affekte in der Übertragung. Ich vermute inzwischen, dass systemische Therapie ausschließlich für PatientInnen geeignet ist, die auf einem ausreichend hohem psychischem Strukturniveau funktionieren. In meiner Praxis sehe ich häufig PatientInnen mit narzisstisch depressiven Entwicklungsstörungen und Identitätsdiffusion; die profitieren von 26-stündigen Therapien nicht ausreichend. Für diese Patienten wünsche ich mir eine Psychotherapieforschung, die sich mehr mit der Frage beschäftigt: „Was wirkt für wen“, wie sie Peter Fonagy schon vor 15 Jahren aufgeworfen hat. Therapiestudien die die Wirksamkeit der eigenen Methode zu belegen scheinen sind dabei nicht hilfreich.

Fazit

Das Buch ist jeder/m zu empfehlen, die/der sich mit den neuesten Ergebnissen evidenzbasierter systemischer Psychotherapie auseinandersetzen möchte, in diesem Fall anhand des wichtigen Störungsbildes Soziale Ängste. Vor allem für AusbildungskandidatInnen und StudentInnen der Psychotherapie wird das Werk wohl zur Pflichtlektüre werden. Ergänzt um online veröffentlichte Forschungsdaten, stellt die Studie auch einen Einstieg in die empirische Psychotherapieforschung aus systemischer Perspektive dar.

Literatur

Fonagy, Peter, Roth, Anthony (2004): What Works For Whom?: A Critical Review of Psychotherapy Research. 2. Auflage. Guilford Press, New York

Falk Leichsenring (2013): Interview mit dem Deutsches Ärzteblatt PP, 12, Heft 8/2013, Seite 340

Hunger, Christina, Rebecca Hilzinger, Laura Klewinghaus, Laura Deusser, Anja Sander, Johannes Mander, Hans Hinrich Bents, Beate Ditzen und Jochen Schweitzer(2017): Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben: Systemische Therapie und kognitive Verhaltenstherapie bei sozialer Angststörungen im Erwachsenenalter: Manualentwicklung und randomisierte Machbarkeitsstudie www.dgsf.org/themen/material-anerkennung/stellungnahme-dgsf-sg-systemische-therapie-2018

Leichsenring F, Salzer S, Beutel ME, Herpertz S, Hiller W, Hoyer J, Huesing J, Joraschky P, Nolting B, Poehlmann K, Ritter V, Stangier U, Strauss B, Stuhldreher N, Tefikow S, Teismann T, Willutzki U, Wiltink J, Leibing E (2013): Psychodynamic Therapy and Cognitive-Behavioral Therapy in Social Anxiety Disorder: A Multicenter Randomized Controlled Trial in: American Journal of Psychiatry 170 (759-767)

Weber, Gunthard und Helm Stierlin (1989): In Liebe entzweit. Die Heidelberger Familientherapie der Magersucht, Reinbek: Rowohlt


[1] Der von Ärzten und Psychologen paritätisch besetzte wissenschaftliche Beirat Psychotherapie stellt nach § 8 des Psychotherapeutengesetzes die wissenschaftliche Anerkennung eines psychotherapeutischen Verfahren fest, die sozialrechtliche Zulassung erfolgt dann u.U. im Gemeinsamen Bundesausschuss

[2] Die soziale Phobie ist die häufigste Angststörung in Deutschland; etwa zwei Prozent der Bevölkerung leiden darunter. Die Wirksamkeit der Psychotherapie hat nun der Forschungsverbund SOPHO-NET bestätigt. „Dabei handelt es sich um eine der größten Studien zur Psychotherapie weltweit“, sagte Prof. Dr. Falk Leichsenring von der DGPM und Leiter der SOPHO-NET-Studie (American Journal of Psychiatry 2013; 170:759– 767).

Für die multizentrische Studie hatten die Forscher 495 Patienten zufällig in drei Gruppen eingeteilt. Die Patienten der ersten Gruppe wurden neun Monate lang mit kognitiv-behavioraler Psychotherapie behandelt, die der zweiten mit psychodynamischer Therapie. Die dritte Gruppe blieb über sechs Monate unbehandelt – entsprechend den Bedingungen einer Warteliste. Im Ergebnis zeigten die beiden Psychotherapiegruppen mit 60 beziehungsweise 52 Prozent der Patienten Heilungsanzeichen in ähnlichem Umfang; bei der Wartelistengruppe waren es 15 Prozent. In beiden Therapiegruppen besserte sich auch die Depressivität. „Damit ist klar, dass beide Psychotherapien wirksam sind. Im Gegensatz zu einer medikamentösen Behandlung hält die Besserung auch noch zwei Jahre nach der Behandlung an“, vgl. Leichsenring 2013.

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 42 Rezensionen von Ulrich Kießling.

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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 30.06.2021 zu: Jochen Schweitzer, Christina Hunger-Schoppe, Rebecca Hilzinger, Hans Lieb: Soziale Ängste. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2020. ISBN 978-3-8497-0195-6. Reihe: Störungen systemisch behandeln - Band 17. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28105.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.


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