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Christoph Kolbe, Helmut Dorra: Selbstsein und Mitsein

Rezensiert von Dr. med. Joachim Gneist, 20.05.2021

Cover Christoph Kolbe, Helmut Dorra: Selbstsein und Mitsein ISBN 978-3-8379-3021-4

Christoph Kolbe, Helmut Dorra: Selbstsein und Mitsein. Existenzanalytische Grundlagen für Psychotherapie und Beratung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2020. 304 Seiten. ISBN 978-3-8379-3021-4. D: 32,90 EUR, A: 33,90 EUR.
Reihe: Therapie & Beratung.

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Thema

Die Aufsatzsammlung handelt von Autonomie und Begegnung der am Therapie- und Beratungsprozess Beteiligten. Die Autoren sind beide Schüler Viktor Frankls (1905 - 1997) und seit Jahrzehnten beruflich in Kontakt. Sinnsuche zur Lebenserfüllung lautet die zentrale Herausforderung in Existenzanalyse und Logotherapie. Das Buch zeichnet philosophische, theologische, mitunter auch soziologische Grundlinien nach, die ihren Ursprung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben (Scheler, Jaspers, Heidegger u.a.).

Aufbau und Inhalt

Im ersten Teil (S. 15 - 173) entfaltet Christoph Kolbe, Erziehungswissenschaftler und Psychologischer Psychotherapeut in freier Praxis in 11 Aufsätzen Grundgedanken und Prozessebenen in mehrdimensionaler Perspektive.

Der Eingangsaufsatz wird hier ausführlich referiert: Mit Zustimmung leben. Einführung in Existenzanalyse und Logotherapie (Kolbe ist Präsident deren Internationaler Gesellschaft). Frankl habe seine psychotherapeutische Anthropologie als Ergänzung zur herkömmlichen Psychotherapie gesehen, um deren Psychologismus zu korrigieren. Maßgeblich leiten den Menschen auch geistige Motive und sein Leiden am Sinnverlust. Dieser Ansatz wurde in der Humanistischen Psychotherapie weiterentwickelt, die phänomenologisch und prozessorientiert arbeite, mit Fokus auf Emotionalität. Vier Grundmotivationen seien dabei: überleben können, verbunden sein in Beziehung, entfalten des Selbstseins, im Kontext für etwas gut zu sein. Pathogenetisch gehe es um Rekonstruierung, dem Gehaltensein in der Welt zu vertrauen. Personale Existenzanalyse (Längle, 2000) kläre Sachverhalte, deren Erleben, den phänomenalen Gehalt und ein integriertes Handeln (S. 17–21).

Die Inhalte weiterer Aufsätze in Stichworten:

  • Entwicklung durch Selbsterkenntnis
  • Freiheit und Gebundenheit
  • Anthropologische Diagnostik
  • Person/Ich/Selbst
  • Kommunikation in Beratung und Therapie
  • Gesundheit als Fähigkeit zum Dialog
  • Emotion aus der Sicht Humanistischer Psychotherapie
  • Umgang mit psychodynamischen Blockierungen
  • Existenzanalytische Psychotherapie
  • Paar-Beratung und Behandlung

Kolbe resümiert: Im kommunikativen Prozess geschehe erlebtes emotionales Beteiligtsein, u.z. durch phänomenale Gehalte und Positionen, die der Mensch zu diesen Gründen beziehe (S. 77). Existenzanalytisches Arbeiten unterstütze die einzelne Person im Horizont ihrer freien Wahl, angstfreie handlungsorientierte Entschlüsse zu treffen und nicht in Wünschen oder Sehnsüchten stecken zu bleiben (S. 102 f.).

Den zweiten Teil (S. 181 - 302) verfasste Helmut Dorra, nach kaufmännischer Ausbildung studierter Philosoph, Theologe, Heilpraktiker für Psychotherapie und Akademieleiter. Hier in Stichworten die Inhalte seiner 9 Aufsätze:

  • Sich selbst erkennen und Mitsein des Menschen
  • Sorge für die Seele
  • Freiheit und Unverfügbarkeit der Person
  • Solidarische Gemeinschaft
  • Selbstwerden in Begegnungen
  • Hermeneutische Haltung im existentiellen Dialog
  • Grenzerfahrung Tod im Horizont der Zeit
  • Lebensgeschichtliche Perspektiven im Alter
  • Verstehende Pflege und Betreuung

Ausführlich wird nun der folgende Aufsatz referiert: „Sein zum Ende“. Grenzerfahrung im Hori-zont der Zeit. Leben stehe unter dem Vorbehalt der Endlichkeit. Eine Chronokratie der Be-schleunigung dominiere unser Leben. Sollte Flucht in die Zerstreuung vergeblich sein, könn-te uns tödliche Langeweile umgreifen. Es fehle an Werde-Erleben. Aus Heideggers „Sein und Zeit“ wird zitiert: Eine latente Grundbefindlichkeit offenbare das Faktum unseres endli-chen Daseins als drohendes Nichtsein. Dem gegenüber wird auf Frankl (1984) verwiesen: „Wir entscheiden in jedem Augenblick unseres Lebens darüber, auf welche Vergangenheit wir schauen werden.“ Unser Erleben verlange eine Haltung der Gelassenheit (S. 267–277).

Dorra hebt hervor: „Der Selbstsüchtige wirkt nicht in der Welt, sondern erwartet etwas von ihr. Sie ist zuständig für sein Wohlergehen. Die Welt soll ihm entgegenkommen, statt dass er sich ihr zuwendet. Darum sollten wir unterscheiden: Sorge um sich selbst aus einem Weltbezug – oder Sorge aus bedürftiger bzw. ängstlicher Besorgnis.“ (S. 216). „So erfüllen wir im Miteinander der Menschen, was uns von Gott geboten und aufgegeben ist: Hilfe, die in dreifacher Hinsicht wirksam werden kann: Treu und wahrhaftig dem Anderen gegenwärtig zu sein. Das heißt: >Ich stehe hinter dir!< Mitfühlend und verstehend an seiner Seite ihn begleiten. Das heißt: >Ich gehe mit dir!< Und fragend ihm verbunden bleiben. Das heißt: >Ich bin dir gegenüber!<.“ (S. 247).

Diskussion

Wer die 300 Seiten der 20 Essays samt Rahmenbeiträgen gründlich studiert, wird durch eine humanistische Denkwelt geleitet, wie sie in einer Neuerscheinung von 2020 nicht unbedingt zu erwarten ist. Viele in einander verschränkte Themen lesen sich erhebend, stellenweise Ehrfurcht gebietend. Am besonderen Sprachstil mag liegen, dass sie oft wie aus der Zeit gefallene Deutschaufsätze wirken.

Kritisch anzumerken ist, dass Zitate so prägender Jahrhundertgestalten wie Jaspers und Heidegger aus ihrem Zusammenhang gerissen werden – auf Kosten einer geistigen Durchdringung gerade für unsere Gegenwart. Zitiert wird nur aus Nachdrucken der letzten Jahrzehnte. Jaspers’ „Allgemeine Psychopathologie“ erschien schon 1913, seine „Einführung in die Philosophie“ als Radiovorträge nach dem Zweiten Weltkrieg, gedruckt 1953. Heideggers „Sein und Zeit“ (1928) wurde nie abgeschlossen. Diese Werke waren auch für Frankl relevant. Der Aufsatzsammlung mangelt es an einem Narrativ, wie der in Medizin und Philosophie promovierte Wissenschaftler zum Pionier der „Dritten Wiener Schule“ wurde. Soll Frankl als 22jähriger Medizinstudent Schelers „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ immer bei sich getragen und die persönliche Wertschätzung Jaspers’ und Heideggers gesucht haben. Welche Bedeutung hatte deren unterschiedliche Einschätzung und persönliche Erfahrung mit dem Nationalsozialismus für den Sinn suchenden Frankl? Wie kam es zur Trennung von Alfred Adler, die beide viel verband? Zeitbezug und Aufriss der „Wirkungsgeschichte“ (Gadamer) wären erhellend gewesen! Was war der geistige Motor im Menschen Frankl, der nach 1945 zur Versöhnung aufrief, nachdem der Holocaust ihn nicht nur durch vier Konzentrationslager zwang, sondern auch seiner Eltern und Ehefrau beraubte?

Es fehlen vor allem nachvollziehbare Anamnesen und Verläufe entsprechend logotherapeutischer Arbeit. Die Verlagsreihe aber lautet "Therapie & Beratung". Keiner der Aufsätze enthält Anamnesen und nachvollziehbare Therapieverläufe, die die logotherapeutische Arbeit veranschaulichen und diskutieren. Anspruchsvoll vorgetragene Rahmenrichtlinien belegen noch nicht die methodische Wirksamkeit für leidgeprüfte und Lebenserfüllung suchende Klienten und Patienten. Erst auf den letzten 2 Seiten wird übrigens klar, dass nur ein Viertel der Aufsätze Erstveröffentlichungen sind. Die übrigen sind Nachdrucke aus Fachzeitschriften der letzten 20 Jahre. 

Fazit

Dennoch kann Leserinnen und Lesern mit therapeutischer/​beraterischer Erfahrung – sei sie verhaltenstherapeutisch, szenisch-systemisch oder (psycho)analytisch – die Lektüre interessant genug erscheinen. Wie Kolbe und Dorra die beiden Grundthemen Nähe versus Distanz als eine Achse, und einzelne versus Gruppen als andere Achse logotherapeutisch und existenzanalytisch betrachten, kann unsere Arbeit anregen, in Konflikten und Krisen Mut machen. Ich-Aufbau und Solidargemeinschaft liegen den Autoren gleichermaßen am Herzen.

Rezension von
Dr. med. Joachim Gneist
Psychiater, Psychotherapeut, Evang. Theologe, Sachbuch- und Roman-Autor.
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Es gibt 23 Rezensionen von Joachim Gneist.

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ISSN 2190-9245