Friedrich Manz: Wenn Babys reden könnten!
Rezensiert von Prof. Dr. Ariane Schorn, 09.11.2022
Friedrich Manz: Wenn Babys reden könnten! Was wir aus drei Jahrhunderten Säuglingspflege lernen können.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2020.
2., überarbeitete Neu Auflage.
681 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2919-5.
D: 44,90 EUR,
A: 46,20 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.
Thema
„Wenn Babys reden könnten“, dann hätten sie uns vermutlich einiges zu den nicht selten fälschlichen Vorstellungen, die sich über die Natur und das Wesen von Säuglingen gemacht wurden und werden, zu erzählen. Leider waren und sind diese Vorstellungen nicht folgenlos, sondern ziehen aus besagten Vorstellungen abgeleitete Schlussfolgerungen und Empfehlungen für den Umgang mit Säuglingen nach sich, die das Wohlbefinden und die Entwicklung von Säuglingen kurz-, mittel- und langfristig beeinträchtigen können. Manz zeichnet in seinem Buch über eine Zeitspanne von drei Jahrhunderten historisch und gesellschaftlich geprägte Vorstellungen von der Natur des Säuglings nach, die in Teilen aus heutiger Sicht grausam und/oder absurd erscheinen, in ihrer Zeit jedoch gerade auch von „Fachleuten“ als wissenschaftlich abgesichert gerahmt wurden. Beispielhaft sei hier der Umstand genannt, dass bis in die 80er-Jahre früh geborene Babys häufig ohne Narkose operiert wurden, da davon ausgegangen wurde, dass Frühgeborene aufgrund eines noch nicht ausgereiften Nervensystems noch keinen Schmerz empfinden können (S. 7).
Autor
Friedrich Manz (1941-2015) war Kinderarzt, Nephrologe (Teilgebiet der Inneren Medizin) und Ernährungswissenschaftler. Das Vorwort zur überarbeiteten 2. Auflage wurde von ihm mit „Dortmund, November 2015“ – also kurz vor seinem Versterben – gezeichnet.
Entstehungshintergrund
Friedrich Manz geht im Vorwort auf die Entstehungsgeschichte des Buches ein. So sei seine Tochter Mutter eines sogenannten „Schreibabys“ gewesen. Der Umstand, dass es mit dem Stillen Probleme gab, habe ihn dazu bewogen, in einem Antiquariat ein Lehrbuch für Kinderheilkunde von 1873 aufzuschlagen und sich dort in ein Kapitel über das Stillen einzulesen. Zu seiner Verblüffung liest er hier, dass ein Stillen nach Bedarf zu empfehlen sei und nicht – wie weit über die 1960er-Jahre hinaus – ein Stillen nach Zeitplan. Besagte Entdeckung – so Manz – warf in ihm diverse Fragen auf, die wiederum weitere Recherchen anstießen, die schließlich zu einer Publikation führte, deren Thema die Auseinandersetzung mit der Geschichte der ärztlichen Stillempfehlungen war. Offensichtlich war hiermit sein Interesse am Wandel des Bildes vom Säugling sowie den zugrunde liegenden historischen und gesellschaftlichen Prozessen damit nicht erschöpft.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch umfasst 681 Seiten im Taschenbuchformat. Es gliedert sich in vier Kapitel, denen ein Vorwort vorausgestellt sowie ein Anhang nachgestellt sind.
Kapitel 1 – das umfangreichste Kapitel – setzt sich mit Vorstellungen auseinander, die sich in den letzten 300 Jahren über das Wesen von Babys gemacht wurden und lautet entsprechend („Vorstellungen über das Wesen von Babys“). Das Kapitel ist untergliedert in Vorstellungen über die körperliche und psychische Entwicklung sowie über den Hintergrund von Verhaltensschwierigkeiten. Es greift weiterhin spezielle Zuschreibungen auf wie der Säugling als „unbeschriebenes Blatt“, der „böse Säugling“ sowie Zerrbilder des Säuglings (der Säugling als Mängelwesen, als tierische Wesen) und widmet sich Aspekten wie Religion und Säugling (haben Babys eine Seele?), der Säugling in Wirtschaft und Politik oder auch besondere Themen zur Gesundheit von Säuglingen (z.B. der Wunschtraum von der Abhärtung).
Die insgesamt acht Unterkapitel gliedern sich wiederum in vier bis sechs Aspekte der jeweiligen Thematik auf. Besonders interessant macht dieses Kapitel – wie das ganze Buch – dass nicht nur die sich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte wandelnden Wahrnehmungen und Einschätzung auf den Säugling und sein „Sein“ und Wesen beschrieben werden, sondern weiterhin die praktischen Konsequenzen, die sich daraus für den ganz konkreten Umgang mit Säuglingen ergeben bzw. die daraus abgeleiteten Verhaltensempfehlungen von „Fachleuten“.
Kapitel 2 („Gewalt gegen Ungeborene und Säuglinge“) thematisiert verschiedenste Formen individueller und struktureller Gewalt gegenüber Ungeborenen und Säuglingen. Gegenstand des Kapitels sind beispielsweise die Aussetzung und Tötung unerwünschter und/oder missgebildeter Neugeborener, die Kindesmisshandlung, Euthanasie, Kindesraub und -entführung, die Beschneidung von Jungen und Mädchen oder auch ärztliches Handeln, das aus Unwissenheit resultierte wie die Vernachlässigung der Schmerzbehandlung von Säuglingen und Kindern.
Kapitel 3 – überschrieben mit: „Zahlen, Daten, Fakten – Ein historischer Überblick“ – beleuchtet Veränderungen der direkten Umwelt von Säuglingen. Dargelegt wird die Bevölkerungsstruktur Deutschlands seit 1871 sowie die Entwicklung der Säuglings- und Müttersterblichkeit. Eingegangen wird aber auch auf die Entstehung der Sozialpädiatrie, die Geschichte der Säuglingsfürsorge und die Entstehung der Kinderheilkunde sowie die Geschichte der (Empfehlungen zur) Säuglingsernährung.
Kapitel 4 („Zusammenschau“) setzt die unterschiedlichen Vorstellungen vom Wesen des Babys in einen Zusammenhang mit dem jeweilig vorherrschenden Zeitgeist. Eingeleitet wird das Kapitel mit einem Zitat von Wolfgang Tietze: „Um die Kinder allein ging es niemals“ (DIE ZEIT, 2.2.2006, S. 79). Manz gliedert den Zeitraum von ca. 1700 bis heute in drei Zeitepochen. Den Zeitraum von 1700 bis 1860 fasst er als „Morgenröte der Pädiatrie und Pädagogik“ (S. 571f) und attestiert zumindest Teilen des gebildeten Bürgertums das Bemühen um einen „zärtlichen Umgangsstil“ mit dem Säugling (S. 565). Von ca. 1860 bis ca. 1965 setzte sich laut Manz das Bild vom Säugling als einem tierischen, chaotischen Mängelwesen durch, das von Anfang an zu disziplinieren, zum Gehorsam zu erziehen und auf keinen Fall zu „verzärteln“ sei. Dies wandelte sich Manz zufolge in den 60er-Jahren hin in einen Trend zum empathischen Umgang.
Diskussion
Manz wendet sich mit seinem Buch an ein breites Publikum: An junge und zukünftige Eltern sowie an im Sozial- und Gesundheitswesen arbeitenden Menschen, die mit Säuglingen befasst sind oder sich für Säuglinge interessieren. Aus meiner Perspektive ist es ihm sowohl sprachlich als auch inhaltlich gelungen, Fachleute wie Laien anzusprechen. Das Buch ist gut lesbar; es verzichtet auf eine elaborierte Fachsprache und vermag gleichwohl auch komplexe Sachverhalte angemessen darzulegen. Es eignet sich weiterhin hervorragend zum „Stöbern“. Die einzelnen Kapitel und Unterkapitel können je nach Interesse auch unabhängig voneinander gelesen werden. Immer wieder überrascht das umfangreiche Buch mit Bildern, Zeichnungen und Zitaten, die das Denken über und die Wahrnehmung von Säuglingen – vor allem über die letzten zwei Jahrhunderte – veranschaulichen.
Die Lektüre des Buches verdeutlicht, dass sich verändernde Vorstellungen vom Wesen und der „Natur“ des Säuglings nicht schlicht neuen Erkenntnissen geschuldet sind, sondern eben auch maßgeblich von sozioökonomischen Rahmenbedingungen, sich wandelnden Vorstellungen des Zusammenlebens bzw. einer spezifischen gesellschaftlichen Verfasstheit und damit verbundenen Erwartungen an Säuglinge. Dies wiederum regt Überlegungen und Fantasien zu der Frage an, welchen Blick spätere Jahrzehnte wohl auf aktuelle Vorstellungen zum Säugling werfen würden?
Fazit
Ein insgesamt wichtiges, interessantes, anregendes, komplexes und darum beeindruckendes Werk, das ohne Einschränkung zu empfehlen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Ariane Schorn
Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Entwicklungspsychologie, Qualitative Sozialforschung, Psychosoziale Beratung, Supervision
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Es gibt 20 Rezensionen von Ariane Schorn.
Zitiervorschlag
Ariane Schorn. Rezension vom 09.11.2022 zu:
Friedrich Manz: Wenn Babys reden könnten! Was wir aus drei Jahrhunderten Säuglingspflege lernen können. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2020. 2., überarbeitete Neu Auflage.
ISBN 978-3-8379-2919-5.
Reihe: Forum Psychosozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28114.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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